Gefährliche Liebschaften

Politiker von links bis rechts wollen Medienberichte einfacher verhindern können. Ihr Argument: Die Privat­sphäre sei zu wenig geschützt. Stimmt das?

Von Philipp Albrecht und Dennis Bühler, 20.08.2021

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Christophe Darbellay hat seine Ehefrau betrogen. Der Vater dreier Kinder schlief mit einer anderen Frau, sie wurde schwanger und brachte einen Jungen zur Welt. Das gestand der CVP-Politiker kurz nach der Geburt 2016 in einem Artikel: «Ich habe einen schweren Fehler gemacht.»

Auch Beat Villiger hat ein uneheliches Kind. Der Zuger Regierungs­rat und Partei­kollege Darbellays machte seinen Seiten­sprung ebenfalls in einem Interview öffentlich, nachdem er wegen der Affäre in juristische Probleme verwickelt worden war: «Ich versuche als Regierungs­rat immer, mein Bestes zu geben. Im privaten Bereich lief es nicht immer schön.»

Darbellay und Villiger gingen aktiv an die Öffentlichkeit, dies jedoch erst, nachdem sie versucht hatten, Zeitungs­berichte zu verhindern.

Das Privatleben ist die Achilles­ferse öffentlicher Personen. Fehltritte von Politikerinnen und Topmanagern können schnell an die Medien gelangen und Karrieren zerstören. Die zwei CVP-Männer kamen mit einem blauen Auge davon – sie sind beide noch im Amt.

Guy Lachappelle nicht. Der Basler trat im Juli unter Tränen als Raiffeisen-Präsident zurück. Zuvor war eine leidenschaft­liche Affäre komplett aus dem Ruder gelaufen. Lachappelle zeigte die Frau wegen Ehrverletzung an, sie antwortete mit einer Straf­anzeige und traf den Manager an seiner verwundbarsten Stelle. Vor laufender Kamera sagte er: «Ich habe in meiner Verliebtheit einen riesen­grossen Fehler gemacht.»

Die drei Männer verbindet nicht nur die Tatsache, dass sie ihre Frauen betrogen haben. Sie wehrten sich auch alle mit dem gleichen rechtlichen Mittel gegen geplante Medien­berichte über die Hinter­gründe: mit einer vorsorglichen Massnahme.

Sie ist das Schreckgespenst aller Schweizer Redaktionen: Kommt sie vor Gericht durch, droht dem Artikel schon vor der Publikation ein jähes Ende. Das kann gerade vor Wahlen und Abstimmungen ein Segen für Betroffene sein – und ein Fluch für die Medien.

So wurde zum Beispiel Anfang März dieses Jahres kurz vor der Abstimmung über das Freihandels­abkommen mit Indonesien dem West­schweizer Online­medium «Gotham City» die Veröffentlichung einer Recherche verboten. Der Artikel hätte aufgedeckt, dass einer der grössten indonesischen Palmöl-Unternehmer in der Schweiz der Steuer­hinter­ziehung verdächtigt wird. Beantragt hatte das Publikations­verbot der Genfer FDP-Nationalrat und Anwalt Christian Lüscher, der gleich­zeitig im Komitee für das Freihandels­abkommen mit Indonesien sass.

Nun will der Ständerat die Hürden für eine vorsorgliche Massnahme senken. Im Juni hat er mit 30 gegen 12 Stimmen eine Gesetzes­anpassung gutgeheissen, die Publikations­verbote vereinfachen soll. Der Änderungs­antrag stammt aus der Feder von FDP-Ständerat Thomas Hefti, der nach eigenen Angaben erkannt hat, «dass die Gewichte überhaupt nicht im Gleich­gewicht sind».

Mitglieder von links bis rechts stimmen ihm zu. Sie argumentieren mit der Macht­zunahme der grossen Medien­häuser und der technologischen Entwicklung: «Das Internet vergisst bekanntlich nichts», sagte während der Debatte etwa SP-Ständerat und Strafrechts­­professor Daniel Jositsch. «Das heisst, dass man eine Fehl­information, die einmal erscheint, letztlich nicht mehr wegbringt.»

In der Herbst­session ist der Nationalrat an der Reihe. Bereits heute Freitag befasst sich seine vorberatende Kommission mit dem Geschäft, ihre Empfehlung wird wegweisend sein für die Abstimmung im Gesamtrat. Und im Moment deutet vieles darauf hin, dass Heftis Antrag auch im Nationalrat eine Mehrheit finden könnte.

Käme es so, würde das «all jenen Tür und Tor öffnen, die die Veröffentlichung von völlig zulässigen Informationen verhindern wollen», warnt die Organisation «Reporter ohne Grenzen». Die Anwälte der Schweizer Medien­häuser gehen noch weiter: Sie sprechen wahlweise von einem «Angriff auf die Medien­­freiheit» oder einem «Attentat auf die Meinungs­freiheit».

Haben wir es mit einem eigennützigen Versuch von Politikern zu tun, die Arbeit von Journalistinnen zu behindern? Oder soll lediglich die Privat­sphäre von potenziellen Medien­opfern besser geschützt werden?

Bevor wir uns einer Antwort annähern, werfen wir einen Blick auf die Fälle Darbellay, Lachappelle und Villiger. Sie stehen sinnbildlich für das Ringen zwischen öffentlichen Personen und Redaktionen. Ihre Seiten­sprünge stehen dabei nur auf den ersten Blick im Vorder­grund. Tatsächlich geht es um das Spannungs­feld zwischen Persönlichkeits­schutz und Medien­freiheit.

1. Ein Wort soll weg

Als die Republik 2018 kurz vor den Zuger Regierungs­rats­wahlen über Beat Villiger schreiben wollte, gelangte der Politiker an das Zürcher Bezirks­gericht. Der geplante Artikel sei ein Eingriff in seine Privat­sphäre, argumentierte seine Anwältin Rena Zulauf. Es drohe eine Persönlichkeits­verletzung, «die einen besonders schweren Nachteil verursachen kann».

Besonders schwerer Nachteil: Die Anwältin hat diese drei Wörter nicht ohne Grund verwendet.

Sie stehen so in Artikel 266 der Zivil­prozess­­ordnung (ZPO). Ein Gesetzes­artikel, der geschaffen wurde, um periodisch erscheinende Medien vor zu starken Eingriffen in die Medien­freiheit zu schützen.

Der Kern des Artikels: Ein Gericht darf die Publikation eines geplanten Textes oder Beitrags nur dann vorüber­gehend verbieten, wenn eine drohende Rechts­verletzung «einen besonders schweren Nachteil verursachen kann».

Auf den Fall Villiger bezogen heisst das: Seine «persönliche Integrität» hätte – so die Argumentation des Politikers – bei einer Publikation des Textes «in schwerer, nicht wieder­herstellbarer Weise» beeinträchtigt werden können. Denn bei der Verbreitung gewisser Informationen wäre der falsche Eindruck einer Straftat erweckt worden.

In seiner Verfügung gegen die Republik folgte das Gericht damit der Argumentation von Villigers Anwältin.

Villiger hätte ein besonders schwerer Nachteil gedroht. In Zukunft soll «besonders» kein Erfordernis mehr sein: Denn der Ständerat will dieses Wort aus dem Gesetz streichen.

Im Herbst 2018, kurz vor den Wahlen, verhinderte der Zuger Regierungsrat Beat Villiger die Publikation einer Republik-Recherche. Urs Flüeler/Keystone

Wer herausfinden will, was das für die künftige Recht­sprechung bedeuten könnte, stösst auf ein Problem: Medien­anwälten ist kein einziger Fall bekannt, bei dem eine Richterin anders entschieden hätte, stünde das Wort «besonders» bereits heute nicht mehr im Artikel 266.

Trotzdem kann uns der Fall Villiger weiterhelfen. Sein uneheliches Kind interessierte die Republik nicht. Reporter Carlos Hanimann ging damals der Frage nach, ob die Straf­verfolgungs­behörden den Zuger Politiker wegen seines Amtes bevorteilt hatten. Die Staats­anwaltschaft Luzern hatte wegen Verdachts auf Urkunden­fälschung und Strassen­verkehrs­delikte gegen Villiger ermittelt, das Straf­verfahren aber wieder eingestellt.

Hanimann entdeckte während seiner Recherche im Zusammen­hang mit der Einstellung des Verfahrens zahlreiche Wider­sprüche. Und konfrontierte Villiger damit.

Es folgten aufreibende Tage mit Diskussionen, Drohungen und Beteuerungen, bis schliesslich ohne Vorwarnung eine super­provisorische Verfügung in der Redaktion landete. Elf Tage vor der Zuger Regierungs­rats­wahl. Absender: das Bezirks­gericht Zürich.

Die Superprovisorische, wie sie in der Branche genannt wird, ist die Turbo­variante der vorsorglichen Massnahme. Sie kommt dann zum Einsatz, wenn eine Publikation unmittelbar bevorsteht, und sie hat für die Gesuch­steller zwei unschätzbare Vorteile: Das Medien­haus muss von der Richterin nicht angehört werden, und es kann sich rechtlich nicht dagegen wehren. Die meisten provisorischen Massnahmen gegen Medien­häuser erfolgen auf diese Weise.

Bei einer Superprovisorischen geht es schnell. Liegt sie vor, darf vorüber­gehend keine Sendung zum Thema ausgestrahlt, kein Artikel gedruckt oder online geschaltet werden. Viele Gerichte versenden sie noch immer per Fax oder Velokurier.

Für Villiger hatte die Super­provisorische noch einen weiteren Vorteil: Mit jedem Tag, der ohne Artikel über ihn verstrich, stiegen seine Chancen auf die Wieder­wahl.

2. Persönlichkeits­schutz vs. Medien­freiheit

Was ist im Fall Villiger höher zu gewichten: das Recht der Öffentlichkeit zu erfahren, dass ihm Begünstigung vorgeworfen wurde, oder sein Recht auf Schutz der Persönlichkeits­rechte? Der Richter entschied sich für Letzteres.

Genauso wie eine Richterin, die sechs Monate später darüber entscheiden musste, ob die «Weltwoche» Informationen aus Christophe Darbellays Privat­leben veröffentlichen darf. Auch sie sah die Privat­sphäre verletzt und sprach ein Publikations­verbot für das Magazin aus.

Zwar erreichte dieses die Redaktion zu spät, weshalb die Geschichte im gedruckten Magazin erschien; im Online­archiv aber musste sie umgehend geschwärzt werden.

Fünf Wochen später fällte ein Kollege der Richterin einen zweiten Entscheid. Das Gesetz verlangt das so: Kurz nach der Verfügung muss ein sogenannter Massnahme­entscheid getroffen werden. Dazu hört der Richter auch die andere Seite an, in diesem Fall die «Weltwoche»-Redaktion. Bestätigt er die Verfügung, bleibt das Publikations­verbot bestehen. Entscheidet er sich dagegen, darf der Text erscheinen.

Medienfreiheit oder Privatsphäre? Keine einfache Frage.

Artikel 266 der Zivilprozess­ordnung verlangt, dass der Richter ein Publikations­verbot nur dann erteilen darf, wenn es neben dem drohenden besonders schweren Nachteil auch offen­sichtlich keinen Recht­fertigungs­grund gibt. In der Praxis bedeutet das meist: wenn kein öffentliches Interesse am Inhalt besteht. Zudem darf die Massnahme nicht unverhältnis­mässig erscheinen. Das heisst: Wenn Betroffene bloss mit einer einzelnen Passage nicht einverstanden sind, sollen sie nicht die Publikation des ganzen Textes verhindern können. Dann haben sie andere Mittel zur Verfügung, etwa die Gegen­darstellung.

Der Richter entschied zugunsten der «Weltwoche». Darbellay habe bereits selbst in einer Zeitung über sein Vergehen gesprochen und dies mit seinem Wahl­kampf in Verbindung gebracht. Ausserdem müssten sich sogenannte «absolute Personen der Zeit­geschichte» – gemeint sind etwa Sportlerinnen, Politiker und Wirtschafts­führerinnen – «eher Eingriffe in ihre Persönlichkeits­rechte gefallen lassen müssen als andere Leute». Darbellay sei so eine Person.

Kurzum: Da der Politiker seine Privat­sphäre selber aufgeweicht hatte, konnte er auch keinen besonders schweren Nachteil glaubhaft machen.

Der Richter bezog sich auf einen Artikel im «Sonntags­Blick» von 2016. Darin hatte Darbellay seinen Seiten­sprung und den unehelichen Sohn eingeräumt («Ich habe einen schweren Fehler gemacht»). Der Text war wenige Monate vor den kantonalen Wahlen im Wallis erschienen, und Darbellay war als National­rat zurück­getreten, um für die Regierung im Heimat­kanton zu kandidieren.

Christophe Darbellay sprach im Herbst 2016 im «SonntagsBlick» über seinen Ehebruch, den «Weltwoche»-Artikel vom Frühling 2019 liess der CVP-Regierungsrat aber erst mal stoppen. Tomas Wüthrich/13 Photo

Aber wie kam es dazu, dass der Politiker öffentlich über seine Sünde sprach? Als der «Sonntags­Blick» damals einen Tipp erhalten und daraufhin Darbellay kontaktiert hatte, soll dieser einen Deal vorgeschlagen haben, um die Kontrolle über die Bericht­erstattung zurück­zugewinnen. So beschrieb es Journalist Alex Baur später in der «Weltwoche». Der Deal: Darbellay macht seinen Ehebruch exklusiv im Ringier-Blatt öffentlich, das im Gegenzug auf weitere Recherchen verzichtet.

Knapp drei Jahre später – Darbellay hatte die Wahl in den Walliser Staatsrat problemlos geschafft – verbreitete sich unter Journalisten in der Romandie eine neue Information. Der Politiker habe in den USA, wo die Mutter und das gemeinsame, ausser­eheliche Kind inzwischen lebten, seine Vaterschaft bestritten. Die Mutter hatte in Texas eine Vaterschafts­klage gegen Darbellay eingereicht, der offenbar keine Unterhalts­zahlungen leisten wollte. Bevor die Story bei der «Weltwoche» landete, soll Darbellay laut Alex Baur Publikationen dazu in drei welschen Medien verhindert haben.

Baur bat den Politiker um eine Stellung­nahme, wurde stattdessen aber hingehalten – zuerst von Darbellay selber und dann von dessen Anwalt Andreas Meili. Dieser soll schliesslich wenige Stunden vor Reaktions­schluss Baur dazu aufgefordert haben, eine Bericht­erstattung zu unterlassen. Ohne Erfolg. So gab es nur noch eine Option: die Super­provisorische.

3. Richterinnen in Basel entscheiden anders als in Zürich

Darbellay bekam die Super­provisorische zwar. Doch wie wir wissen, wurde sie im Anschluss nicht bestätigt. Sein Anwalt, der seine Kanzlei in Zürich hat, war an ein Gericht in Zürich gelangt, weil die «Weltwoche» dort ihren Sitz hat. Er hätte es auch am Bezirks­gericht in Martigny versuchen können, wo Darbellay wohnt – das Gesetz erlaubt beides. Aber offenbar musste es schnell gehen. Meili nimmt dazu auf Anfrage der Republik keine Stellung.

Es gibt Gründe zur Annahme, dass Darbellay im Wallis mehr Erfolg gehabt hätte. Zumindest legt das der Fall Lachappelle nahe.

Der Raiffeisen-Präsident verhinderte gleich zwei Publikationen. Innerhalb von neun Monaten stoppte er erst die Verbreitung eines Essays und dann einen Artikel über die Hinter­gründe dazu. Beide Verfügungen wurden von der gleichen Basler Richterin verhängt.

Lachappelle erkannte sich im Essay wieder, der von einer Frau verfasst worden war, mit der er kurz zuvor eine ausser­eheliche Liebes­beziehung geführt hatte. Es geht darin um sogenannte toxic leaders: manipulative Führungs­persönlichkeiten mit Hang zum Macht­missbrauch.

Im Text waren weder Lachappelles Name noch seine Funktion oder ein Ort erwähnt, die Autorin arbeitete mit fiktiven Namen. Trotzdem wurde ihr von der Basler Richterin verboten, den Text zu verbreiten.

Die Geschichte landete bei einem «Sonntags­Blick»-Journalisten, der heraus­fand, dass dem Publikations­verbot eine heftige Affäre mit destruktivem Verlauf voran­gegangen war. Von Suizid­drohungen und Stalking­vorwürfen war die Rede. Lachappelle reichte Straf­anzeige gegen die Frau ein. Aus der weiteren Recherche folgerte der Journalist, dass ein öffentliches Interesse an der Geschichte bestehe, da sich Privat­leben und öffentliche Funktion vermischt hätten. Dann bat er Lachappelle, zu einer Reihe von Vorwürfen Stellung zu nehmen.

Dieser lud den Journalisten und seinen Chef­redaktor zu einem Hintergrund­gespräch – ein in der Medien­branche gängiges Treffen, bei dem Gesagtes nicht ohne Zustimmung der Gegen­partei nach aussen getragen werden darf. Doch laut «Sonntags­Blick» hielt sich Lachappelle, der mit einer Assistentin erschienen war, nicht ans ungeschriebene Gesetz.

Denn im Anschluss an das Treffen erstellten sie ein Protokoll, das Lachappelles Anwalt als Beweis für eine drohende Persönlichkeits­verletzung der Basler Richterin übergab. So entstand die zweite Super­provisorische.

Eine Notwendigkeit dazu bestand jedoch nicht: Glaubt man den Journalisten des «Sonntags­Blicks», hatten sie Lachappelle zugesichert, dass eine Publikation nicht unmittelbar bevorstand. Medien­anwältinnen sprechen in einem solchen Fall von einem Missbrauch des Instruments der super­provisorischen Verfügung.

Die Verfügung, die der Republik vorliegt, verbietet nicht nur zahlreiche Aussagen, sondern hält zusätzlich unter Straf­androhung fest, dass selbst über das Schreib­verbot nichts geschrieben werden darf.

Ob eine vorsorgliche Massnahme überhaupt so weit gehen darf, ist umstritten. Wie die Republik aus sicherer Quelle weiss, wurde das Verbot, über die Super­provisorische zu schreiben, später beim Massnahme­entscheid aus der gerichtlichen Verfügung gekippt. Angeblich, weil es dafür keine rechtliche Grund­lage gibt.

Von der Republik auf den Fall angesprochen, bringen Medien­anwälte das Problem der kantonalen Unter­schiede auf. Das heisst: Hätte Lachappelle sich statt an ein Basler an ein Zürcher Gericht gewandt, sähe die Super­provisorische wahrscheinlich anders aus – sofern man ihm überhaupt eine gewährt hätte. «In Basel etwa ist der Zugang zum vorsorglichen Rechts­schutz pragmatischer, weil man im Vergleich zu anderen Kantonen seine Begehren auch mündlich vortragen kann», formuliert es Medien­anwalt Manuel Bertschi diplomatisch.

Die Gründe für die Unterschiede sind unklar. In Zürich, wo die grossen Medien­häuser zu Hause sind, setze das Bezirks­gericht die Hürden eher hoch an, heisst es. In den meisten anderen Kantonen lägen sie tiefer. Tatsächlich wurden in den letzten zehn Jahren in Zürich 28 von 44 Gesuchen für Super­provisorische abgelehnt, wie das Gericht auf Anfrage mitteilt.

Die Republik hat auch beim Zivil­gericht Basel-Stadt angefragt. Dort kann man jedoch keine qualifizierte Aussage dazu machen, wie ein Sprecher mitteilt. Die Zahlen seien zu tief dafür.

Eine mögliche Erklärung für die kantonalen Unterschiede: Im Mikro­kosmos des Heimat­kantons kennt man sich; Richterinnen und Betroffene tendieren dazu, gegen die mediale Übermacht aus Zürich zusammen­zuhalten.

Aus der Perspektive der Redaktionen kommt erschwerend hinzu, dass in der Regel die gleichen Richter, die schon die Super­provisorische erteilt haben, nachher auch den Entscheid darüber treffen, ob die Verfügung aufrecht­erhalten bleibt. Nach Erfahrung der Medien­anwältinnen halten die Richter in den meisten Fällen an ihrem ursprünglichen Entscheid fest. «Der Richter will sich ja nicht desavouieren, indem er sich selber korrigiert», sagt der Luzerner Anwalt Rudolf Mayr von Baldegg.

Wie oft kommt es vor, dass die Verfügung später bestätigt wird? Eine schweiz­weite Statistik dazu existiert nicht. Fragt man die Anwältinnen, reichen die Schätzungen von 60 bis 97 Prozent der Fälle. Das Zürcher Bezirks­gericht scheint aber auch hier wieder eine Ausnahme zu sein: 9 der 16 erteilten Super­provisorischen in den vergangenen zehn Jahren wurden später wieder aufgehoben (oder man einigte sich ausser­gerichtlich).

Auch zu dieser Frage gibt es keine Angaben aus Basel. Laut Medien­anwälten kann man davon ausgehen, dass ausserhalb Zürichs deutlich öfter gegen die Medien entschieden wird. Das bedeutet: Liegt eine Super­provisorische erst einmal vor, ist die Wahr­scheinlichkeit sehr gross, dass die Story niemals publiziert wird. Denn nach dem zweiten Entscheid der Richterin ist das Verfahren noch längst nicht zu Ende: Dann beginnt in der Regel ein Haupt­verfahren, das mehrere Jahre dauern kann.

So lange, bis sich kein Mensch mehr für die Geschichte interessiert.

4. Publikation trotz Verbot

Um das zu verhindern, gibt es einen Trick. Die Republik hat ihn am 1. Oktober 2018 im Fall Villiger angewandt. Sie publizierte trotz Verbot einen Text mit dem Titel: «Zuger Justiz­direktor verhindert Bericht­erstattung».

Eigentlich lief aus Sicht Villigers bis zu diesem Zeitpunkt alles nach Plan. Er hatte via Anwältin dem Richter glaubhaft darlegen können, dass die ausser­eheliche Beziehung Privat­sache und nicht von öffentlichem Interesse sei. Entsprechend verfügte dieser, dass die Republik nichts darüber schreiben dürfe. Was die Republik zu keinem Zeitpunkt vorhatte.

Dem Richter leuchtete zudem ein, dass es kein öffentliches Interesse an der im Nachbar­kanton durch­geführten Unter­suchung gegen Villiger gebe, da sie eingestellt worden war. Darum durfte die Republik auch darüber kein Wort verlieren. Und weil es keine Beweise dafür gab, dass Villiger von der Luzerner Staats­anwaltschaft begünstigt worden war, verbot der Richter auch, dies zu verbreiten.

«Wir hatten Villiger gegenüber von Anfang an klargemacht, dass wir nur am Verdacht der Urkunden­fälschung und an den Wider­sprüchen in der Unter­suchung der Luzerner Behörden interessiert sind», sagt Journalist Mark Dittli, der damals die Republik-Redaktion leitete.

Doch genau darüber durfte die Republik nun auf Anordnung des Richters nicht schreiben. Trotzdem erschien ein Text.

Autor Carlos Hanimann löste das Problem, indem er um das Verbot herum­schrieb. Er erwähnte zwar, dass gegen Villiger ermittelt wurde, aber nicht, weswegen. Im Text steht: «Über diesen Vorwurf darf die Republik nicht oder nur sehr eingeschränkt berichten. Das hat das Bezirks­gericht Zürich vergangenen Donnerstag in einer super­provisorischen Verfügung entschieden.»

Und weil Hanimann nicht über den Verdacht schreiben durfte, dass die Staats­anwaltschaft Villiger begünstigt habe, schrieb er stattdessen, dass der Fall «trotz aller Wider­sprüche» eingestellt wurde.

Die Aktion war gewagt. Und sie wirkte: Mehrere Medien nahmen den Fall auf. Wohl nicht nur deshalb, weil die Story bloss sechs Tage vor der Zuger Regierungs­rats­wahl erschien. Sondern weil man jetzt wissen wollte, warum gegen Villiger ermittelt worden war. Als Erstes reagierte die «Luzerner Zeitung». Noch am selben Tag stand auf ihrer Website, dem CVP-Politiker werde Urkunden­­­fälschung vorgeworfen.

Weil die Super­provisorische nur gegen ein Medien­haus erteilt werden kann – in diesem Fall gegen die Republik –, mussten die anderen Medien keine rechtlichen Schritte befürchten. Zwar hätte Villiger auch gegen bereits publizierte Artikel eine vorsorgliche Massnahme anstreben können, aber er tat es nicht. Der Damm war gebrochen.

Wer hatte damals der Republik empfohlen, um die Verfügung herum­zuschreiben? Derselbe Anwalt, der im Fall Darbellay eine Super­provisorische angestrebt hatte: Andreas Meili – im Fall Darbellay gegen die Medien, im Fall Villiger für die Medien.

5. Fehltritte kommen ohnehin ans Licht

Wie ging es mit Villiger weiter? Am Wahl­sonntag wurde er komfortabel im Amt bestätigt. Die Medien­berichte hatten ihn kaum Stimmen gekostet, auch weil viele Stimm­bürger längst brieflich abgestimmt hatten. Ausserdem folgte er dem Vorbild Darbellays: Er entschuldigte sich am Wahl­sonntag in einem Interview für die Affäre und machte publik, was bisher noch niemand geschrieben hatte und niemand schreiben durfte: «Ich habe eine uneheliche Tochter.» Damit beendete Villiger auch den Rechts­streit mit der Republik.

Ist am Ende das rechtliche Mittel gegen Medien gar nutzlos, weil ohnehin alles ans Licht kommt? Die Fälle von Darbellay und Villiger sprechen dafür.

Und, wie es aussieht, auch der Fall Lachappelle.

Denn der «Sonntags­Blick» gab nach dem totalen Schreib­verbot aus Basel nicht kampflos auf. «So dreist ist Guy Lachappelle – das falsche Spiel des Raiffeisen-Präsidenten», war am 4. Juli 2021 in der Zeitung und auf «Blick.ch» zu lesen. Der Top-Banker sei gegen den «Sonntags­Blick» vorgegangen, «ein fundamentaler Vertrauens­missbrauch». Über die konkreten Vorwürfe aber war nichts zu lesen.

Gleichentags erhielten Politikerinnen, Raiffeisen-Verwaltungs­räte und Wirtschafts­journalistinnen ein Manuskript des geplanten «Sonntags­Blick»-Artikels über Lachappelle und seine Geliebte zugeschickt. Dem Mail, das von einem ausländischen Server verschickt worden war, waren schriftliche Beweise angehängt, darunter Auszüge aus dem Mail- und Whatsapp-Verkehr der beiden. Ringier beteuerte, nichts mit dem Versand zu tun zu haben.

Tags darauf standen Lachappelles Anwälte bei Ringier auf der Matte. Der publizierte Text über dessen Vorgehen verschwand daraufhin von der Website und aus der für Journalisten zugänglichen Schweizer Medien­daten­bank. Die Redaktion entschuldigte sich bei Lachappelle und versprach, nichts mehr zu publizieren. Auch anderen Medien wurden Konsequenzen angedroht, falls sie über Lachappelle schreiben würden.

Trotzdem sass wenige Tage später ein gebrochener Banker in Tränen aufgelöst in einem Basler Zunft­saal vor Journalistinnen und Fernseh­kameras, um seinen Rücktritt bekannt zu geben. An der Super­provisorischen lag es nicht. Jedenfalls nicht direkt. Der Manager stolperte letztlich über eine vermeintliche Lappalie.

Nicht drohende Berichte über seine Affäre haben den Raiffeisen-Präsidenten Guy Lachappelle im Sommer 2021 zu Fall gebracht. Sondern ein Artikel über einen möglichen Verstoss gegen das Börsengesetz. Lucia Hunziker/13 Photo

Das ging so: Der «Tages-Anzeiger» berichtete, dass Lachappelle 2017 seiner damaligen Geliebten Unter­lagen über die geplante digitale Transformation der Basler Kantonal­bank weitergeleitet hatte, weil sie sich für das Thema interessierte. Die Informationen an sich sind völlig harmlos. Weil aber die Bank ein börsennotiertes Unter­nehmen ist, verstiess der damalige CEO mit der Weitergabe möglicher­weise gegen das Börsen­gesetz. Es drohte eine Untersuchung der Finanz­markt­aufsicht. Diese Tatsache nutzte seine Ex-Geliebte und reichte Straf­anzeige ein.

Die Raiffeisen-Gruppe, die sich nach dem Skandal um ihren Ex-CEO Pierin Vincenz nicht noch mehr Negativ­presse leisten wollte und konnte, dürfte Lachappelle unter Druck gesetzt haben.

So lange, bis ihm nur noch der Rücktritt blieb.

6. Die Folgen der Gesetzes­änderung

Was sagen die Fälle Darbellay, Villiger und Lachappelle über die vom Ständerat bereits beschlossene und nun im Nationalrat debattierte Gesetzes­änderung aus? Braucht es eine Anpassung, um die Hürden für potenzielle Medien­opfer zu senken?

Wir haben diese Fragen mit fünf Medien­anwälten erörtert. Zwei davon vertreten Betroffene, zwei weitere arbeiten vorwiegend für Medien­häuser – und der fünfte, Andreas Meili, macht beides. Er ist heute auch der Haus­anwalt der Republik.

Es liegt auf der Hand, dass sich einzig die Betroffenen-Vertreter für die Änderung aussprechen. Erstaunlich aber ist, dass sie vorwiegend damit argumentieren, dass man bei der Streichung eines Adverbs nicht gleich um die Medien­freiheit in der Schweiz fürchten müsse.

«Hier treffen zwei Grund­rechte aufeinander: die Medien­freiheit und das Recht auf Schutz der Privat­sphäre», sagt Anwältin Rena Zulauf. «Beide sind grosse Errungenschaften der Aufklärung. Aber es gibt faktisch ein leichtes Ungleich­gewicht zulasten der Betroffenen wegen einer strukturellen, medien­immanenten Asymmetrie: Ein Medien­unternehmen ist grundsätzlich in der Rolle des Angreifers, der die betroffene Person dazu veranlasst, sich beziehungsweise seine Persönlich­keitsrechte zu verteidigen.» Ihr Kanzlei­partner Manuel Bertschi ergänzt: «Die praktische Erfahrung zeigt, dass Betroffene in der Schweiz einen relativ schlechten Rechts­schutz geniessen.»

Ringier-Anwalt Matthias Schwaibold und Rudolf Mayr von Baldegg, der insbesondere das SRF vertritt, widersprechen. Das Gesetz sei ausbalanciert, sagen beide. Streiche man das Wort «besonders», gerate es aus dem Gleich­gewicht. «Damit würden Richter dazu verpflichtet, dieser Änderung auch Rechnung zu tragen», warnt Schwaibold. «Mit dem Resultat, dass die Hürden für provisorische Massnahmen tiefer liegen.» Das hiesse: Unliebsame Bericht­erstattung kann einfacher verhindert werden.

Und was meint Andreas Meili, der Anwalt, der sowohl Betroffenen als auch Medien­häusern zur Seite steht? «Es gibt keinen Grund, ins bisherige austarierte System einzugreifen. Eine Änderung der ZPO ist unnötig.»

Doch Meili sagt auch beschwichtigend, dass nicht gleich die Medien­freiheit auf dem Spiel stehe, sollte die Gesetzes­änderung durchkommen. Schliesslich gebe es noch zwei andere Voraus­setzungen im Artikel 266, die weiterhin eine hohe Hürde darstellten: das offensichtliche Fehlen eines öffentlichen Interesses und die Verhältnis­mässigkeit.

Aber warum sollte man ein Gesetz ändern, das sich bewährt hat? Diese Frage stellt sich auch der Bundesrat. «Es ist uns nicht bekannt, dass hier ein besonderer Handlungs­bedarf bestünde», sagte Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter während der Debatte in der kleinen Kammer und empfahl, den von Ständerat Hefti eingebrachten Antrag abzulehnen. Ohne Erfolg.

Auch im Nationalrat dürfte die Gesetzes­änderung gute Chancen haben, wie eine Umfrage bei Vertreterinnen der Rechts­kommission zeigt. Eine Prognose bleibt allerdings schwierig, zumal die Meinungs­verschiedenheiten auch innerhalb der politischen Lager gross sind.

So will Grünen-National­rätin Sibel Arslan Betroffene «endlich besser vor vorverurteilenden Medien­kampagnen schützen», während sich Grün­liberale und Sozial­demokraten gegen eine Gesetzes­änderung aussprechen (obwohl SP-Ständerat Jositsch noch an vorderster Front dafür geweibelt hatte). Das wahrscheinlichste Szenario: FDP und SVP, die gross­mehrheitlich hinter Heftis Antrag stehen, werden in der Kommission dank der Unter­stützung von Teilen der Mitte-Fraktion und einigen Grünen obsiegen.

Dabei gäbe es Alternativen, um beiden Seiten einfacher zum Recht zu verhelfen – Alternativen, die gänzlich ohne Gesetzes­anpassungen auskämen. So könnte man den potenziellen Medien­opfern laut Anwalt Manuel Bertschi etwa mit tieferen Verfahrens­kosten entgegen­kommen. Denn dass sie bisher in den meisten Fällen einen Vorschuss von mehreren tausend Franken zu leisten haben, sei für viele eine zu grosse Hürde.

Hilfreich wäre auch, wenn der Rechts­schutz rund um die Uhr zur Verfügung stehen würde wie in zahlreichen anderen Ländern, die eine Pikett­dienst-Pflicht für Gerichte kennen. So könnte ein Problem behoben werden, mit dem sich Anwälte jeweils am Wochen­ende oder an Feier­tagen konfrontiert sehen; bis heute sind Richterinnen nur werktags zu den üblichen Büro­zeiten erreichbar, während Online­medien rund um die Uhr publizieren.

Und wenn wir schon beim Internet sind: Viele Richter wären gut beraten, die Vorteile der technologischen Entwicklung zu nutzen, findet Anwalt Rudolf Mayr von Baldegg: «Es wäre viel Aufwand auf beiden Seiten gespart, würden die Richter eine Mail schreiben oder das Telefon in die Hand nehmen, um die Redaktion für eine Stellung­nahme anzufragen, bevor sie überhaupt eine Super­provisorische verfügen.»

Miteinander reden: Warum kam nicht schon früher jemand auf die Idee?

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