Vereint zum Erfolg: Ein Fussballteam schwört sich auf das Spiel in Khushpur ein.

Im Namen des Balles

In Pakistan, einem der gefährlichsten Länder für Christen, riskiert ein Priester sein Leben für den religiösen Frieden. Seine Gegner kämpfen mit Waffen und dem Strafgesetz. Er mit Geduld – und Fussball.

Eine Reportage von Karin A. Wenger (Text) und Philipp Breu (Bilder), 07.08.2021

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Eigentlich müsste Emmanuel Parvez längst tot sein. Wie sein Cousin zum Beispiel, durchlöchert von Kugeln der pakistanischen Taliban. Auch den Priester wollten sie im Namen Gottes töten, als sie ihn 2011 in seiner Pfarrei in der ländlichen Kleinstadt Pansara suchten.

Zehn Jahre später, an einem Vormittag im Februar 2021: In einem Nachbar­dorf von Pansara, in der Mitte des Landes, eilt Parvez auf ein Fussball­feld. Er ist 70 Jahre alt, fast jeden Tag unterwegs und strahlt viel Ruhe aus. «Das war kein Foul!», rufen einige Spieler dem Schieds­richter wütend zu. Parvez vermittelt. «Seid friedlich, sonst könnt ihr gehen», sagt er zu den jungen muslimischen Männern.

«Wer besser spielt, gewinnt. Nicht derjenige, der besser betet», sagt der Priester.

An anderen Orten in Pakistan könnte er für solche Worte von einem Mob gelyncht werden. So, wie viele Christen schon getötet wurden und bis heute noch getötet werden.

Aber nicht hier im Dorf Khushpur, das auch der «Vatikan Pakistans» genannt wird. Es ist einer der wenigen Orte, wo Christen Land besitzen. Und schon gar nicht in dieser Woche: Seit zwei Jahr­zehnten organisiert Parvez ein Fussball­turnier, an dem über 30 Mannschaften aus dem ganzen Land teilnehmen. Ihre Spieler gehören verschiedenen Religionen an. Es ist vermutlich der einzige Anlass, den Christen organisieren und an dem Muslime die Gäste sind. Trotzdem wird der Priester die ganze Woche von schwarz gekleideten, jungen Männern mit Gewehren flankiert. Vertrauen schützt in Pakistan keine Menschenleben.

1. Das Land der Reinen

In kaum einem anderen Land leben Christen so gefährlich wie in Pakistan. Rund 4 Millionen Mitglieder zählt die religiöse Minderheit; viele von ihnen leben in Armut, ihre Kinder gehen zur Arbeit statt in die Schule. Fast alle anderen der 220 Millionen Einwohner sind Musliminnen.

Die Teilung von Britisch-Indien erfolgte 1947 grossteils entlang religiöser Grenzen. Pakistan sollte das Land der Muslime werden. Wenn auch nicht nur: Staats­gründer Muhammad Ali Jinnah hatte die Vision eines Landes, in dem alle die gleichen Rechte erfahren – egal, ob sie in einer Moschee, einer Kirche, einem Tempel oder einer Synagoge beten.

Abendmesse in der Kapelle von Khushpur: Fussballspieler und Gemeindemitglieder beten gemeinsam.
«Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich will noch nicht sterben»: Father Emmanuel Parvez vor der Kapelle.

Damals glaubte mehr als ein Fünftel der Bevölkerung an einen anderen Gott als an einen muslimischen. Heute sind es noch knapp 5 Prozent. Jinnah wird immer noch verehrt, Familien posieren in seinem Mausoleum in der Stadt Karachi für Selfies. Der Qaid-e Azam, der grösste Führer, wie sie ihn nennen, verstarb ein Jahr nach der Staats­gründung – und mit ihm seine Vision für die Nation, deren Name übersetzt «das Land der Reinen» heisst.

Schon 1949 äusserte der damalige Justiz­minister die Sorge, dass extremistische Muslime die religiöse Diversität nicht zulassen werden. Knapp 30 Jahre später sollte er recht bekommen. 1977 putschte sich Mohammed Zia-ul-Haq an die Macht und islamisierte bis zum Ende seiner Herrschaft 1988 Gesetze und die Gesellschaft. Sein Vermächtnis lässt religiöse Minderheiten bis heute in ständiger Angst leben. Als Minderheit gilt, wer nicht dem sunnitischen Islam angehört: Nebst Christen sind das Schiitinnen, die als ketzerisch geächteten Ahmadiyya-Muslime, Hindus und Sikhs.

2. Gewalt wegen Gottes­lästerung

Das grösste Problem für diese Gruppen besteht aus drei Ziffern und einem Buchstaben: 295-C. Dieser Artikel im Strafgesetz Pakistans sieht die Todes­strafe vor für jeden, der sich abfällig über den Propheten Mohammed äussert. Wer verdächtigt wird, kann ohne Haft­befehl festgenommen werden; freikommen auf Kaution ist nicht möglich.

Die Gerichtsverfahren, die oft jahrelang hängig bleiben, nehmen kafkaeske Züge an: Die Ankläger müssen im Gericht die vermeintliche Beleidigung nicht wiederholen, weil das eine erneute Gottes­lästerung wäre. Und so wird das Blasphemie­gesetz öfters für persönliche Rachefeldzüge missbraucht. Menschen beschuldigen unliebsame Nachbarn, Kolleginnen oder Konkurrenten.

Vollzogen wurde die Todes­strafe noch nie, doch viele Beschuldigte sterben trotzdem. Sie werden von wütenden Mobs ermordet. In Selbst­justiz mit Benzin überschüttet und angezündet vor Polizei­stationen, andere erschossen im Gerichtssaal.

Priester Parvez, den hier alle father nennen, bleibt uns gegenüber die ersten Tage sehr diplomatisch, wenn er über das Blasphemie­gesetz spricht. Erst gegen Ende der Woche wählt er klarere Worte. Komplett alles, was er sagt, will er nicht geschrieben sehen. Er ist vorsichtig geworden. Denn die Menschen in Khushpur, dem Vatikan Pakistans, haben bereits einen Märtyrer.

Eine der ganz wenigen Gemeinden in Pakistan, die mehrheitlich christlich sind: Khushpur.

Parvez ist in Khushpur aufgewachsen. Hier haben Familien viele Kinder und wenige Betten. Kühe und Schafe schlafen vor den Haustüren, die Frauen kochen über dem Feuer und schrubben Wäsche in einem Eimer. Wer auf die Strasse tritt, blickt auf Plakate, von denen übergross der Cousin von Parvez hinunter­schaut: Shahbaz Bhatti.

Er war Christ und der erste Minister für Minder­heiten. Als er im März 2011 nach nur zwei Jahren Amtszeit durch einen Vorort der Haupt­stadt Islamabad fuhr, durch­löcherten 25 Kugeln sein Auto, 8 davon fanden die Ärzte später in seinem Körper. Die Attentäter verstreuten Flugblätter: Er habe sterben müssen, weil er die Blasphemie­gesetze angetastet habe. Wer dem ungläubigen Christen folge, dem werde es ähnlich ergehen. Absender: die pakistanischen Taliban.

Bhatti sei ihm nahegestanden, erzählt Parvez. «Soll ich ins Ausland, vielleicht nach Amerika, weil mich viele bedrohen?», habe Bhatti ihn kurz vor seinem Tod gefragt. «Wenn ich du wäre, würde ich in Pakistan bleiben», hat Parvez geantwortet: «Wir müssen uns selbst opfern, damit andere Leute in Zukunft nicht getötet werden.» Ein Rat, den er heute bereut.

3. Die Beerdigung

Bhatti liegt auf dem Friedhof in Khushpur begraben. Zu seiner Beerdigung reisten Tausende Menschen an, doch namhafte Politiker fehlten. Einige Führer der Pakistanischen Volkspartei (PPP), der Bhatti angehörte, flogen zwar im Helikopter mit dem Leichnam von Islamabad nach Khushpur, verliessen dann aber das Dorf aus Sorge um ihre eigene Sicherheit. Solidarität kann für Muslime gefährlich sein: Knapp die Hälfte der Betroffenen des Blasphemie­­gesetzes sind Muslime – darunter auch Schiitinnen; ein Drittel gehört den Ahmadiyya an, die manche als Sekte bezeichnen; ein Sechstel sind Christen; eine Handvoll sind Hindus (und einige konnten nicht anhand ihrer Religions­zugehörigkeit identifiziert werden).

Priester Parvez erinnert sich an die Beerdigung. Damals skandierte die Menschen­menge in Khushpur: Beendet das schwarze Gesetz! Er selber habe in eine Video­kamera gesprochen: «Ich will nicht in ein Paradies, wo Mörder leben, und ich glaube auch nicht daran, dass Gott Mörder mit dem Paradies belohnt. Diese Extremisten denken, dass sie ihrer Religion einen grossen Dienst erweisen, doch ihre Taten bewirken, dass sich Menschen vor ihrer Religion fürchten.»

Einige Wochen später kamen sie, die Männer mit Waffen, die ihn im Namen Gottes töten wollten. Vielleicht war es Glück, vielleicht Hilfe aus dem Himmel. Jedenfalls war Parvez in jenen Tagen wegen einer Messe in einem anderen Dorf.

Daraufhin schickte die Polizei Wächter, die für zwei Jahre am Metalltor der Pfarrei Position bezogen. Auf dem Vorplatz und auf den Dächern schliefen bewaffnete junge Männer aus dem Dorf, obwohl Parvez ihnen gesagt habe, dass das nicht nötig sei. Er fürchte sich nicht.

Heute ist er normaler­weise ohne Leibwächter unterwegs. Aber er verzichtet seither auf öffentliche Kritik am Paragrafen 295-C. «Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich will noch nicht sterben», sagt er. Er habe noch viel zu tun.

4. Die grosse soziale Kraft

295-C wird von Menschen­rechts­organisationen und anderen Staaten kritisiert. Doch der amtierende pakistanische Premier­minister Imran Khan verteidigte das Gesetz immer wieder.

Er weiss: Tastet er 295-C an, folgt sein politisches Ende.

Fragt man in den Gross­städten junge Muslime, sagen einige, das Gesetz gehöre abgeschafft. Sie sagen es hinter vorgehaltener Hand. Öffentliche Kritik getraut sich niemand. Den Widerstand der Strasse erfuhren diverse Politiker, auch Benazir Bhutto, die erste weibliche Premier­ministerin eines islamischen Landes. Als sie 1994 eine zehnjährige Haftstrafe für Falsch­anschuldigungen einführen wollte, gab es Massen­proteste und Todes­drohungen. 2007 wurde sie in ihrem Auto erschossen.

Zwar gibt es in Pakistan unzählige verschiedene Meinungen darüber, welche Art des Islam die richtige ist, oft sind sich nicht einmal alle Mitglieder einer Familie einig. In den Gross­städten leben junge Menschen, die nicht viel auf konservative Normen geben. Trotzdem ist die Gesellschaft hochreligiös. In Kombination mit viel Armut und wenig Bildung lassen sich leicht Massen mobilisieren von einfluss­reichen Predigern.

«Die Mullahs haben beinahe so viel Macht wie die Armee», sagt Priester Parvez. Er trifft sich immer wieder mit muslimischen Gelehrten, sie diskutieren zum Beispiel über Staats­gelder für Schul­bildung. Religion ist nie ein Thema, zu heikel.

Das Islamisten-Problem begann unter dem Militär­diktator Zia-ul-Haq. Im Norden des Landes führte der mächtige pakistanische Geheim­dienst Trainings­camps für Mujahedin durch, die in Afghanistan gegen die Sowjets kämpften. Auch Zehntausende Pakistaner wurden für den Guerilla­krieg ausgebildet. Als nach dem Anschlag vom 11. September 2001 die USA das Taliban-Regime in Afghanistan stürzten, strömten militante Afghanen und Pakistaner über die Grenze und brachten ihre Kalaschnikows mit. Die pakistanische Regierung von Pervez Musharraf galt ihnen als Verräter – als Kollaborateur der USA im «Krieg gegen den Terror».

Die Extremisten wollten Pakistan destabilisieren. Angriffe auf Kirchen sollten die amerikanischen Luft­angriffe rächen. Auch andere Minderheiten wurden immer wieder Opfer von Attacken militanter Gruppen, die sich 2007 zu den pakistanischen Taliban vereinigten. In den 14 Jahren nach 9/11 gab es in Pakistan fast 11’000 Terror­anschläge. Bei Drohnen­angriffen der USA auf Terror­verdächtige starben unzählige Zivilistinnen.

5. Fussball für den Frieden

Er habe früher oft gedacht, er wäre lieber in Afrika geboren als in einem Land voller Terroristen, sagt Parvez. Nun schätze er es, dass er in Pakistan so viel bewirken könne. Seit über 20 Jahren organisiert er das Fussball­turnier: «Wir können in Pakistan nicht sagen, sie sollen zu uns in die Kirche kommen, deshalb setzte ich auf Sport.» Zu Beginn nahmen ein Dutzend lokale Mannschaften teil, heute bewerben sich jedes Jahr über 70 Teams, der Hälfte muss er absagen.

Fast jedes Spiel kommentiert der father, er ruft: «Spielt für Pakistan, spielt für den Frieden. Lang lebe Pakistan!» Nationalismus eint Menschen, die sonst viel trennt. Stunden­lang sitzt Parvez an der grellen Sonne, er isst am Spielfeld­rand: «Eigentlich macht mir das keinen Spass», sagt er, «doch ich will ihnen zeigen, dass ich für sie da bin.» Die muslimischen Spieler sagen uns, er sei «ein sehr guter Mann».

Fussball kann Menschen mit unterschiedlichem Glauben zusammenbringen.
Die Trophäen für die Gewinner des Turniers.
Eine muslimische Mannschaft betet vor Beginn eines Spiels.

Auch das Preisgeld ist hoch, 100’000 Rupien, umgerechnet rund 550 Schweizer Franken. Das sind drei bis vier durch­schnittliche Monats­löhne. Einen Schlaf­platz und Essen gibt es ebenfalls eine Woche lang umsonst. Rund 100 Freiwillige helfen mit, vieles am Turnier ist improvisiert. Es gibt weder eine Uhr noch eine Anzeige­tafel, kurz nach Anpfiff gehen Jungs mit Schub­karren voller Kreide ums Feld und zeichnen mit den Händen die Linien nach.

Die Pandemie hat die finanzielle Lage verschlechtert, es kamen weniger Spenden herein. Den Bischof habe er nicht um Geld bitten können, das hier sei sein persönliches Projekt, sagt Parvez. Schliesslich halfen Verwandte. Und nun sorgt er sich um die nächste Durchführung.

Aufhören will er auf keinen Fall, zu gross seien die Fortschritte. In den ersten Jahren weigerten sich die Spieler noch, den Anders­gläubigen die Hand zu schütteln. Mittler­weile setzen sich manche der muslimischen Spieler abends in die kleine Kapelle zu Parvez. Der Priester liest aus der Bibel vor, über den Köpfen der Männer hängt schief ein grosses Bild, auf dem Jesus Brot bricht.

Für katholischen Protz fehlt das Geld. Parvez verteilt Hostien, doch die muslimischen Spieler essen sie nicht. So wie Yaqoob Khan Kharotti, der 32-Jährige kommt seit zehn Jahren ans Turnier. Er sei heute in der Kapelle, weil er dem father gerne zuhöre. «Ich finde es gut, dass verschiedene Religionen hierher­kommen», sagt er, «das ist ein Zeichen von Liebe und Frieden.»

6. Wird alles besser?

Pakistan ist in den letzten Jahren tatsächlich deutlich sicherer geworden. Die Wende kam 2014, nachdem Terroristen erst den Flughafen in Karachi angegriffen und dann mehr als 130 Kinder an einer Schule in Peshawar getötet hatten. Das Militär griff hart durch, liess Tausende Verdächtige erschiessen oder verschwinden, manche steckten sie in Deradikalisierungs-Camps, 700’000 Personen mussten ihre Häuser verlassen. Mit viel Gewalt brachte die Armee so etwas wie ein Stück Frieden ins Land.

Friedenszeichen: Eine Taube wird vor dem Beginn eines Spiels zwischen einer muslimischen und einer christlichen Fussballmannschaft freigelassen.

Während das Fussballturnier läuft, verteidigt ein Imam auf Facebook eine der Blasphemie beschuldigte christliche Kranken­schwester. Ein gutes Zeichen, findet Parvez. «Das ist eine grosse Veränderung. Die Menschen realisieren, dass das Blasphemie­gesetz nicht missbraucht werden sollte.» Trotzdem ist er nicht sehr optimistisch, dass Pakistan für Christen jemals ein sicheres Land werde.

Am Spielfeldrand steht Ashir Masroor. Der Neffe des Priesters ist 35 und hat in Deutschland doktoriert, nun arbeitet er als Assistenz­professor am Institut für Land­wirtschaft der Universität Faisalabad. Zur Arbeit muss er eineinhalb Stunden Auto fahren. Er pendelt jeden Tag, statt in einem Hostel zu schlafen, wie das in Pakistan üblich ist. «Meine Mutter sorgt sich, sie sagt, man wisse nie, die Leute im Hostel könnten mich vergiften», erzählt er. Als Christ müsse er immer vorsichtig und zurück­haltend sein. Manchmal fragten ihn seine Kollegen, wieso er an die heilige Dreifaltigkeit glaube, es gebe doch nur einen Gott. Dann schweigt er lieber, um keine Probleme zu kriegen. Wird eine Position mit besserem Lohn frei, bewirbt er sich nicht, um sich anderen nicht in den Weg zu stellen.

Masroor ist mit seiner guten Ausbildung eine Ausnahme. Die grosse Mehrheit der Christen lebt in Armut am Rand der Gesellschaft. Manche wohnen in den Slums der Gross­städte, andere arbeiten auf dem Land als Schuld­knechte.

7. Die Kinderarbeit

Zum Beispiel Altaf Yusuf, 34. Seine Haut wirkt älter, sie ist gezeichnet von Sonne und Staub. Er arbeitet auf einer der vielen Ziegeleien im Land, ging nie zur Schule. Das einzige Wort, das er schreiben und lesen kann, ist sein Name. Alle Arbeiter haben beim Besitzer Schulden, wegen Krankheiten oder Unfällen oder weil sie die Hochzeit eines Kindes bezahlen müssen. Die Schulden werden von Generation zu Generation weitervererbt – eine moderne Form der Sklaverei.

Priester Parvez besucht die Arbeiterinnen ab und zu. Ziegeleien seien für ihn ein besonderer Ort, sagt er. Eigentlich habe er Arzt werden wollen. Doch als er als 15-Jähriger eine Ziegelei besucht habe, habe er beschlossen, sein Leben den Armen zu widmen.

Yusuf und seine Kolleginnen beginnen die Arbeit um vier Uhr morgens, pro Tag produziert eine Familie rund 1000 Ziegel. Nach Abzug einer Schulden­rate erhalten sie dafür umgerechnet nicht einmal 3 Franken. Wenn es regnet, schwemmt es die Ziegel weg, dann verdienen die Arbeiter nichts.

Verschuldet beim Arbeitgeber, eine Wahl zu seinem Job hat er nicht: Altaf Yusuf, Ziegelarbeiter.
Nichts anderes als eine moderne Form der Sklaverei: Ziegelarbeiterin in einem Betrieb nahe Pansara.

An diesem frühen Morgen, an dem Parvez die Ziegelei besucht, arbeiten sechs Kinder der Familie Amjed bei 12 Grad Celsius. Die Mädchen Rida (13), Rifa (12), Swera (10) und Mahak (5) sowie die Buben Rihan (8) und Miran (7) sitzen barfuss in der Hocke, drehen flink die halb getrockneten Ziegel­steine um, immer im gleichen Rhythmus. «Meine Güte», sagt der Priester, «das macht mich so traurig, sie sollten in der Schule sein.» Natürlich möchte sie die Kinder lieber in den Unterricht schicken, sagt die Mutter Tahira Parveen. «Aber wenn wir alle arbeiten, produzieren wir mehr Ziegelsteine.»

Der Besitzer der Ziegelei trägt ein frisches schwarzes Hemd und bezeichnet den Lohn seiner Arbeiter als «nicht schlecht». Warum er ihnen Geld leihe? Sonst würde sich ja niemand um sie kümmern, sagt er. Er würde es gut finden, wenn sie ihre Kinder in die Schule schickten, doch er könne sie nicht zwingen, ihr Geld für einen bestimmten Zweck zu nutzen. Zum Verbot von Kinder­arbeit will er sich nicht äussern.

Der Besitzer und Parvez haben ein höfliches Verhältnis. Der Priester spart seit einiger Zeit. Mit dem Geld möchte er dann die 1150 Franken Schulden von Altaf Yusuf sowie die 2300 Franken von der Familie Amjed begleichen.

8. Das Dorf der Freien

65 Familien hat er bereits freigekauft. Sie wohnen in einem Dorf, das Parvez für sie gebaut hat. Die Ortschaft heisst Christ the King Colony; die Häuser haben je eine Wasser­pumpe, zwei Zimmer, ein paar alte Möbel, eine kleine Küche und eine Toilette. Das mag bescheiden klingen, doch für die Menschen hier bedeutet es ein Leben in Würde. Parvez zeigt auf ein leeres Feld am Rand des Dorfs: «Hier sollte noch eine weitere Strasse dazukommen, mein Ziel ist es, 300 Häuser zu bauen.»

Auf dem Weg zum Sonntagsgebet in Pansara.
Licht der Hoffnung: Messdiener.
Jeden Sonntag geht es mit dem Bus in die Kirche in Pansara.

Jeden Sonntag holt ein Helfer die Bewohner ab und fährt sie mit einem Bus nach Pansara zur Pfarrei. In der grossen Kirche stimmt Parvez «Halleluja» an, 150 Menschen singen mit. Hier drinnen dürfen sie Raum einnehmen, ohne sich zurück­zuhalten. Nach dem Gottes­dienst gehen sie zurück in eine Welt, in der sie besser schweigen.

Epilog

Allahu akbar, Gott ist am grössten – die Finalteams bilden vor Anpfiff je einen Kreis und schicken das Stoss­gebet zum Himmel. Dieses Jahr spielen ein Team aus dem nördlichen Swat-Tal und eines aus der nahe gelegenen Stadt Faisalabad um den Sieg. Kurz zuvor wollte ein Spieler ein Selfie mit Priester Parvez. Er möge eigentlich keine Bilder von sich, sagt er. Doch dass muslimische Fussballer ein Foto mit ihm machen wollten, sei für ihn ein Erfolgs­erlebnis.

Das Spiel entscheidet schliesslich die Mannschaft aus Faisalabad für sich. Bei der Sieger­ehrung hält ein Mann aus dem Dorf Khushpur eine Dankes­rede, er sagt ins Mikrofon: «Weder euer Prophet noch unserer bauten Brücken zwischen uns, aber Father Parvez tut das.»

Eigentlich müsste Priester Parvez längst tot sein. Doch er konnte sich Respekt verschaffen, indem er den Mannschaften Jahr für Jahr eine gute Woche bietet, Teller und Mägen mit Essen füllt, faire Spiele organisiert. Und er hat gelernt, sich diplomatisch auszudrücken.

Derweil predigt irgendwo in Pakistan ein Gelehrter in einer der Tausenden madrasas, in einer Koran­schule, dass der Islam die einzig wahre Religion sei. Die Kinder lernen Verse auswendig in einer Sprache, die sie nicht verstehen. Ihre Eltern sind froh, dass sie in der madrasa gratis einen Teller Essen erhalten und im Gegensatz zu vielen anderen Kindern in Pakistan wenigstens lesen und schreiben lernen.

Parvez hofft, dass eines Tages ein Team sein Lebenswerk weiterführt. Noch zehn Jahre vielleicht, sagt er, habe er die Energie, bevor er in Rente gehe. «Ich mache weiter, weil ich befürchte, dass niemand meine Arbeit fortsetzen wird.»

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