Eine ideologische Fata Morgana
Die Spaltung zwischen ländlicher und urbaner Schweiz erhitzt die Gemüter. Warum jetzt? Und wer bevormundet da wen?
Von Daniel Binswanger, 14.08.2021
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Seit die Schweizerische Volkspartei ausgerechnet den Nationalfeiertag genutzt hat, um eine Kampagne gegen städtische «Parasiten» zu lancieren, ist die Eidgenossenschaft mal wieder damit beschäftigt, einer rüden SVP-Provokation angestrengt mit publizistischer Einordnung zu begegnen. Die unter komplexfreier Verwendung von Nazivokabular vorgetragene, professionell orchestrierte Attacke gegen «linke» Urbanität ist dermassen überzogen, dass die meisten Kommentatoren vom klassischen «Bloss keine Eskalation!»-Reflex erfasst wurden: Sie zeigten sich nicht nur kritisch mahnend, sondern so weit als möglich verständnisvoll, beinahe versöhnlich, jedenfalls nach bestem Gewissen «die Gräben überwindend».
So durften wir nun erfahren, dass politische Journalistinnen heute zwar in Zürich, Basel oder Bern leben, dem Dorf, in dem sie selbstredend aufgewachsen sind, aber immer noch mit Innigkeit verbunden bleiben. Stadt-Land-Graben, i wo! Wir Eidgenossen tragen alle noch etwas Kuhdreck an den Sohlen, wenigstens eine Anstandsdosis.
Selbst Andreas Kunz, Redaktionsleiter der «SonntagsZeitung» und stets verlässlicher Scharfmacher, hatte plötzlich ein pazifistisches Erweckungserlebnis. Noch vor kurzem polemisierte er gegen «Impf-Apartheid» und liess in seinem Blatt den Durchseuchungsapostel Reiner Eichenberger für die SVP-Propaganda das Terrain bereiten. «Viele Städter haben den Bezug zur Realität verloren», orakelte Eichenberger eine Woche vor dem 1. August im Tamedia-Sonntagsblatt. Eine Woche nach den antiurbanen Brandreden von Chiesa, Köppel und Konsorten gab Kunz jedoch ganz plötzlich zu bedenken, wir seien dazu verdammt, «aufeinander zuzugehen und Brücken zu finden». Wenn Propagandaaktionen der SVP in so verblüffende Versöhnungspredigten umschlagen, stellt sich beinahe die Frage, ob man sich nicht mehr davon wünschen sollte.
Dennoch bleiben ein paar Rätsel: Sind urbane Eidgenossinnen im SVP-Diskurs nun allen Ernstes das neue Feindbild? Die neuen «Asylanten»? Hat sich der Stadt-Land-Graben tatsächlich zum alles dominierenden Gegensatz verschärft? Und ist an dem Vorwurf, die Städte würden von «Transferzahlungen der Landschaft» profitieren, vielleicht sogar etwas dran?
Man kann die Antwort ziemlich kurz machen: Die Rede vom Parasitentum der Städte und der Drangsalierung der Landbevölkerung durch «Luxus-Linke und Bevormunder-Grüne» ist nicht nur eine neue rhetorische Eskalationsstufe, sondern eine kontrafaktische Absurdität. Die Volkspartei lanciert diese Kampagne offensichtlich im Hinblick auf die Wahlen 2023 – und es ist gar nicht einfach, eine plausible Hypothese zusammenzuzimmern, wie sie mit dieser Strategie um Gottes willen zu Sitzgewinnen kommen will. Viel Lärm um nichts im Sommerloch?
Ganz so einfach sollten wir es uns nicht machen: Die Volkspartei setzt auf eine Strategie der identitätspolitischen Maximalpolarisierung. Sie sucht ihre Inspiration nun eins zu eins im Trump-Playbook, und obschon nicht ersichtlich ist, wie dieses Vorgehen unter Schweizer Bedingungen zum Erfolg führen soll, ist auch nicht auszuschliessen, dass es funktionieren wird. Es gehört zu den Geheimnissen des Rechtspopulismus, dass er sich in verschiedenen Teilen des Globus relativ synchron hat ausbreiten können, unter von Land zu Land manchmal völlig unterschiedlichen Voraussetzungen. Vielleicht treten wir nach anderthalb Jahren Pandemie nun tatsächlich ein in eine neue Phase der noch einmal verschärften Identitätspolitik.
Sicherlich: Der Stadt-Land-Gegensatz ist real. Seit rund dreissig Jahren ist er zur entscheidenden politischen Frontlinie geworden, wichtiger als der Röstigraben, wichtiger als die konfessionelle Spaltung. Wer heute in der Schweiz auf Polarisierung setzt, muss sich dieses Hebels bedienen.
Gelegentlich kommt es ja durchaus zu Abstimmungen, die von weiten Teilen der Landbevölkerung als Bevormundung durch abgehobene Städter empfunden werden, nicht nur die jüngst verworfenen Agrarinitiativen, sondern etwa auch die Zweitwohnungsinitiative oder die Ablehnung der Jagdgesetzrevision. Dies ändert allerdings nichts an zwei Tatsachen: Es fliesst massiv viel mehr Geld von der urbanen Schweiz in die ländlichen Gebiete als umgekehrt. Und die Bevormundung der Städter durch die Landbevölkerung ist sehr viel ausgeprägter, als dies in der Gegenrichtung der Fall ist.
Beginnen wir mit den Finanzen: Auf nationaler Ebene werden gigantische Mittel von den urbanen Wirtschaftszentren in die ländlichen Regionen transferiert, nicht nur über den nationalen Finanzausgleich, sondern auch über offene und verdeckte Landwirtschaftssubventionen, Schutzzölle auf Agrarprodukten und über den Strassenbau.
Man muss die Avenir-Suisse-Studie, die 2018 die jährliche Vollkostenrechnung der Landwirtschaftsunterstützung mit 20 Milliarden veranschlagt hat, nicht in jedem Aspekt unterschreiben, aber dass die ländliche Schweiz gigantische Kosten verursacht, die hauptsächlich von den finanzstarken Wirtschaftszentren getragen werden, ist unbestreitbar. Eine differenzierte Analyse der Geldflüsse, die diesen Befund noch einmal bestätigt, hat kürzlich Fabian Schäfer in der NZZ präsentiert.
Die Debatte über Sinn und Unsinn dieser Transferleistungen muss hier nicht geführt werden. Auch wenn man sich eine innovativere, weniger umweltschädigende Landwirtschaft nun wirklich wünschen sollte, die zudem für die produktiven Wirtschaftszweige nicht eine dauernde Belastung darstellen würde, weil sie nicht permanent die Freihandelsabkommen mit den entscheidenden Handelspartnern zum Scheitern brächte, so darf trotzdem gerne zugestanden werden, dass das Schweizer Modell auch Vorteile bringt. Wer sich etwa in Frankreich einmal in der Ödnis der häufig entvölkerten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu erreichenden Provinz umgetan hat, lernt die Infrastruktur im entlegensten Schweizer Bergtal und den wirtschaftlichen Ausgleich vermutlich schätzen. Bizarr ist allerdings die Behauptung, die Schweizer Landbevölkerung leiste Finanzhilfe an die Geldgeber, von denen sie letztlich ihre Subventionen bezieht.
Eine potenzielle Berechtigung kann man der SVP-Kampagne höchstens im Hinblick auf den Finanzausgleich innerhalb von bestimmten Kantonen zugestehen. In den Kantonen St. Gallen und Zürich zum Beispiel erhalten die Städte relativ substanzielle Mittel als Kompensation für ihre Zentrumslasten. Zudem kommen bestimmte Leistungen, die von den Kantonen und damit von der kantonalen Gesamtbevölkerung erbracht werden, vornehmlich den städtischen Ballungsräumen zugute. Über innerkantonale Finanzflüsse lässt sich trefflich streiten, und die Eruierung des «korrekten» Lastenausgleichs ist keine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage. Das macht die Polemik gegen urbane «Luxus-Linke», die angeblich das Land aussaugen, jedoch nur noch befremdlicher.
Um beim Beispiel von Zürich und St. Gallen zu bleiben: Beide Kantone werden von bürgerlichen Mehrheiten beherrscht, und es sind die Kantone – nicht die Städte –, die den innerkantonalen Finanzausgleich ausgestalten. In beiden Kantonen ist die SVP die mit Abstand stärkste Partei. Den Mitteltransfer, den sie plötzlich zum politischen Kriegsgrund erklärt, hat sie zu guten Teilen selber zu verantworten.
Nicht nur in finanzieller, auch in politischer Hinsicht operiert die SVP in ihrer Kampagne mit alternativen Fakten. Es mag zwar auch schon vorgekommen sein, dass die urbane Schweiz dem Land ein Gesetz aufzwingt, das in ländlichen Regionen unpopulär ist und weltfremd erscheint – zum Beispiel eben das Jagdgesetz. Viel häufiger jedoch ist es die rurale Schweiz, welche die urbane Schweiz bevormundet. Immer häufiger geschieht es – zuletzt bei der Konzernverantwortungsinitiative –, dass eine Sperrminorität von vornehmlich ländlichen Kleinkantonen das Ständemehr erringt und Verfassungsänderungen zum Scheitern bringt, die von einer Mehrheit der Bevölkerung gewünscht werden. Zudem verhilft das Schweizer Zweikammersystem der Landbevölkerung auch parlamentarisch zu einer extremen Überrepräsentation.
Das Schweizer Radio und Fernsehen SRF hat im Anschluss an die Konzernverantwortungsinitiative berechnet, wie viel stärker bei den Ständeratswahlen eine einzelne Stimme aus einem Landkanton die Machtverteilung in der kleinen Kammer bestimmt als eine Stimme aus dem Kanton Zürich. Eine Stimme aus Uri hat demnach 35,4 Mal so viel Gewicht wie eine Stimme aus Zürich, eine Stimme aus Glarus 35,9 Mal so viel, eine Stimme aus Appenzell Innerrhoden gar 39,4 Mal so viel. Der Ständerat ist zwar nur einer der beiden Räte des Parlaments, aber er kann jedes Bundesgesetz und jede Reform auf Gesetzesstufe zum Scheitern bringen.
Wenn schon ist es die Landbevölkerung, welche die Stadtbevölkerung bevormundet. Man mag im Namen des Föderalismus selbst noch für diese extreme, letztlich antidemokratische Verzerrung ein gewisses Verständnis aufbringen. Grotesk ist aber die Behauptung, die ländliche Schweiz werde von den Städten bevormundet. Das Gegenteil ist der Fall.
Was also will die SVP mit ihren Räubergeschichten bezwecken? Zum einen dürfte es sich um einen weiteren Versuch handeln, Stimmung zu machen, Ressentiment zu schüren und dadurch in der ländlichen Schweiz die Wählerbasis zu vergrössern. Die Attacke auf die «Luxus-Linken» richtet sich in erster Linie gegen die bürgerliche Konkurrenz, die Mitte und die FDP, die in den Landkantonen stark sind und die Volkspartei weiter zurückdrängen möchten.
Die SVP veranstaltet gewissermassen einen neuen «Sturm aufs Stöckli», das heisst, sie versucht erneut, mehr Ständeratsmandate von kleinen Landkantonen zu erobern. Schon 2011 hat sie offensiv dieses Projekt verfolgt, ist damit aber sang- und klanglos gescheitert. Das Nein der ländlichen Schweiz zum CO2-Gesetz gibt der Volkspartei nun offenbar die Hoffnung, durch ein konsequentes Befeuern von Stadt-Land-Animositäten 2023 zu einem besseren Resultat zu kommen.
Letztlich dürfte sich die Rede von den «Schmarotzer-Städten» jedoch genauso an die rechten Wählerinnen in den Ballungszentren wie an die Landbevölkerung richten. Es geht um Identitätspolitik: Es wird eine Feindschaft behauptet zwischen einer «echten», «währschaften», «wirklichen» Schweiz und einer Schweiz, die unecht, dekadent und realitätsfremd ist. Diese Feindschaft ist ein reines ideologisches Konstrukt: Weshalb soll die ländliche Schweiz «echter» sein als die urbane? Weshalb sollen die rund 2 Prozent der Bevölkerung, die noch in der Landwirtschaft tätig sind, allen Ernstes definieren, was die «wirkliche Schweiz» heute ausmacht? Es wird eine nationalkonservative Fata Morgana beschworen, die konservative Wähler verführen soll – auch und besonders in den Städten.
Kürzlich hat der US-Journalist George Packer «Last Best Hope» publiziert, eine brillante Analyse der aktuellen amerikanischen Identitätspolitik. Der Kern der Trump-Propaganda, so Packer, ist die Beschwörung von «real America», die Behauptung, dass nur die Trump-Wähler zum «wirklichen Amerika» gehören und dass alle Amerikaner mit anderer politischer Orientierung dekadent und unecht sind. Es ist frappierend, wie dominant der Anspruch, nur die eigene Klientel repräsentiere die «Wirklichkeit», nun auch im SVP-Diskurs geworden ist. Roger Köppel behauptet, die «wahre Schweiz» lebe «hier, auf dem Land». SVP-Parteipräsident Marco Chiesa redet von der «privilegierten Blase», in die sich die Städterinnen verzogen hätten, verblendet von der eigenen «Arroganz». Reiner Eichenberger schliesslich redet von Realitätsverlust. Es ist die klassische Masche der identitätspolitischen Polarisierung: Alle Gegner sind bloss fake. Real und echt ist nur die eigene Ideologie.
Der Stadt-Land-Gegensatz wird aus den politischen Debatten so schnell nicht wieder verschwinden. Eine erfreuliche Entwicklung ist das gewiss nicht: Wer dem Gegner unterstellt, er lebe gar nicht in der Wirklichkeit, hat keinen Boden mehr für eine Annäherung. Aber er verschafft sich die Lizenz, jeden Unsinn zu behaupten.
Illustration: Alex Solman