Der Drucker hat sie verraten

Reality Winner enthüllte, wie sich Russland in die US-Wahlen einmischen wollte. Was viele als Patriotismus feiern würden, verfolgte die amerikanische Regierung als Spionage. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Whistleblowerin.

Von Adrienne Fichter, 27.07.2021

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Das Gefängnis durfte sie verlassen, die elektronische Fussfessel sorgt weiter für die totale Überwachung rund um die Uhr: Reality Winner in ihrem Elternhaus. Christopher Lee/Redux/laif

Wenn in Europa von Whistle­blowern die Rede ist, denen in den USA wegen Verletzung des sogenannten «Espionage Act» drakonische Strafen drohen, dann geht es meistens um zwei Männer: Edward Snowden und Julian Assange.

Die wenigsten hingegen kennen die Geschichte der 29-jährigen Reality Winner.

Die Amerikanerin arbeitete für den US-Nachrichten­dienst NSA und gab 2017 geheim­dienstliche Informationen an das Magazin «The Intercept» weiter. Dafür wurde sie 2018 zu 5 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilt. Vor einigen Wochen ist Winner vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden. Sie muss im Hausarrest verbleiben, eine elektronische Fussfessel tragen und wird von einer App auf ihrem Smart­phone geortet und überwacht.

Reality Winners Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

Nicht nur aufgrund des Umstands, dass sie eine Frau ist. Sondern auch wegen ihrer Biografie, die so ganz anders ist als die einer klassischen Whistle­blowerin. Und aufgrund des Umstands, dass sie gar nie eine Whistle­blowerin werden wollte. Wie sie es selbst im Verhör ausdrückte: «Ich habe nicht versucht, Snowden zu sein.»

Was Reality Winner stattdessen wollte: aufzeigen, dass russische Geheim­dienste 2016 Einfluss auf die US-Wahlen zu nehmen versuchten – eigentlich, würde man meinen, ein patriotischer Akt.

1. Die Person

Reality Winners Familie beschreibt sie als sehr intelligent, offenherzig und wohltätig engagiert: Habseligkeiten und Materielles seien ihr nicht wichtig. Sie habe beispiels­weise Schuh­schachteln voller Geschenke nach Afghanistan geschickt, vor allem für Kinder. Als Teenager habe sie bergeweise Bücher gelesen und mit Bestnoten geglänzt. Die Idee für ihren speziellen Namen stammt von ihrem Vater: Er wünschte sich a real winner (eine echte Gewinnerin). So erzählt es ihre Mutter im neuen Dokumentar­­film der deutschen Regisseurin Sonia Kennebeck: «United States vs. Reality Winner».

Winner entschied sich für eine Karriere beim Militär. Das habe mit ihrer eigenen Art von Humanismus zu tun, sagt die Journalistin Kerry Howley, die Winners Geschichte für das «New York Magazine» aufgeschrieben hat. Der Terror­anschlag von 9/11 sei ihr als Kind so eingefahren, dass sie sich danach selbst Arabisch beigebracht habe.

Doch Winners Verhältnis zu Amerika war zwiespältig und sollte – was typisch amerikanisch ist – später im Gerichts­verfahren gegen sie immer wieder thematisiert werden. So soll sie in einem Facebook-Chat an ihre Schwester geschrieben haben: «Schau, ich sage nur, dass ich Amerika circa dreimal pro Tag hasse (…) Ich bin nicht radikal. Es geht mir im Wesentlichen um die Obsession der Amerikaner mit ihren Klima­anlagen.» Ihre Schwester fragte sie darauf: «Aber du hasst Amerika nicht wirklich, oder?» Winners Antwort: «Doch, tue ich, es ist das Übelste, was man diesem Planeten antun kann. Wir haben den Kapitalismus erfunden und den Unter­gang der Umwelt.»

Thematisiert wurde vor Gericht auch ein Satz aus ihrem Tagebuch aus der Zeit nach der Wahl von Donald Trump: «Ich glaube, ich möchte das Weisse Haus nieder­brennen.» Es sind Moment­aufnahmen und Sätze, wie sie wohl Millionen von enttäuschten und wütenden Wählerinnen auf Social Media geäussert haben, ohne sie wirklich ernst zu meinen.

Reality Winner wurden sie von der Justiz als Amerika-Hass und Anti­patriotismus ausgelegt.

«Sie diente ihrem Land jahrelang», sagte ihre Mutter im Dokumentar­film, «wie kann man sie als Verräterin verunglimpfen?»

In das Profil einer Geheimdienst­mitarbeiterin mag Winner also nicht so recht passen: Sie unterrichtete Yoga neben ihrem Hauptjob, sie ist der natur­liebende Typ, mag Tiere und setzte sich für strengere Waffen­gesetze ein. Und wer mit ihrer Familie spricht und anderswo über sie recherchiert, merkt rasch: Reality Winner hat ihren eigenen schrägen Sinn für Humor.

Während eines Verhörs mit dem FBI erwähnte sie mehrfach, dass ihre beiden Haustiere keine Männer mögen würden. Und zwar weder die Katze noch der Hund. Reality Winner: «Ich stelle hier einen gewissen Trend fest.» Eine Aussage, die selbst die Beamten zum Lachen brachte.

2. Der Zwischenjob

Reality Leigh Winner begann ihre Arbeit als Dienst­leisterin des US-Auslands­geheim­dienstes NSA Mitte Februar 2017.

Für Winner war das eine Übergangs­lösung. Nach sechs Jahren Dienst bei der US-Luftwaffe als kryptologische Sprach­analystin wollte sie eigentlich nach Afghanistan verlegt werden. «Um den Schaden zu reparieren, den der islamistische Terror da verursacht hat», wie ihre Schwester Brittany Winner der Republik erzählt.

Weil es aber mit der gewünschten Verlegung nach Afghanistan nicht geklappt hatte, nahm Winner einen neuen Job an, bei einem Subunternehmen der NSA namens Pluribus International – eine Arbeit, für die sie sich wegen ihrer hervor­ragenden Sprach­kenntnisse qualifiziert hatte.

Winner beherrscht die drei Sprachen Farsi, Dari und Paschtu – was von einer ausser­gewöhnlichen Sprach­begabung zeugt, wie die Journalistin Kerry Howley sagt. Howley hatte für ihr Porträt im «New York Magazine» mit Winners ehemaligen Arbeits­kolleginnen gesprochen: Alle attestierten der Sprach­wissenschaftlerin exzellente Fähigkeiten in ihrem Beruf.

Doch Winner plagten bei ihrem Job von Anfang an massive Gewissens­bisse. Ihr Auftrag lautete etwa, Gespräche in Pakistan abzuhören und zu transkribieren. Diese Transkripte bildeten die Grundlage für Drohnen­angriffe. «Puff», wie sie es in ihren Notizen mal beschrieb. «Puff» – und schon sind Menschen per Knopf­druck ausgelöscht.

Diese Zweifel und die hohe Belastung waren die Haupt­gründe, weshalb Winner ihren Job als temporär betrachtete. Denn ihr eigentlicher Wunsch war nach wie vor: in Krisen­staaten zu reisen und der Zivil­bevölkerung bei der Aufbau­arbeit zu helfen.

3. Der laute Präsident

Als Winner bei Pluribus International zu arbeiten begann, war US-Präsident Donald Trump gerade ein paar Wochen im Amt.

Winners Mutter Billie Winner-Davis sagt zur Republik: «Die Wahl von Donald Trump war für uns erschütternd. Wir fühlten, dass dies Schlechtes bedeutet für die USA.» Reality Winner machte aus ihrer Abneigung gegenüber dem neuen US-Präsidenten keinen Hehl. Nach seiner Wahl twitterte sie regelmässig unter dem Benutzer­konto «Sara Winners» gegen den Präsidenten an und benutzte dazu den Hashtag #notmypresident. Einmal nannte sie ihn gar einen orangen Faschisten.

Beinahe täglich machte die mutmassliche Einfluss­nahme Russlands im US-Wahlkampf zu der Zeit Schlagzeilen. Einiges war bereits dokumentiert: Im September 2016 – also mitten im US-Wahlkampf – bemerkten Kongress­mitglieder erstmals Angriffe auf ihre Mailkonten, das Department of Homeland Security bestätigte diese bereits im Oktober 2016. Doch über das ganze Ausmass wusste man noch wenig.

Als der damalige FBI-Direktor James Comey eine Untersuchung dazu ankündigte, geriet er beim neuen Präsidenten in Ungnade.

Im Frühjahr 2017 wurde das Thema der russischen Einmischung in die Wahlen zum Dauer­brenner in den Büros des Whitelaw Building in Augusta, Georgia: Winners Arbeitsort. Über die Bildschirme flimmerten tagein, tagaus dieselben Bilder. Fix eingestellt: der konservative Sender «Fox News», der die junge Amerikanerin laut eigenen Aussagen an den Rand der Verzweiflung trieb. Sie legte sogar eine Beschwerde bei ihrem Arbeit­geber ein und verlangte, dass der Sender ausgeschaltet werde – erfolglos.

Eines Tages – zwischen dem 5. und dem 9. Mai 2017 – stiess Winner bei ihrer täglichen Lektüre auf ein bemerkens­wertes Geheim­dokument. Es war abgespeichert im Intranet der Regierung, dem sogenannten Joint Worldwide Intelligence Communications System. Datiert war das fünfseitige Dokument auf den 5. Mai. Der Inhalt: Russische Geheim­dienst­mitarbeiter versuchten, Informationen «über die bei der Wahl eingesetzte Hard- und Software zu erlangen». Ziel der Attacke waren Lieferanten von US-Wahlsoftware, deren Programme zur Wähler­registrierung eingesetzt wurden.

Das Dokument belegte die Manipulations­versuche des russischen Geheim­diensts: Mit dem Absender noreplyautomaticservice@gmail.com erhielten Mitarbeiterinnen der betroffenen Software­firmen eine gefälschte Google-E-Mail, der darin enthaltene Link enthielt Schad­software. Ausserdem gaben sich die Russen über die kreierte Mail vr.election@gmail.com selbst als Mitarbeiter von Wahl­software-Firmen aus, schrieben bis zu 122 Wahlbüros an und hängten dabei zwei infizierte Dokumente mit an.

Bei der Methode handelt es sich um klassisches Spear-Phishing: Dabei verschicken Kriminelle eine perfekt auf die Zielperson zugeschnittene E-Mail, die diese zum Klicken animieren soll. Ob die Operation des russischen Geheim­diensts erfolgreich war und die Empfängerinnen darauf herein­gefallen sind, bleibt bis heute unklar. Im Intranet-Dokument ist die Rede von mindestens einem infizierten Benutzerkonto.

Winner war nach dem Lesen aufgewühlt, wusste nicht, was sie mit diesen Informationen anfangen sollte. Präsident Trump sprach von einer «Hexenjagd» der Demokraten gegen ihn und deklassierte alle Hinweise zu den Wahl­manipulationen aus Russland als «Scherz».

Was der US-Geheimdienst schrieb, widersprach den im Fernsehen eingeblendeten Schlag­zeilen diametral. Weshalb hielt der Geheim­dienst dieses Material zurück? Warum sprach niemand über diese Wahl­manipulationen in der Öffentlichkeit? Wieso reagierten ihre Kolleginnen nicht, die gleich neben ihr sassen?

Das war der Anlass für ihr Leaking, zumindest legt es so ein Auszug aus dem FBI-Verhör nahe:

Winner: Nein. Ich wollte kein – ich wollte kein Snowden oder so sein.

FBI-Mann 1: Und das haben – ich glaube auch nicht, dass Sie das wollten. Das glaube ich wirklich nicht. Und das … aber, ähm, ich – ich glaube, Sie haben einen Fehler gemacht. Aber ich glaube, niemand von uns denkt, dass Sie ein Snowden sein wollten.

Winner: Nein, es war nur dieses eine Dokument (…)

FBI-Mann 1: Richtig. Mhm.

Winner: Der Beweis, dass – wissen Sie. Und ich glaube, deswegen war es einfach schwierig bei der Arbeit. Und ich – ich habe offiziell Beschwerde eingelegt, weil immer Fox News lief, wissen Sie? Äh, um Gottes willen, stellt doch wenigstens al-Jazeera an oder eine Slideshow mit den Haustieren der Leute. Ich habe alles versucht, um das zu ändern.

FBI-Mann 1: Das wäre wahrscheinlich eine gute Sache. Leider kommt es nicht drauf an, welche Seite man schaut, ich finde die alle (lacht) ziemlich schlecht.

(…)

FBI-Mann 1: Die Haustiere wären wohl die beste Lösung.

Winner: Die Haustiere wären super gewesen.

Sie versucht, ihr Leben neu zu sortieren: In vier Monaten ist die Whistleblowerin für drei Jahre «frei auf Bewährung». Christopher Lee/Redux/laif

4. Die Tat

Der 9. Mai war der Tag, an dem Präsident Trump den FBI-Direktor James Comey feuerte. Und es war auch der Tag, an dem Reality Winner einen verhängnis­vollen Entschluss fasste (ob sie es vor oder nach dem Bekannt­werden von Comeys Entlassung tat, ist unklar).

Um 6.20 Uhr druckte sie das Intranet-Dokument aus. Sie faltete es zusammen, steckte es in ihre Strumpf­hose und schmuggelte es aus dem Gebäude hinaus.

Gemäss Protokoll des FBI-Verhörs liess Winner das ausgedruckte Papier noch etwa drei Tage lang zu Hause herum­liegen. Dann steckte sie es in einen Umschlag, klebte eine Briefmarke drauf und verschickte es anonym an die Adresse des investigativen Magazins «The Intercept».

Die meisten Menschen würden dieses Vorgehen als sehr vorsichtig einschätzen. Papier ist anonym, nichts deutet auf die Absenderin hin. Man könnte meinen: Papier ist sicherer als digitale unlöschbare Spuren. Doch auch bedrucktes Papier kann verräterische Metadaten enthalten.

Was Reality Winner zum Verhängnis wurde, war der Drucker.

5. Die Fehler

Dass Winner die Unterlagen an das Magazin «The Intercept» schickte, kann mehrere Gründe haben. So gehören der Journalist Glenn Greenwald und die Dokumentar­filmerin Laura Poitras zu dessen Gründerinnen. Beide sind berühmt aufgrund der Enthüllungen des Whistle­blowers Edward Snowden. Vielleicht vertraute Winner auf ihre Expertise.

Eine andere These vertritt die «New York Times»: Winner habe eine Podcast­folge von Glenn Greenwald gehört, die sie «getriggert» haben soll. Darin äusserte Greenwald Zweifel daran, dass Russland versucht habe, die Wahlen zu manipulieren. Das Ganze sei sehr weit hergeholt und aufgebauscht – dies wiederholte er später gegenüber «New York Times»-Reporter Ben Smith. Winner soll am 30. März 2017 von ihrem privaten E-Mail-Konto eine Nachricht an «The Intercept» verschickt haben, in der sie um das Transkript der Podcast­folge bat.

Doch das investigative Magazin handhabte den Fall höchst dilettantisch. Beim Überprüfen der Echtheit der NSA-Dokumente begingen die Reporter schwer­wiegende Fehler.

Die «New York Times» hat die Recherche rekonstruiert. Glenn Greenwald weilte zu jenem Zeitpunkt in Brasilien. Er hörte vom eingetroffenen NSA-Dokument, zeigte aber keinerlei Interesse an der Geschichte. Die Chefredaktorin Betsy Reed entschied, das NSA-Dokument den beiden Reportern Matthew Cole und Richard Esposito zu übergeben. Die beiden Journalisten arbeiteten auf eigene Faust und ohne Betreuung weiter. Sie ignorierten dabei das gängige Sicherheits­prozedere: So involvierten sie etwa nicht wie üblich das erfahrene Security-Team in ihre Recherche. Die Sicherheits­spezialistin Erinn Clark, die nicht konsultiert wurde, kritisiert das im Nachhinein scharf: «Wenn du ein Dokument erhältst, das angeblich von der NSA stammen soll, sollten bei dir sofort die lautesten Alarm­glocken läuten.» Mit so was solle man unverzüglich in einen abgesicherten Raum gehen und sich dann an die hauseigenen Redaktoren wenden.

Wie Gerichtsdokumente zeigen, steckte Reporter Matthew Cole das Dokument stattdessen in seine Aktentasche, traf einen Kontakt­mann eines NSA-Dienst­leisters und bat diesen, die Echtheit zu bestätigen. Auf die Frage des Kontakt­manns, woher das Dokument stamme, sagte Cole, es sei per Post gekommen, versehen mit einem Poststempel «Augusta, Georgia». Die Kontakt­person vermutete, so sagte es der Reporter später, dass das Dokument von einem NSA-Auftrag­nehmer stammen musste.

Cole reiste daraufhin zurück nach New York City in die Redaktions­räume, zufrieden in der Gewissheit, ein echtes Dokument zu haben. Am 5. Juni veröffentlichte «The Intercept» den Scoop, samt Original­dokument als Beweis.

Doch der Kontaktmann hatte ein doppeltes Spiel gespielt: Er informierte die Geheim­dienste über seine Unterhaltung mit dem Journalisten.

Damit war Reality Winner geliefert.

6. Die digitalen Spuren

Der Sicherheitsforscher Robert Graham zeigte in einem Blogbeitrag Schritt für Schritt auf, wie er dank dem «Intercept»-Artikel nicht nur heraus­finden konnte, um welche Uhrzeit, sondern auch, auf welchem Modell das Dokument ausgedruckt wurde: auf einem Xerox-Drucker mit Modell­nummer 54, Serien­nummer 29535218. Möglich war dies, weil jedes gedruckte Papier einen heimlichen Code aus gelben Punkten enthält, sogenannte Drucker-Wasserzeichen.

Wie eine Liste der Electronic Frontier Foundation zeigt, haben nahezu alle getesteten Farbdrucker­geräte einen entsprechenden Code für die IT-Forensik integriert. Dieser sollte ursprünglich verhindern, dass Banknoten mithilfe von Druckern gefälscht werden. Bekannt wurde dieser Deal zwischen Behörden und Drucker­herstellern im Jahr 2004 – dank einer Recherche von «PC World».

Offenbar wusste das aber weder die NSA-Dienst­leisterin Reality Winner noch der «Intercept»-Journalist Matthew Cole.

Winner hätte auch anders in die Fänge der Geheim­dienste geraten können, mutmasste das «New York»-Magazin. Denn das Online­verzeichnis aller Top-secret-Dokumente im Intranet der Regierung speichert die Verläufe all seiner Nutzerinnen. Es registriert, wer welches Dokument liest und was er damit anstellt: Ergo wäre ein Druck­befehl letzten Endes in irgendeiner Form registriert worden. Die Behörden hätten den Kreis der Verdächtigen relativ bald einschränken können (laut FBI haben 6 Personen das Dokument ausgedruckt).

Ob nun die Versäumnisse von «The Intercept» oder Winners eigene Fehler zu ihrer Verhaftung führten, Fakt ist: Die Behörden wussten von dem geplanten Artikel und seiner Quelle. Am 3. Juni 2017, zwei Tage vor Publikation des «Intercept»-Artikels, standen FBI-Agenten bereits vor Winners Haus.

7. Die Verhaftung

Winner kam am frühen Nachmittag von ihrem Lebensmittel­einkauf zurück. Vor ihrem Haus warteten 11 FBI-Agenten auf sie, mehrere davon bewaffnet. Einige Geheimdienst­mitarbeiter durchsuchten das Haus, 2 bis 3 blieben bei Winner. Es begann ein bizarres, dreistündiges Gespräch, das später vollständig transkribiert und veröffentlicht wurde. Das Transkript liest sich wie ein Drehbuch und inspirierte zu einem Theaterstück.

Die Umstände dieses Verhörs werden von Winners Verteidigung bis heute scharf kritisiert. Sie hatte niemanden zur Seite für rechtlichen Beistand. Ihr wurden keine Rechte verlesen – etwa, dass sie das Recht habe, zu schweigen. Die FBI-Agenten betonten, dass alle ihre Aussagen freiwillig seien – und entlockten ihr damit ein Geständnis, das später vor Gericht gegen sie verwendet wurde.

Die Geheimdienstmitarbeiter gaben sich kumpelhaft, machten Small Talk über Haustiere, Fitness­geräte und Winners Sprachtalent, sichtlich darum bemüht, eine wohlige Atmosphäre zu schaffen. Ein beträchtlicher Teil der ersten Stunde des Verhörs drehte sich um die Frage, wo Winner ihre Katzen und Hunde während des Gesprächs unterbringen solle. Danach verlegte das Grüppchen sein Gespräch wegen der Hitze in die kühlere Waschküche.

Ein FBI-Mann bemerkte, Winner wirke gar nicht überrascht über den Besuch. Sie antwortete mit dem ihr eigenen Humor: «O Gott, ja, ich habe ein resting bitch face, ich dachte einfach, vielleicht gehen sie ja wieder.» Gefragt, ob sie ahne, was der Grund für den FBI-Unter­suchungs­befehl sei, antwortete sie unter anderem: weil ihr Haus online noch zum Vermieten ausgeschrieben sei.

Schritt für Schritt verwickelten die FBI-Mitarbeiter Winner in ein Gespräch und tasteten sich an das eigentliche Thema heran. Aus dem Transkript wird nicht klar, ob Winner sich ahnungslos gab oder es tatsächlich war.

FBI-Mann 2: Also gut. Äh, wissen Sie, worum es hier gehen könnte?

Winner: Ich habe keine Ahnung.

FBI-Mann 2: Okay. Es geht um, äh, möglicherweise unsachgemässen Umgang mit vertraulichen Informationen.

Winner: Oh, du meine Güte. Okay.

Nachdem die Agenten Winner mit ihrer Tat konfrontiert hatten, fragten sie nach ihrem Motiv.

Die Staatsanwälte stellten Winner später im Prozess als kühle, berechnende und gut ausgebildete Analytikerin dar, die aus politischen Motiven heraus gehandelt habe. Dass Reality Winner Monate vor ihrer Tat einen speziellen Browser genutzt hatte, um anonym zu surfen, war ihnen Beweis genug dafür, dass sie ihre Spuren verwischen wollte.

Mit ihrer Mutter sprach Winner nie über ihre Beweg­gründe. Auch ihre Schwester Brittany sagt, sie könne nur spekulieren. Reality sei sehr überzeugt, dass die Öffentlichkeit immer die Fakten kennen müsse: «Sie sah eine Gelegenheit, um die Erzählung der Medien zu korrigieren.»

Eine Stelle im Verhörprotokoll bestätigt diese Vermutung. Es ist der emotionalste Moment im Gespräch.

FBI-Mann 2: (seufzt) Okay. Gibt es noch irgendetwas anderes, was Sie mir erzählen wollen? Sag? Über das Warum sprechen?

Winner: Nein, es war einfach … ja, einfach dieser – dieser Tag – diese Woche, es war einfach zu viel und einfach da sitzen bleiben und zuschauen und denken, wieso soll ich diese Arbeit machen, wenn ich einfach da sitze und hilflos bin und, wissen Sie, es war – es war einfach (…) Ich fand einfach, dass das das Fass zum Überlaufen brachte.

FBI-Mann 2: Gab es etwas, was – was das irgendwie einfach (Fingerschnippen) auslöste?

FBI-Mann 2: Weil Sie nicht wie der Typ wirken, der so etwas tun würde. Das glaube ich. Ich will das glauben.

Winner: (…) Der bin ich nicht. Ich – ich will – ich will mit unseren Spezialeinheiten rausgehen. Deshalb habe ich die Luftwaffe verlassen. Ich meine, deshalb bin ich hier in Augusta. (…) Es war einfach – es war einfach – ich fühlte mich wirklich hoffnungslos und, äh, als ich diese Informationen sah, die so lange bestritten wurden, so lange hin und her und hin und her in der Öffentlichkeit, versuchte ich herauszufinden, mit allem anderen, was dauernd veröffentlicht wird und geleakt wird – wieso wird das nicht, wieso ist das nicht draussen? Wieso kann das nicht öffentlich sein?

Der kurze Zeitraum zwischen dem 5. und dem 9. Mai, der anhaltende Strom des Fernseh­senders «Fox News» und auch der Tod ihres Vaters, der Reality enorm aufwühlte – all dies deutet darauf hin, dass die junge Amerikanerin nicht von langer Hand geplant hatte, das Dokument zu leaken. Dass sie zwar aus Überzeugung gehandelt hatte, aber auch kurzfristig und aus einem Impuls heraus.

Um 17.17 Uhr endete das FBI-Verhör. Reality Winner wurde verhaftet.

Die «Intercept»-Redaktion, die immer noch zum Fall recherchierte, hörte von der Verhaftung. Zwei Tage später erschien der Artikel mit dem Titel: «Top-Secret NSA Report Details Russian Hacking Effort Days Before 2016 Election».

Reality Winner verlässt nach dem Schuldspruch am 23. August 2018 das Gerichtsgebäude in Augusta, Georgia. Bob Andres/Atlanta Journal-Constitution/TNS/picture alliance

8. Die Strafe

Ein Gericht verurteilte Winner am 23. August 2018 zu 5 Jahren und 3 Monaten Haft. Es ist die bis dato längste Strafe für die unautorisierte Weiter­gabe von geheim­dienstlichen Informationen an Medien.

Man wolle an ihr ein Exempel statuieren für weitere Whistle­blower, sagte der Staats­anwalt Bobby Christine in seinem Statement zum Schuld­spruch. «Der Staats­anwalt verkündete das so ohne jegliches Schamgefühl», erinnert sich Edward Snowden im Dokumentarfilm «United States vs. Reality Winner». In jenem Moment habe er sich sehr geschämt, Amerikaner zu sein.

Nach dem Gerichtsurteil wurde es ruhig um Reality Winner. Bald beschäftigten sich die Medien mit anderem; mit dem «Trump-Zirkus», wie es Winners Mutter nennt. Die Familie baute schliesslich dank Social Media einen Unterstützer­kreis auf und kreierte den Hashtag #FreeReality. «Mithilfe von Facebook und Twitter konnte ich dafür sorgen, dass ihr Name in der Öffentlichkeit nicht vergessen geht», sagt ihre Mutter.

Julian Assange und Edward Snowden sprachen sich immer wieder lautstark für die inhaftierte Whistle­blowerin aus. Unter­stützung gab es auch aus Europa, etwa von «Reporter ohne Grenzen» oder vom Whistle­blower-Verbund «The Signals Network». Es meldeten sich Journalistinnen, Drehbuch­autorinnen und Filme­macherinnen aus aller Welt bei der Familie. Was auffällt: Es waren vor allem Frauen, die sich für Reality Winners Geschichte interessierten.

Als Reality Winner nach vier Jahren verbüsster Haft im Juni dieses Jahres freikam – offiziell wegen «guter Führung» –, reiste die Familie frühmorgens mit dem Auto an. «Wir waren zu früh da, mussten dann nochmals eine Stunde warten», erzählt ihre Mutter der Republik. «Und dann, um 9 Uhr morgens, als Reality ihre Schwester Brittany mit dem Baby sah, gab es kein Halten mehr. Dieser Moment war unbeschreiblich.» Nach einer Woche in einem Resozialisierungs­zentrum zog Reality Winner endgültig zurück ins Haus ihrer Familie.

Ende gut, alles gut?

9. Persona non grata

Der «Espionage Act» war ursprünglich 1917 vom Parlament verabschiedet worden, um die Einmischung in militärische Operationen unter Strafe zu stellen oder Ungehorsam im Militär zu verhindern. Doch seither – besonders seit dem Terror­anschlag von 2001 – wird das Gesetz umgedeutet und gern als Mittel für die Jagd auf Whistle­blower genutzt.

Dieses Gesetz kennt keine mildernden Umstände oder Rechtfertigungs­gründe. Auch nicht, wenn sie den legitimen politischen Interessen des Landes dienen würden. So wirkt Winners hohes Strafmass spätestens dann absurd, als der Sonder­ermittler Robert Mueller 2019 seinen Bericht über die versuchte russische Einfluss­nahme auf die Wahlen zugunsten von Donald Trump veröffentlichte. Darin schreibt er unter anderem: «Die Spear-Phishing-E-Mails enthielten ein angehängtes Word-Dokument, das mit einer Schadsoftware (allgemein als Trojaner bezeichnet) codiert war, die dem russischen Geheim­dienst den Zugriff auf den infizierten Computer ermöglichte.»

Der Sonder­ermittler selbst bestätigte also Informationen, die Winner zuvor geleakt hatte.

«Sobald jemand in den USA als Whistle­blower verurteilt wird und damit als ‹Verräter› gilt, also als jemand, der aus der Reihe tanzt, wird dies rabiat verfolgt», sagt der Schweizer Uno-Sonderbericht­erstatter für Folter Nils Melzer zur Republik. Und er weist darauf hin, dass in solchen Fällen das Strafmass politisch geprägt sein kann: «Es ist zwar die Justiz, die verurteilt, aber die Staats­anwaltschaft ist von der US-Regierung instruiert.»

Im Fall von Reality Winner war die US-Regierung diejenige von Präsident Donald Trump. Wie hätte sich das Verfahren unter einer allfälligen Präsidentin Hillary Clinton entwickelt?

Melzer macht sich keine Illusionen: «Die Demokraten, allen voran Obama, sind drakonische Verfolger von Whistle­blowern.» Er sagt: Amerikanische Behörden würden Whistleblowerinnen lebenslänglich strafen wollen, ihr Leben zur Hölle machen und sie als Person in der Gesellschaft ausradieren. Die partei­politische Couleur der Regierung spiele dabei nur eine sekundäre Rolle. In der Bevölkerung sei der Glaube weit verbreitet, dass Exekutive und Geheim­dienste gute Gründe hätten, Informationen vor der amerikanischen Bevölkerung zu verbergen.

Dass sich auch die jetzige Administration des Demokraten Joe Biden zum Fall Winner ausschweigt, schmerzt ihre Angehörigen: «Das andauernde Schweigen dieser Regierung kommt einer kontinuierlichen Verurteilung gleich», sagt ihre Mutter. Keine einzige hochrangige Demokratin habe sich bis heute öffentlich hinter Winner gestellt.

Support kam dafür aus unerwarteter Ecke: von J. William Leonard, der unter der Bush-Administration als Direktor des Information Security Oversight Office für die strenge Geheim­haltung von sensiblen Informationen zuständig war. Leonard zollt Winner Tribut. Im Dokumentarfilm von Sonia Kennebeck sagt er, Winners Enthüllungen hätten dazu geführt, dass die US-Wahlen 2020 als die sichersten in die Geschichte eingehen würden.

Die Kampagne der Familie Winner geht derweil weiter: Unter­stützerinnen versuchen unter dem Slogan #ClemencyforReality, Präsident Biden dazu zu bringen, Winner offiziell zu begnadigen. Auch wenn sie mittler­weile nicht mehr im Gefängnis sei, würde ihre Verurteilung sonst lebenslang wie ein Makel an ihr haften und sie in den USA zu einer Persona non grata machen. Winner müsse sich stets als unter dem «Espionage Act» Verurteilte ausweisen und bleibe eine Bürgerin zweiter Klasse.

Während die 29-Jährige nun seit einigen Wochen überwacht bei ihrer Familie lebt und sich von ihrer Haft erholt, sortiert sie ihr Leben neu. Sie bereitet Online-Yogakurse und Fahrrad­trainings vor und beginnt bald einen neuen Teilzeitjob als Rechercheurin für einen Dokumentar­film. Ab November 2021 ist sie 3 Jahre «frei auf Bewährung».

Die Zeit in Haft war offenbar hart. Winner erkrankte im Gefängnis an Covid-19 und hatte Atemnot, sie reichte eine Beschwerde wegen sexueller Übergriffe gegen einen Wärter ein, sie sagt, sie habe an Durst gelitten und gefroren, als in ihrem Gefängnis im Februar 2021 während eines grossen Winter­sturms nichts mehr funktionierte. «Was Reality im Gefängnis erlebt hat, war traumatisch», sagt ihre Schwester zur Republik.

Eines ihrer künftigen Anliegen werde es sein, auf die unmenschlichen Haft­bedingungen in Amerikas Gefängnissen hinzuweisen.

«Sie diente ihrem Land jahrelang, wie kann man sie als Verräterin verunglimpfen?»: Billie Winner-Davis über ihre Tochter Reality. Christopher Lee/Redux/laif

10. Lektionen in Journalismus

Der Fall Reality Winner ist auch ein Fall von grossem Medien­versagen. Das Magazin «The Intercept» hat eine Quelle kompromittiert. Welche Lehren haben die amerikanischen Medien daraus gezogen?

Noch Jahre später wird «The Intercept» für seine Versäumnisse geschmäht. Besonders hart ging die «New York Times» mit ihrer Konkurrentin ins Gericht. Sie sprach von der «grössten journalistischen Katastrophe der jüngeren Vergangenheit». Die grundlegenden Prinzipien des Quellen­schutzes seien missachtet worden.

Dass der Fall zwar redaktionsintern aufgearbeitet wurde, jedoch keine personellen Konsequenzen hatte, entsetzte die «Intercept»-Mitgründerin Laura Poitras. Die fehlende Rechenschafts­pflicht fördere eine Kultur der Straflosigkeit, sagte sie der «New York Times». Poitras wurde später für diese Aussage gefeuert. Greenwald hat «The Intercept» ebenfalls verlassen.

Doch das Magazin hat aus seinen Fehlern auch gelernt. Fragt man die Redaktion heute nach den Erkenntnissen, bekommt man eine ehrliche Antwort. Die Policy von «Intercept» war bisher, wichtige Dokumente stets im Original zu veröffentlichen, wenn es «im öffentlichen Interesse» liegt. Das wichtigste Learning aus dem Fall Winner sei nun: wenn möglich nur noch daraus zitieren, sagt die Chefredaktorin Betsy Reed zur Republik. Und dazu: «Die Authentifizierung von Material, von dem man nicht weiss, wer es uns zugestellt hat, birgt immer Risiken; aber wir bemühen uns, diese Risiken so weit wie möglich zu minimieren.»

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