Nachhaltig in die Katastrophe
«Der Klimaschutz beginnt bei dir!», lautet ein Slogan, der längst zum Gemeinplatz geworden ist. Und genau hier liegt das Problem.
Von Daniel Strassberg, 03.08.2021
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Immanuel Kant liebte es, den sogenannten gesunden Menschenverstand zu entlarven. Daraus entstand etwa der Aufsatz «Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis». Vielleicht hätte Kant heute den Spruch «Der Klimaschutz beginnt bei jedem Einzelnen» unter die Lupe genommen und ihn nicht ohne Sarkasmus als Plattitüde entlarvt. Man sollte Kants Humor nicht unterschätzen.
Den Anstoss, mir den grossen Kant zum Vorbild zu nehmen, gab die CO2-Abstimmung. Daran, dass ich am Sonntagabend meist auf der Verliererseite stehe, habe ich mich längst gewöhnt, aber bei manchen Abstimmungen fühlt sich die Niederlage noch immer wie ein Schlag in die Magengrube an.
Nach der Minarett- und der Ausschaffungsinitiative war es am Abend des 13. Juni ein drittes Mal so weit: Ich war vollkommen fassungslos. Zwar hatten die letzten Umfragewerte schon nichts Gutes verheissen, doch da mir beim besten Willen kein Argument einfiel, das gegen dieses Gesetz sprach (ausser, dass es zu harmlos sein könnte), wollte ich die drohende Niederlage nicht wahrhaben.
Doch es kam, wie es kam, und ich frage mich seither, wie es sein kann, dass die Weltmeister im Recyceln, in der Mülltrennung und beim Kauf von Biofleisch dieses harmlose und letztlich unausweichliche Gesetz mehrheitlich ablehnten. Wie lässt sich der Widerspruch erklären, dass im März 2021 eine Mehrheit der Schweizerinnen den Umweltschutz (59 Prozent) und den Klimawandel (54 Prozent) zu ihren grössten Sorgen zählte – und im Juni dann nicht bereit war, einen minimalen Beitrag zur Beseitigung dieser Sorgen zu leisten?
Doch vielleicht, dachte ich mit der Zeit, liegt darin gar kein Widerspruch. Vielleicht ist im Gegenteil die Mülltrennung sogar die Bedingung dafür, dass viele beruhigten Gewissens gegen das CO2-Gesetz stimmen konnten.
In Dostojewskis «Die Brüder Karamasow» erzählt Iwan Fjodorowitsch Karamasow seinem jüngeren Bruder Aljoscha, einem frommen Mönch, eine selbst erfundene fantastische Geschichte, die im Sevilla des 16. Jahrhunderts spielt: Bei einer Prozession erscheint der wiederauferstandene Jesus Christus und wirkt etliche Wunder. Der anwesende Grossinquisitor, ein uralter Kardinal, erkennt den Erlöser sofort und droht, ihn als Ketzer verbrennen zu lassen, so wie er am Tag zuvor hundert Ketzer auf den Scheiterhaufen geschickt hatte. Seine Begründung: Christus habe die Freiheit gepredigt und dadurch die Menschen überfordert, was ihren Glauben unterhöhlt habe.
Dann fährt er fort:
Sieh dir doch an, was du getan hast! Und alles um der Freiheit willen! Ich sage dir, der Mensch kennt keine quälendere Sorge, als jemand zu finden, dem er so schnell wie möglich das Geschenk der Freiheit übergeben kann, mit dem er, dieses unglückliche Geschöpf, geboren wird. Aber nur der bekommt die Freiheit der Menschen in seine Gewalt, der ihr Gewissen beruhigt.
Tatsächlich scheint in den letzten Jahren der Kampf um das gute Gewissen der Schauplatz der politischen Auseinandersetzung geworden zu sein. Die schleichende Moralisierung des Politischen bedeutet allerdings nicht, dass die Politik moralischer geworden wäre, sondern lediglich, dass Macht vermehrt über den Zugriff auf das Gewissen ausgeübt wird.
Ist Ihnen nie aufgefallen, dass heutzutage kaum eine Werbekampagne ohne einen Verweis auf den Klimaschutz auskommt?
Ikea will Nachhaltigkeit für alle erschwinglich machen, Denner ist zwar schon nachhaltig, möchte aber noch nachhaltiger werden, H&M nimmt um der Nachhaltigkeit willen alte Kleider zurück, und Glencore setzt in Zukunft vermehrt auf Nachhaltigkeit. Tatsächlich ist Nachhaltigkeit, neben Gesundheit, das Zauberwort, mit dem sich neue Märkte erschliessen lassen: Ursprünglich aus der Forstwirtschaft kommend – es sollen nicht mehr Bäume gefällt als gepflanzt werden –, dient es heute nur noch der Weisswaschung des Gewissens. Oder besser: der Grünwaschung des Konsums.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Frage, mithilfe welcher Mechanismen gesellschaftliche Macht ausgeübt wird, ein zentrales Problem der Philosophie. Dahinter steckte die Frage, weshalb die Revolution, entgegen den Vorhersagen von Karl Marx, in den industriell weit entwickelten Ländern nicht stattgefunden hatte.
Die Erklärung dafür, weshalb sich die Menschen mit ihrer Unterdrückung abfinden, lautete nach einer verbreiteten Diagnose: Die Massen werden durch ungehemmten Konsum ruhiggestellt.
Das Argument geht traditionell etwa so: Die unmittelbare Befriedigung beinahe aller materiellen Bedürfnisse schlägt – im Westen, wohlverstanden – gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: Der Konsumrausch kurbelt die Wirtschaft an, lenkt von struktureller Gewalt und Ungerechtigkeit ab und schwächt die Widerstandskraft der Menschen gegen die bestehenden Verhältnisse. Solange Nylonstrümpfe, Volkswagen und Ferien auf Mallorca zur Verfügung stehen, denkt niemand daran, eine Revolution vom Zaun zu brechen. Und die Mächtigen können nach Belieben schalten und walten.
So lautete die Analyse der (Post-)Marxisten der Frankfurter Schule und der französischen (Post-)Strukturalistinnen. Und in noch einem Punkt stimmten sie überein: Derartiges Verhalten ist nicht Ausdruck einer freien Entscheidung, sondern die Folge gesellschaftlicher Strukturen. Die Einzelnen, hiess es, hätten keine Möglichkeit mehr, in die Verhältnisse einzugreifen, nicht etwa weil sie politisch zu schwach wären, sondern weil die sozialen Strukturen ihr Bewusstsein gekidnappt hätten.
Doch genau dies war der Schwachpunkt dieser Theorien: Wenn jedes Bewusstsein durch die Verhältnisse – den Konsum, die Kulturindustrie, die Werbung, die Sprache etc. – korrumpiert ist, wer bitte soll dann die Verhältnisse ändern? Müsste das Verdikt, dass es auf den Einzelnen nicht mehr ankommt, dann nicht auch für die Autorinnen dieser Kritik gelten?
Diese Schwachstelle machte sich der neue Liberalismus zunutze und rief in den 1980ern die Meritokratie aus, die die strukturalen Theorien einfach auf den Kopf stellte. Es kommt nur auf den Einzelnen an, verkündete der Neoliberalismus; Macht, Reichtum und Ansehen werden dem Individuum nach seinem Verdienst zugeteilt: Jede bekommt, was sie verdient. Und wem es schlecht geht, der ist daran selber schuld.
Auch weil sie das Individuum nach Jahrzehnten der Abwertung wieder aufwertete, trat die Meritokratie einen unheimlichen Siegeszug an: Jede Veränderung fängt bei dir an, lautete die Parole, jeder ist seines Glückes Schmied.
Seit Beginn des neuen Jahrtausends hat diese ausgesprochen rechtsliberale Losung die gesamte Gesellschaft bis weit in linke Kreise hinein infiziert: Es kommt auf jede Einzelne an. Aus der ursprünglich vollkommen richtigen Einsicht, dass wir nicht mehr weitermachen können wie bisher, ist ein seltsam behäbiger Lebensstil entstanden, dem das Politische lediglich die nötige Patina verleiht. Nicht nur die richtigen, die gesunden, natürlichen und nachhaltigen Produkte gehören dazu, sondern auch ein Garten im Dienste der Biodiversität, Ferien in der Schweiz, Fahrradfahren, Wandern, Biofleisch (manchmal), vegetarische Grillpartys, Mülltrennung und Hybridautos.
Gegen diese Lebensform ist an sich nichts einzuwenden (ich pflege sie, mit Ausnahme der vegetarischen Grillpartys, selbst) – wenn man, und das ist der springende Punkt, darob nicht vergisst zu fragen, wie viel diese Massnahmen tatsächlich dazu beitragen, die Klimakatastrophe zu verhindern. Meine Frau und ich haben in den letzten zwei Jahren durch den Hybridantrieb ein paar kümmerliche Liter Benzin eingespart. Aber wir fühlen uns wohl, haben ein gutes Gewissen und können über die Nachbarn, die keinen Hybridmotor fahren, die Nase rümpfen. Das ist die Hauptsache.
Die Diagnose aus der Zeit des Wirtschaftswunders scheint mir immer noch zutreffend:
Die wirksamste und zäheste Form des Kampfes gegen die Befreiung besteht darin, den Menschen materielle und geistige Bedürfnisse einzuimpfen.
Doch heute geht es mehr um die geistigen als die materiellen Bedürfnisse: nicht mehr um Nylonstrümpfe, sondern um eine Beruhigung des schlechten Gewissens. Heute kauft man mit dem richtigen Shampoo nicht mehr Glück, Schönheit oder Erfolg ein, sondern den ruhigen Schlaf der Gerechten.
Unter dem Motto Genuss ohne Sünde erschliesst die Durchmoralisierung des Alltags riesige neue Märkte und lenkt gleichzeitig davon ab, dass sich im Kampf gegen die Klimakatastrophe seit Jahren so gut wie nichts bewegt. Dennoch kann jeder Bürger und jede Bürgerin ruhigen Gewissens schlafen – sie haben ihren Beitrag ja geleistet.
Aber der Kampf um die Rettung des Planeten entscheidet sich nicht samstags in der Kompostgruppe, sondern auf der Strasse. Nur wenn der Druck der Strasse eine kritische Masse erreicht, lassen sich strukturelle politische Veränderungen durchsetzen, die vielleicht die Katastrophe im letzten Moment noch abwenden können.
Das bedeutet keineswegs, dass man auf Mülltrennung, Biofleisch oder Elektroautos verzichten sollte. Aber man soll sich doch bitte nicht vormachen, damit einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten.
Oder wie es Erich Kästner einst formulierte:
Nie dürft ihr so tief sinken,
von dem Kakao, durch den man euch zieht,
auch noch zu trinken.
Illustration: Alex Solman