Briefing aus Bern

Schweiz schickt Elite­soldaten nach Kabul, Thierry Burkart soll FDP-Chef werden und Einwanderung bringts

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (155).

Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler und Cinzia Venafro, 19.08.2021

Synthetische Stimme
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Zwanzig Jahre lang kontrollierten westliche Streitkräfte Afghanistan. Nach deren Abzug benötigten die Taliban nur gerade 10 Tage von der Eroberung der ersten Provinz­hauptstadt bis vor die Tore Kabuls.

Entsprechend konsterniert trat der Schweizer Aussen­minister Ignazio Cassis gestern vor die Medien und sagte, niemand habe diese Entwicklung kommen sehen. «Noch an der letzten Bundesrats­sitzung letzten Mittwoch hatten wir keine Ahnung, wie schnell der Vormarsch der Taliban vor sich geht.»

Die Lage in Kabul ist dramatisch. Tausende versuchen, in die wenigen Maschinen zu gelangen, die überhaupt auf dem Flughafen landen können. Die Schweiz brachte bisher erst 3 Staats­angehörige ausser Landes, rund 30 Schweizer im Land hoffen auf Hilfe durch das Aussen­departement.

Das Problem: Zivile Flugzeuge erhalten keine Lande­bewilligung. Eigentlich hatte die Schweiz eine Maschine chartern wollen, um Schweizerinnen und lokale Mitarbeiterinnen aus dem Land zu fliegen. Doch man müsse realistisch bleiben, sagte Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter: Im Moment könne niemand aus Afghanistan ausreisen. Dazu müssten die Menschen durch das Nadelöhr des Flughafens Kabul, und um dorthin zu gelangen, müsse man an den Taliban vorbei.

Keller-Sutter betonte vor den Medien, dass afghanische Mitarbeitende von westlichen Staaten und Organisationen nach der Macht­übernahme durch die Taliban wegen ihrer Tätigkeit potenziell gefährdet seien. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Taliban – trotz gegenteiligen Beteuerungen – nach ihnen suchen. Rund 40 lokale Mitarbeiter und ihre Kernfamilien, total 230 Menschen, erhalten daher ein humanitäres Visum und bekommen nach ihrer Ankunft in der Schweiz Asyl – ohne ordentliches Asyl­verfahren. Man kenne diese Leute, es brauche daher keine «Sicherheits­prüfung», so Keller-Sutter. Angerechnet werden diese 230 Aufnahmen dem diesjährigen Resettlement-Kontingent von 800 Personen.

Die Aufnahme von nur 230 Menschen sei ein Armuts­zeugnis für die Schweiz mit ihrer humanitären Tradition, kritisieren linke Parteien. SP und Grüne fordern, dass die Schweiz rund 10’000 Afghaninnen aufnehmen soll. Die SVP hingegen will keinen «Import von möglichen Islamisten und Gewalt­tätern» und verlangt dafür «Hilfe vor Ort». Die Guten Dienste der Schweiz anbieten möchten Grünen-National­rätin Sibel Arslan und SP-Nationalrat Fabian Molina: Sie wollen, dass die Schweiz mit den Taliban in Dialog tritt.

Doch wie sollen nun die Menschen, die in die Schweiz kommen dürfen, aus Afghanistan rauskommen? Man werde sich wohl von der Idee verabschieden müssen, dass ein Schweizer Flugzeug die Mitarbeiterinnen und ihre Familien sowie die Schweizer Staats­angehörigen ausfliege, sagte Hans-Peter Lenz vom Eidgenössischen Aussen­departement vor den Medien. Darum fällte der Bundesrat einen bemerkens­werten Entscheid: Er entsandte eine Gruppe Schweizer Elitesoldaten über die usbekische Hauptstadt Taschkent nach Kabul. Sie sind seit Mittwoch vor Ort und sollen sich gemäss Lenz darum kümmern, «unsere Leute in Absprache mit den USA an den Flughafen zu bekommen». Ob diese Soldaten bewaffnet sind, wollte er «aus Sicherheits­gründen» nicht beantworten. Aber: «Es sind keine Büroleute.»

Und damit zum Briefing aus Bern.

FDP-Präsidium: Der Kandidat ist gefunden

Worum es geht: Lange hat die Findungs­kommission der FDP gesucht, doch eine Präsidentschafts­kandidatin nach der anderen sagte ab: Es wird weder die welsche Jacqueline de Quattro noch der Ostschweizer Marcel Dobler, der die Aufgabe nur in einem Doppel­präsidium übernehmen wollte. Den Freisinn aus der Misere führen soll nun der Aargauer Ständerat Thierry Burkart. Der Rechtsanwalt, der diesen Samstag 46 wird, ist der einzige Kandidat. Er tritt im Team an: Als Vize­präsidenten sind wie bisher Andrea Caroni (AR) und Philippe Nantermod (VS) sowie neu die Stände­rätin Johanna Gapany (FR) und Nationalrat Andri Silber­schmidt (ZH) vorgesehen. Dafür braucht es eine Änderung der Parteistatuten.

Warum Sie das wissen müssen: Nach dem Rücktritt von FDP-Präsidentin Petra Gössi entstand erst ein Vakuum, als ein Wunsch­kandidat nach dem anderen absagte. Das erinnert an die Suche der SVP vor einem Jahr, die ebenfalls lange keine geeigneten Kandidatinnen für die Parteispitze fand. Kein Wunder: Der Job des Partei­präsidenten ist wenig dankbar, aufwendig und in der Regel schlecht oder gar nicht entlöhnt.

Wie es weitergeht: Nun muss Burkart bei der Findungs­kommission antraben, wo sein Leumund geprüft wird. Am 13. September stellt er sich der Konferenz der kantonalen Partei­präsidenten zur Anhörung, am 2. Oktober findet dann die Wahl statt. Wenn bis dahin keine Leichen im Keller auftauchen, gilt «der schöne Thierry», wie der «Blick» ihn nannte, als gewählt. Seinen Job als Anwalt will Burkart, der eine Leidenschaft für Vespafahren und Heavy Metal hat, während seiner Amtszeit als Partei­präsident ruhen lassen.

Neue Studie: Migration erhöht den Wohlstand

Worum es geht: Einwanderung hilft der Schweiz, und sie kostet Einheimische nicht ihre Arbeits­plätze. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Beratungs­unternehmens Boston Consulting Group, über welche die «SonntagsZeitung» berichtete. Die Ökonomen legen dar, dass in der Schweiz 58 Milliarden Franken des gesamten Brutto­inland­produkts direkt oder indirekt durch Migration erwirtschaftet werden. Das entspricht 8,2 Prozent der gesamten Wirtschafts­leistung und sei im Vergleich zu anderen Ländern hoch.

Warum Sie das wissen müssen: Die Antwort auf die Frage, ob sich Einwanderung positiv oder negativ auf die Schweiz auswirkt, ist oft ideologisch gefärbt. Objektive Einschätzungen fehlen meist. Auch die erwähnte Studie wurde im Auftrag einer Firma erstellt, welche Interesse an möglichst offenen Grenzen hat – schliesslich berät sie Firmen, die international tätig sind. Wie es um die Integration der Migrantinnen in der Schweiz steht, hält jeweils der Integrations­indikator des Bundesamts für Statistik fest. Ein Resultat der neusten Erhebung: Menschen mit Migrations­hintergrund bezahlen höhere Mieten.

Wie es weitergeht: Nach dem deutlichen Nein der Stimm­bevölkerung zur «Begrenzungs­initiative» der SVP bewirtschaftet die grösste Partei des Landes das Thema derzeit eher verhalten. Neu beackert sie den Graben zwischen der ländlichen und der urbanen Schweiz. Die Stimmung ausserhalb der SVP-Wähler­schaft ist derzeit eher migrations­freundlich: So unter­schreiben laut dem erwähnten Integrations­indikator 70,6 Prozent der Schweizerinnen ohne Migrations­hintergrund die Aussage: «Die Vielfalt an Nationalitäten und Kulturen stellt eine Bereicherung unseres Landes dar.»

Covid-19-Gesetz: Zweites Referendum steht

Worum es geht: Wie die Bundes­kanzlei mitteilt, ist das Referendum gegen den zweiten Teil des vom Parlament ausgearbeiteten Covid-19-Gesetzes zustande gekommen. Somit kommt es zur Volks­abstimmung. Unterschriften gesammelt hatten die «Freunde der Verfassung», das «Netzwerk Impf­entscheid», das «Aktions­bündnis Urkantone» und die Jungpartei der SVP.

Warum Sie das wissen müssen: Zur Abstimmung stehen jene Paragraphen des Covid-19-Gesetzes, die National- und Ständerat am 19. März 2021 beschlossen haben. In erster Linie geht es dabei um Hilfs­zahlungen. Die Kritiker haben es allerdings vor allem auf das Covid-Zertifikat abgesehen, das in ihren Augen zu einer Zweiklassen­gesellschaft führt – jenen Bürgerinnen, die sich nicht impfen lassen, würden Grundrechte entzogen. Anders als bei der Abstimmung vom 13. Juni, als es um den ersten Teil des Covid-19-Gesetzes ging und sich über 60 Prozent der Stimm­bevölkerung für das Gesetz aussprachen, könnte es dieses Mal knapp werden. Nicht zuletzt deshalb, weil die SVP mit einer Unterstützung des Referendums liebäugelt; ihre definitive Abstimmungs­parole fasst die Partei am Samstag. Alle anderen im Parlament vertretenen Parteien stehen hinter dem Covid-19-Gesetz, gleisen den Abstimmungs­kampf nun aber erst auf.

Wie es weitergeht: Abgestimmt wird am 28. November. Gleichentags kommen auch die Pflegeinitiative und die Justizinitiative an die Urne. Noch zuvor befindet die Stimm­bevölkerung am 26. September über die 99-Prozent-Initiative und die «Ehe für alle».

Stempelsteuer: Es gibt vorerst keine dritte Abbautranche

Worum es geht: Die Wirtschafts­kommission des Nationalrats stoppt die Arbeiten an der dritten Vorlage beim Abbau der Stempel­steuer. Damit werden die Umsatz­abgabe auf ausländische Wert­schriften sowie die Abgabe auf Sach- und Vermögens­versicherungen beibehalten. Das heisst auch: Der Staatskasse bleiben 1,8 Milliarden Franken jährlich erhalten.

Warum Sie das wissen müssen: Die Stempel­steuer wird fällig, wenn man eine Transaktion vornimmt, etwa wenn eine Firma neues Kapital aufnimmt. Oder wenn man mit Aktien handelt. Insgesamt fliessen so über 2 Milliarden pro Jahr in die Staatskasse. Mitte-rechts ist sie seit Jahren ein Dorn im Auge. In der Juni­session entschied das Parlament, einen Teil dieser Abgaben zu streichen, was zu 250 Millionen Franken Minder­einnahmen führen würde. Ein über­parteiliches Komitee bestehend aus SP, Grünen und Gewerk­schaften ergriff umgehend das Referendum und freute sich bereits auf einen Abstimmungs­kampf voller Klassenkampf­rhetorik gegen die Salami­taktik, mit der die Stempel­steuer Stück für Stück fallen soll. Schon im Herbst befindet das Parlament nämlich über eine zweite Vorlage zum Abbau der Stempel­steuer. Um diese zu retten, ziehen die Bürgerlichen nun die Notbremse bei der dritten, mit Abstand dicksten Tranche der Stempelsteuer.

Wie es weitergeht: Derzeit läuft die Unterschriften­sammlung für das Referendum gegen die erste Abbau­tranche. Im Herbst debattiert das Parlament über die zweite Tranche. Doch die dritte und grösste Abbau­vorlage ist bis auf Weiteres vom Tisch. Die Bürgerlichen verlegen ihre Bemühungen nun auf die Verrechnungs­steuer. Die Wirtschafts­kommission des Nationalrats möchte, dass die Zinsen auf diese abgeschafft werden.

Heavy-Metal-Moral der Woche

Thierry Burkart, Sie haben es weiter oben gelesen, steht auf Heavy Metal und posiert gern mit Shirts von Bands wie Motörhead. Nun ist es nichts Neues, dass bürgerliche und rechte Politiker sich als Metal-Fans inszenieren. 2015 hielt Roger Köppel an den Swiss Music Awards die Laudatio für die Solothurner Band Krokus (und wurde dafür ausgebuht). 2016 besuchte die damalige CVP-Bundes­rätin Doris Leuthard mit dem seinerzeitigen FDP-Ständerat Philipp Müller das AC/DC-Konzert in Bern. Dabei setzten sie sich Teufelshörnchen auf, was einen EDU-Politiker in heiligem Zorn ausrufen liess, es sei als Bundes­rätin nicht angebracht, sich mit einer «Satans­verherrlichenden Band derart zu identifizieren». Finden wir auch. Sonst verkommt Heavy Metal nämlich noch vollends von Bürgerschreck­musik zum Soundtrack für Rechts­bürgerliche. Gerne erinnern wir den künftigen FDP-Präsidenten daran, dass Lemmy Kilmister, verstorbener Frontmann von Motörhead Politiker als «Assholes» titulierte und über Macht sang: «Just ’cos you got the power that don’t mean you got the right

Illustration: Till Lauer

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