Auf lange Sicht

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Meldungen über Menschen, die trotz doppelter Impfung positiv auf Corona getestet werden, häufen sich. Manche werden richtig krank oder sterben gar. Was daran beunruhigend ist – und was nicht.

Von Oliver Fuchs (Text) und Sharon Funke (Quiz), 02.08.2021

Zahlen, Balken, Pfeile: Jeden Montag schärfen wir Ihren Blick für die ganz grossen Zusammenhänge.

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Am Morgen des 18. November 2020 verschickte der US-Pharma­konzern Pfizer die profitabelste Medien­mitteilung seiner Geschichte. Eine experimentelle Medizin namens BNT162b2 hatte sich in einer gross­angelegten Studie als hochwirksam erwiesen.

20 Tage später machte die 90-jährige Margaret Keenan in einem Spital im britischen Coventry den linken Arm frei, um sich als weltweit erste reguläre Patientin Pfizers neue Medizin spritzen zu lassen.

Diese hat mittlerweile einen Marken­namen – sie heisst Comirnaty®. Und alleine im ersten Quartal 2021 hat Pfizer damit 3,5 Milliarden Dollar Umsatz gemacht (etwa ein Viertel davon ist Profit, wie die «New York Times» schätzt.)

Hunderte Millionen Menschen haben Comirnaty® inzwischen bekommen, darunter etwa 1,4 Millionen in der Schweiz. Doch während weltweit Milliarden weitere Menschen auf diese Medizin – oder ein Konkurrenz­produkt – hoffen, werden in den reichen und überversorgten Ländern jetzt verfallene Dosen weggeschmissen.

Ein Grund dafür sind Meldungen wie diese hier:

Solche Nachrichten können Unsicherheit und Misstrauen auslösen: Hält die Impfung etwa gar nicht, was sie verspricht? Dieses Misstrauen untergräbt die Impfbereitschaft.

Doch hinter solchen Zweifeln steckt ein grundlegendes Missverständnis darüber, was die Impfungen gegen Sars-CoV-2 können und was nicht. Pfizers Medien­mitteilung behandelt diese Frage nicht irgendwo versteckt in einer Fussnote, sondern prominent im dritten Absatz:

In der Studie wurden 10 schwere Fälle von Covid-19 beobachtet, 9 Fälle traten in der Placebo-Gruppe auf und ein Fall in der mit BNT162b2 geimpften Gruppe.

Aus: Medienmitteilung von Pfizer und Biontech, 18.11.2020.

Schauen wir uns also genauer an, wie die Pfizer-Impfung geprüft wurde. Was das unter realen Bedingungen bedeutet. Welche Unsicherheiten es dabei gibt. Und was also von Medien­berichten, wie den erwähnten, zu halten ist.

Was die Impfung kann – und was nicht

Die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) ist der Gold­standard für die Zulassung von Medikamenten. Ihre Entscheide und Verfahren beeinflussen Behörden rund um den Globus.

Am 30. Juni 2020 veröffentlichte die FDA ein 21 Seiten langes Dokument zuhanden «der Industrie». Darin macht sie Empfehlungen zu den Mindest­standards, die eine Corona-Impfung erfüllen muss, um in den USA eine Zulassung zu bekommen. (Wenn Sie das Pendant von Swissmedic lesen möchten, bitte hier entlang.)

Hier die wichtigsten Empfehlungen:

  • Es soll eine grosse randomisierte Doppel­blind­studie durchgeführt werden, bei welcher idealer­weise die Hälfte der Teilnehmenden die Impfung erhält und die andere Hälfte ein Placebo.

  • Dann soll getestet werden, wie viele Teilnehmende labor­bestätigt die Krankheit Covid-19 bekommen. Alternativ kann getestet werden, wie viele sich labor­bestätigt mit dem Virus Sars-CoV-2 infizieren.

  • Wenn sich genügend Teilnehmende das Virus eingefangen haben oder krank geworden sind, kann statistisch die «Wirksamkeit» ausgerechnet werden. Für eine Zulassung sollte diese mindestens 50 Prozent betragen.

  • Ausserdem soll zusätzlich ausgewiesen werden, wie wirksam die Impfstoffe vor einem schweren Verlauf von Covid-19 schützen.

Kurz: Um eine Zulassung zu bekommen, sollte die Impfung bei einer fixen Gruppe unter kontrollierten Bedingungen mindestens zu 50 Prozent gegen eine symptomatische Covid-19-Erkrankung wirksam gewesen sein.

Nun also zur Studie, mit der Pfizer seinen Kandidaten BNT162b2 getestet hat. Am 10. Dezember hat der Konzern im Fachmagazin «The New England Journal of Medicine» die Zwischen­ergebnisse publiziert, welche er zwei Wochen zuvor per Medien­mitteilung verkündet hatte.

  • Pfizer hat 43’448 Teilnehmende ab 16 Jahren in Argentinien, Brasilien, Südafrika, Deutschland, der Türkei und den USA rekrutiert. Diese wurden nach dem Zufalls­prinzip in zwei fast gleich grosse Gruppen aufgeteilt.

  • Alle Teilnehmenden wurden auf Antikörper getestet. Bei 36’523 gab es keinen Hinweis, dass sie Sars-CoV-2 schon einmal im Körper hatten.

  • Eine Gruppe erhielt im Abstand von drei Wochen zweimal die Impfung, die andere zweimal eine Salzlösung.

  • Dann wurde ausgewertet: Wie viele Teilnehmende erkrankten sieben Tage ab ihrer zweiten Spritze labor­bestätigt an symptomatischem Covid-19?

  • Und es wurde geschaut: Wie viele Teilnehmende erkrankten nach der ersten Spritze schwer an Covid-19?

Hier lohnt es sich, sehr genau zu sein. Als labor­bestätigtes symptomatisches Covid-19 gilt, wenn eine Probandin mindestens eines der folgenden Symptome hatte:

Fieber, neuer oder stärkerer Husten, neue oder stärkere Kurzatmigkeit, neue oder stärkere Muskel­schmerzen, neuer oder stärkerer Geruchs­verlust, Hals­schmerzen, Durchfall oder Erbrechen – und zwar bis zu vier Tage vor oder nach einem positiven PCR-Test.

Schweres Covid-19 heisst: Mindestens ein Covid-19-Symptom – plus: Versagen der Atmung, Schock, akute und signifikante Beeinträchtigung der Nieren, der Leber, des Gehirns, Einweisung auf die Intensiv­station oder Tod.

Resultat: 8 Teilnehmende aus der Impf­gruppe bekamen Covid-19 gemäss dieser Definition. Und 162 Teilnehmende aus der Placebo-Gruppe. 10 Teilnehmende erkrankten schwer, darunter eine geimpfte.

Daraus errechneten die Forscher: Die Impfung hat eine Wirkung von 95 Prozent.

Die Studie läuft übrigens nach wie vor, weil die Forscherinnen beobachten, ob sich bei den Teilnehmenden langfristige seltene Neben­wirkungen zeigen, wie sich die Antikörper­konzentration im Blut über die Zeit entwickelt und ob sich die ermittelte Wirksamkeit verändert. Ein erstes wichtiges Update wurde letzte Woche als Pre-Print veröffentlicht; es stellte sechs Monate nach der Impfung eine Wirksamkeit von 91 Prozent gegen symptomatisches Covid-19 fest.

Gemessen an den Mindest­kriterien der FDA sind diese ursprünglichen 95 Prozent (und auch die neuen 91 Prozent) ein spektakuläres Ergebnis. Aber was heisst das nun im echten Leben?

18 Tote – sind das viele?

Damit wären wir wieder bei den Medien­berichten vom Anfang dieses Beitrags. Nehmen wir jenen aus der Schweiz, also den von «20 Minuten».

Wer den Artikel vom 26. Juli anklickt, liest, dass es in der Schweiz «bislang 300 Fälle von Infektionen trotz vollständiger Immunisierung» gegeben habe: «In 78 Fällen musste der oder die Erkrankte hospitalisiert werden, 18 Personen sind trotz vollständigem Impf­schutz an Covid-19 verstorben.» Ausserdem würden neue Zahlen aus Israel zeigen, dass «die Schutz­wirkung der Impfungen bei der Verbreitung und milden Verläufen relativ schnell abnimmt».

Drei Tage später gab das Bundesamt für Gesundheit, das BAG, bekannt, dass bis am Mittwoch letzter Woche insgesamt 379 vollständig geimpfte Personen positiv getestet wurden – und man künftig einmal die Woche die Zahl solcher Impf­durchbrüche bekannt geben wolle.

Da wir jetzt die genauen Kriterien für «Wirksamkeit» der Pfizer-Impfung kennen (jene von Moderna waren übrigens ganz ähnlich) – können wir diese Meldung einordnen.

Beginnen wir mit dem Titel: «18 Menschen trotz vollständiger Impfung an Corona verstorben». In der Studie erkrankte einer von 21’720 geimpften Probanden schwer. Nehmen wir mal an, dass er gestorben ist. Und nehmen wir ausserdem an, dass alle 18 in der Schweiz Verstorbenen die Impfung von Pfizer bekommen haben. So wie insgesamt 1,4 Millionen Menschen im Land.

Wie sieht es mit den 300 Fällen (oder auch den 379 gemäss BAG) von Infektionen trotz Impfung aus? Nehmen wir wieder an, dass sie alle die 1,4 Millionen Pfizer-Geimpften betreffen (und nicht einen einzigen der 2,7 Millionen Moderna-Geimpften).

An dieser Stelle eine kleine Zwischen­bemerkung: 300 (oder auch 379) Fälle sind auf jeden Fall eine massive Unterschätzung. Das sagt auch das BAG. Denn unterdessen lassen sich geimpfte Menschen wohl kaum mehr testen – der Bund bezahlt die Selbst­tests nur Ungeimpften. Die amerikanische Gesundheits­behörde CDC riet bis vergangene Woche den Geimpften sogar explizit von weiteren Tests ab.

Letzte Frage: In der Schweiz sind 4’139’512 Personen doppelt geimpft. Was wäre, wenn alle offiziell erfassten Fälle von Impf­durchbruch zum Tod geführt hätten («Schon 379 Menschen trotz Impfung gestorben!»)

So viel zur Frage, ob die Pfizer-Impfung leistet, was sie gemäss ihrer Zulassungs­studie soll. Impfungen schützen – diese Impfung schützt sogar umwerfend gut – aber sie schützen nicht ganz zu 100 Prozent. Und ihre Hersteller behaupten dies auch nicht.

Und nun schauen wir noch ins gelobte Impfland.

Wie ist das jetzt in Israel?

Sie erinnern sich, das Neun-Millionen-Land hat früh, schnell und viel geimpft. Nachdem es sich im ersten Jahr der Pandemie mehr schlecht als recht geschlagen hatte, wurde es zum weltweiten Vorbild für eine schmissige Impf­kampagne. Fünf von sechs Israeli über 20 Jahren sind heute doppelt geimpft.

Trotzdem steigt seit Wochen die Zahl der positiv Getesten an – und in Innen­räumen gilt wieder Masken­pflicht. Vor allem aber schwirren alle möglichen Zahlen zur Impfung herum. Der Schutz vor schwerer Erkrankung sei auf 80 Prozent gefallen – für über 50-Jährige sogar auf 50 Prozent. Im Juni sei sie nur noch 64 Prozent effektiv gewesen. Jetzt schütze sie nur noch zu 39 Prozent gegen Übertragung.

Diese Zahlen können Sie getrost vergessen. In Worten des Vorsitzenden des israelischen wissenschaftlichen Covid-Panels (dem Pendant zur Schweizer Taskforce): «Jeder Versuch, die Wirksamkeit der Impfung gegen schwere Erkrankung aus semikruden Krankheits­raten von Ja-Nein-Geimpften abzuleiten, ist sehr, sehr riskant.»

Anschaulich erklärt das Dvir Aran, Assistenz­professor am Technion in Haifa, das israelische Pendant zur ETH. Es lohnt sich, seinen englischen Twitter-Thread in Gänze zu lesen, die Kurzfassung ist folgende:

  • Bis Mitte Juli 2021 wurden in Israel etwa gleich viele Menschen über 65 mit oder ohne Impfung schwer krank. Woraus man schliessen könnte: Die Impfung schützt nicht so gut wie gedacht.

  • Nun aber hat sich die Situation klar geändert. Es werden deutlich mehr ungeimpfte Menschen über 65 schwer krank.

  • Warum? Weil die aktuelle Welle in Städten mit sehr hohen Impfraten begonnen hatte. Wo sich viele der wenigen Ungeimpften und wenige der vielen Geimpften angesteckt hatten.

  • Jetzt ist es umgekehrt. In den Städten mit tiefen Impf­raten stecken sich unterdessen viele der vielen Ungeimpften an. Und wenige der wenigen Geimpften.

Seit Mitte Juli trifft Covid-19 in Israel ungeimpfte Ältere härter

Durchschnitt der neuen schweren Fälle bei den über 65-Jährigen in Israel

Geimpfte
Ungeimpfte
Fehlerbereich
07.07.2117.07.2127.07.2110203040 Fälle pro 1 Mio. Menschen

Die Kurven zeigen die durchschnittlichen neuen schweren Fälle pro Tag auf 1 Million Menschen (gleitender Mittelwert über 7 Tage). Quelle: Dvir Aran, Assistenz­professor an der Technion in Haifa

Fazit

In einer klinischen Studie wird eine fixe Gruppe nach fixen Kriterien beobachtet. In der echten Welt verzerren alle möglichen Dinge die Statistik. Das Virus mutiert und verbreitet sich da, wo es kann, so gut, wie es geht. Geimpfte erholen sich vielleicht schneller, wenn sie krank werden – oder sie haben trotz Impf­schutz ein bisschen Virus in der Nase und testen positiv. Diese Liste liesse sich beliebig verlängern.

Die Impfung ist kein Hammer, der die Pandemie magisch beendet. Und das Virus ist kein Nagel, der seelen­ruhig darauf wartet, in die Wand gehämmert zu werden.

Machen Sie sich also nicht verrückt mit Prozent­rechnen. Aber stellen Sie sich darauf ein, dass diese Pandemie noch einige Überraschungen bereithält.

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