Es ist noch da
Lässt sich das tote Rahmenabkommen wiederbeleben? Kein Problem, sagt Jurist Thomas Cottier, der sich selber als Patrioten bezeichnet. Der Vertrag liege noch immer auf dem Tisch. Wer ist der Mann, und wie kommt er darauf?
Von Cinzia Venafro, 29.07.2021
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Das Rahmenabkommen ist gar nicht tot. Oder auf jeden Fall nicht so tot, wie es seit jenem Tag Ende Mai heisst, an dem der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU offiziell abbrach.
So zumindest sieht es der Rechtsprofessor Thomas Cottier. Aus seiner Sicht «haben wir das Rahmenabkommen noch immer auf dem Tisch. Alle reden davon, dass es tot sei. Aber es ist noch da. Einen besseren Vertrag wird es nicht geben.»
Cottier, emeritierter Berner Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht und Jurist mit internationalem Renommee, sitzt zu Hause in Bremgarten bei Bern und blättert in der Bundesverfassung. Er hat dem Bundesrat kürzlich Verfassungsbruch vorgeworfen, auch wenn er im Gespräch mit der Republik das Wort nicht in den Mund nehmen will. Der Bundesrat habe mit dem Verhandlungsabbruch «seine Kompetenzen überschritten», sagt er.
Für ihn ist klar: «Es geht um grundlegende politische Weichenstellungen. Dieser Abbruch ist mehr als ein Abbruch einer einzelnen Verhandlung. Es ist das Eingeständnis und der Beschluss, dass man auf den bilateralen Weg verzichtet, wie man ihn bis jetzt verstanden hat.» Das sei nicht seine Meinung, sagt Cottier, sondern die Aussage der Europäischen Kommission, die in den letzten Jahren immer wieder betont habe, «dass dieser Weg ohne Rahmenabkommen nicht weitergeführt werden kann».
Stolze Schweiz, schöne Schweiz
Cottier will nicht akzeptieren, dass der Bundesrat nach sieben Jahren Verhandlungen zum Schluss gekommen ist, «dass zwischen der Schweiz und der EU in zentralen Bereichen dieses Abkommens weiterhin substanzielle Differenzen bestehen».
Dass in der Schweiz keine Mehrheit für das Rahmenabkommen zu finden sei ohne Verbesserungen beim Lohnschutz, bei der Rolle des Europäischen Gerichtshofs und der unpopulären Unionsbürgerrichtlinie.
Dass sich nicht einmal mehr die SP – einst die Kraft im Land, die von einem EU-Beitritt träumte – geschlossen hinter das Rahmenabkommen stellen konnte. Dies vor allem, weil die Gewerkschaften seit Sommer 2017 in Frontalopposition zum Vertragswerk standen und immer wieder vor polnischen Löhnen für Schweizer Handwerker warnten. Dass Anfang 2021 selbst aus der FDP nur wenige Stimmen zu hören waren, die dem Vertrag in der vorliegenden Fassung noch zustimmten.
Dass nun die SVP die einzige Partei ist, die sich uneingeschränkt freut. So grenzenlos, dass Nationalrat Roger Köppel dem Bundesrat mit Häme ein Kränzchen windet. Hier die wehrhaften Schweizerinnen, dort die fremden Vögte. Das Rahmenabkommen als Gesslers Hut in staatsrechtlicher Gestalt. Stolze Schweiz, schöne Schweiz. Nur die einzigartig Starken ertragen Einsamkeit.
Noch Wochen später erhellen Höhenfeuer die Bergmassive. Mit allem, was der Tell-Mythos hergibt, inszeniert die SVP ihren Siegestaumel.
«Ein diplomatisches Versagen»
Wer ist dieser Cottier, der all das nicht akzeptieren will? Der nun sagt, was der Bundesrat getan habe, «das geit nid»?
Der 71-Jährige mit dem Dialekt eines Marktfahrers aus Interlaken führte einst für die Schweiz Verhandlungen mit der Welthandelsorganisation WTO, leitete zahlreiche internationale Schiedsverfahren und war Gründer und Direktor des World Trade Institute der Universität Bern. Wissenschaftlich befasste er sich unter anderem mit «verfassungsrechtlichen Fragen des transnationalen Föderalismus und der Integration». Gerade veröffentlichte er mit Historiker André Holenstein das Buch «Die Souveränität der Schweiz in Europa. Mythen, Realitäten und Wandel».
Thomas Cottier ist eine Instanz in der Schweizer Rechtslehre. Bis 2015 lehrte er Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern. Er präsidiert auch die Vereinigung «Die Schweiz in Europa»: eine progressive Speerspitze der Schweizer Europapolitik. Gegründet als Reaktion auf das Schweizer Ja zur Masseneinwanderungsinitiative 2014, beschreibt sie sich als «Vereinigung für eine breit angelegte und verantwortungsvolle Debatte über die Beziehungen Schweiz - EU».
Cottier ist ein Mann vom Fach, aber auch ein Bürger mit Haltung. Manche sehen ihn als letzten Europäer unter den Schweizer Rechtsgelehrten, für andere ist er ein Ideologe.
Seine Schlüsse sind auf jeden Fall unzweideutig: Der Bundesrat hätte ohne Zustimmung des Parlaments die Verhandlungen mit der EU nicht abbrechen dürfen, schreibt er in einem Gutachten, das im Fachmagazin «Jusletter» veröffentlicht wurde. Das Vorgehen des Bundesrats zum Rahmenabkommen sei «ein diplomatisches Versagen».
Herr Cottier, Ihnen passe der Entscheid des Bundesrats ideologisch nicht, sagen Ihre Kritiker. Mit Verfassungsrecht habe Ihre Einschätzung nichts zu tun.
Ob es richtig oder falsch war, diese Verhandlungen abzubrechen, ist eine politische Beurteilung. Man kann hier unterschiedlicher Auffassung sein. Verfassungsrechtlich aber stellt sich die Frage, ob der Bundesrat dies im Alleingang hätte tun dürfen. Da bin ich zum Schluss gekommen, dass das nicht zutrifft. Das ist keine ideologische Frage, sondern eine Frage des schweizerischen Verfassungsrechts zur Stellung des Parlaments in Grundentscheidungen der Aussenpolitik. Aussen- und Innenpolitik lassen sich heute gerade auch in wirtschaftsrechtlichen Fragen nicht mehr voneinander trennen. Es geht hier letztlich um Grundfragen der Demokratie und der Verantwortung der gewählten Volksvertretung. Und es geht mit Blick auf Referenden auch um die Rechte des Volkes in aussenpolitischen Grundentscheidungen des Landes.
Was ist Ihr Antrieb, wenn nicht Ideologie?
Ich bin in erster Linie Bürger dieses Landes. Mir geht es darum, dass meine Enkelkinder in der Schweiz ein gutes Leben werden führen können. Das ist mein Antrieb. Man bezeichnet uns immer als EU-Freunde. In Wirklichkeit sind wir Patrioten. Aus dieser Sicht war der Abbruch der Verhandlungen klarerweise ein Fehler, sowohl der Diplomatie wegen wie auch inhaltlich.
Werden Ihre fünf Enkel ohne EU-Rahmenvertrag ein schlechteres Leben führen?
Noch sind sie zu jung, als dass man mit ihnen über den Rahmenvertrag debattieren könnte. (lacht) Aber im Ernst: Die Chancen künftiger Generationen in der Schweiz werden wesentlich durch unser Verhältnis zur Europäischen Union bestimmt, und die EU wiederum durch ihr Verhältnis zur Welt. Was die erwähnten Generationen betrifft, gilt das für ihre Arbeitsplätze in der Schweiz, aber auch für ihre Möglichkeiten in den Nachbarstaaten. Und diese Möglichkeiten wiederum hängen wesentlich von den institutionellen Vereinbarungen ab, die heute mit Ausnahme von Schengen/Dublin bei den anderen rund 120 Verträgen fehlen.
Wie wollen Sie dem Rahmenvertrag wieder Leben einhauchen?
Das Parlament müsste dem Bundesrat sagen, ob es die Verhandlungen tatsächlich abbrechen will oder nicht. Wenn nicht, muss der Bundesrat mit einem angepassten Mandat verhandeln, den Vertrag unterzeichnen, eine Botschaft schreiben und diese ins Parlament bringen. Dann wird der Vertrag dem Referendum unterstellt, und es gäbe vermutlich eine Volksabstimmung. So ginge direkte Demokratie. Wir wissen nicht, was dabei herauskommen wird. Aber man würde dem Parlament und dem Volk den demokratischen Entscheidungsprozess nicht vorenthalten. Das ist nun leider geschehen. Laut Verfassung «beteiligt sich die Bundesversammlung an der Gestaltung der Aussenpolitik und beaufsichtigt die Pflege der Beziehungen zum Ausland». Diese Bestimmung geht weit über die Konsultationspflicht hinaus.
Vergessen Sie es, Herr Kollege
In Bundesbern ist man uneins zu dieser Einschätzung. Beflügelt fühlt sich SP-Nationalrat Eric Nussbaumer. Für den Baselbieter Aussenpolitiker ist Cottiers Studie Wasser auf seine Mühlen. «Cottier hat absolut recht», sagt er. Der Abbruchentscheid des Bundesrats sei verfassungswidrig gewesen. «Es braucht eine Korrektur.»
Nussbaumer ist Präsident der Neuen Europäischen Bewegung, der Vereinigung der EU-Freunde in Bundesbern. Jüngst konnte er einen Erfolg verbuchen: Er brachte eine Initiative durch die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats, welche die Schweiz auf dem Gesetzesweg zurück an den Verhandlungstisch mit der EU zwingen will. Im vorgeschlagenen Text werden explizit «Verhandlungen über den Abschluss eines Abkommens zur Klärung der institutionellen Fragen» gefordert.
Kann man also einfach so auf den Entscheid zurückkommen, wie Thomas Cottier das in seinem Gutachten fordert?
Man könnte. Aber wer will? Die juristische Argumentation, auf die sich der Vorwurf des Verfassungsbruchs stützt, haucht dem Rahmenabkommen realpolitisch kein neues Leben ein. In Bern findet sich kaum eine Mehrheit, die im Rechtsgutachten Cottiers etwas schweizerisch-verträglich Machbares sieht.
Führende Aussenpolitiker im Ständerat schütteln denn auch den Kopf ob Cottiers Vorwurf. Selbst Freisinnige. Der Ostschweizer Rechtsanwalt Andrea Caroni sagt: «Aussenpolitik ist primär Sache des Bundesrats.» Die Rolle des Parlaments sei klar definiert und beschränke sich – neben Informations- und Konsultationsrechten sowie der Möglichkeit zu Vorstössen mit eingeschränkter direkter Verbindlichkeit – auf die Genehmigung des Abschlusses, der Änderung und der Kündigung von Verträgen.
«Es wäre in der Praxis nicht zu handhaben, wenn der Bundesrat die Nicht-Paraphierung oder das Nicht-Verhandeln von Verträgen zur Genehmigung unterbreiten müsste», sagt Caroni. «Dann müsste er logisch gesehen jede Sekunde sämtliche Staatsverträge der Schweiz, die er gerade nicht verhandelt oder zwar verhandelt, aber noch nicht paraphiert, zur Genehmigung des Nicht-Tuns unterbreiten.»
So weit, so kompliziert. Trotzdem wird klar, was Caroni meint: Vergessen Sie es, Herr Kollege.
«Too big to fail»
Cottier entgegnet, die Mitbestimmung des Parlaments beschränke sich auf Grundfragen. Und das Rahmenabkommen sei «too big to fail». Also derart fundamental wichtig, dass mit dem Abbruch der Verhandlungen die «grundlegende Ausrichtung der Schweiz zu Europa» neu definiert werde. Darum dürfe der Bundesrat nicht im Alleingang darüber entscheiden.
Auch hier winkt Caroni ab: Die Kommissionen seien konsultiert worden, «ich war stundenlang dabei». Konsultation heisse per Definition nicht Mitbestimmung. «Selbstverständlich darf der Konsultierende einen eigenen, auch anderen Entscheid fällen.»
Für Cottier ist es «interessant, wie unsere gewählten Parlamentarier die Verfassung lesen». Aus seiner Sicht «besteht also wirklich die Gefahr, dass sie sich aus der Verantwortung stehlen». Er klingt empört.
Cottier ist überzeugt, dass der Bundesrat das Vertragswerk eigenhändig hat beerdigen wollen, nicht mit Parlament oder Volk als Totengräber. Diese These wird vor allem von der linken, EU-freundlichen Seite im Bundeshaus geteilt. Sie geht so: Der Bundesrat habe der neuen Unterhändlerin Livia Leu das Verhandlungsmandat derart eng vorgegeben, «um das Abkommen im Grundsatz zu eliminieren». So hat die Regierung, laut Cottier, eine «dem Brexit vergleichbare Verfassungskrise» ausgelöst.
Heute stehe die Schweiz aussenpolitisch in einer, historisch betrachtet, sehr schwachen Position da, sagt Cottier im Gespräch mit der Republik. Das habe nicht primär mit dem Bundesrat zu tun, sondern mit der Spaltung der grossen Parteien.
Tatsächlich ist die Parteizugehörigkeit im EU-Dossier längst kein verlässlicher Anhaltspunkt mehr. Das gilt auch für die Linksparteien. Selbst die SP-Co-Spitze Mattea Meyer und Cédric Wermuth folgt der Argumentation des gewerkschaftlichen Rahmenabkommen-Co-Bestatters Daniel Lampart.
«Das Land weiss nicht, wo es hinwill», sagt Thomas Cottier. Oftmals in der Geschichte habe das Ausland in solchen Zeiten den Schweizern (die Schweizerinnen hatten da nichts zu bestellen) gesagt, wo der Bartli den Most holt. Er erwähnt, als eines von mehreren Beispielen, den Wiener Kongress von 1815. Der ist genauso wenig auf Schweizer Mist gewachsen wie die bewaffnete Neutralität oder die Gleichstellung der Kantone. Auch wenn die Nationalkonservativen um Christoph Blochers SVP das Märchen der weltunabhängigen Schweiz seit Jahrzehnten kolportieren. Für Cottier ist klar: «Wir müssen dieses Mantra endlich überwinden.»
Herr Cottier, Sie sprechen sich seit dreissig Jahren für den EU-Beitritt der Schweiz aus. Wollten Sie Ihre Meinung nie ändern?
Der EU-Beitritt ist noch immer ein logischer Schritt, unsere Interessen in Europa und geopolitisch zu wahren. Er baut auf den bewährten Traditionen und Erfahrungen des eigenen Föderalismus auf und hilft, die heute anstehenden Herausforderungen wie diejenigen der Energieversorgung und des Klimaschutzes zu bewältigen. Das alles braucht einen europäischen Rahmen. Europa kann seine Kultur und Interessen in der Welt nur vereint einbringen und verteidigen. Und die Schweiz kann sich nur als Mitglied voll einbringen und mitbestimmen. Sie braucht dazu ein neues Narrativ.
Welches?
Wir müssen unsere Souveränität anders sehen und die Wohlfahrt, die Mitsprache und die Mitbestimmungen in ihr Zentrum rücken. Souverän ist, wer mitentscheidet, und nicht, wer abseits steht. Der Bundesrat sagt nach dem Verhandlungsabbruch, wir müssten uns nun halt erst recht dem Europarecht anpassen. Das tun wir seit 1988. Wir sind nicht am Tisch, wenn die Gesetze ausgehandelt werden. Die grossen Linien werden ohne uns vorgegeben. Das empfinde ich nach wie vor als falsch. Es untergräbt langfristig die Demokratie.
Cottier hofft nun auf die verbliebenen EU-Freunde unter den Sozialdemokratinnen. Mit der geplanten Initiative aus der Aussenpolitischen Kommission soll «endlich eine neue Debatte über das Schweizer Verhältnis zu Europa eingeleitet werden».
Darum appelliert der Wirtschaftsrechtler an die «linken Kräfte dieses Landes». Diese müssten die Debatte über die Schweizer Aussenpolitik endlich wieder mitgestalten und sich aus dem Würgegriff der Sozialpartner lösen. «Ich sage es nicht gern, aber die Gewerkschaften sind nationalkonservativ und längst bei der SVP zu Hause.» Der Bundesrat habe die zentralen Fragen zum Rahmenabkommen an die Sozialpartner delegiert und seine politische Verantwortung nicht wahrgenommen. «Darum braucht es nun eine neue Debatte. Die Linke muss einen aktiven Beitrag leisten.»
Weg mit dem Gesslerhut und der verklärenden Erzählung der widerspenstigen Schweizer: geschenkt. Her mit einem demokratisch legitimierten Verhältnis zur EU und einer linken Europapolitik, die sich von den Gewerkschaften emanzipiert: Cottier pocht auf das, was gemäss seiner Expertise Recht ist, und hofft auf das, was laut seiner Überzeugung recht ist.