Woher kam denn nun dieses Coronavirus? Was wir bisher wissen

Ein Laborunfall? Schleichkatzen? Es gibt Spuren – und die geben Anlass zur Sorge.

Von Zeynep Tufekci (Text) und Bernhard Schmid (Übersetzung), 24.07.2021

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Unterstützen auch Sie die Republik mit einem Abo: Einstiegsangebot nur bis 31. März 2024.

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr
Antoine d’Agata/Magnum Photos/Keystone

Die H1N1-Pandemie, auch Russische Grippe genannt, die ab 1977 aus Nordost­asien kommend um die Welt ging, kostete Schätzungen zufolge 700’000 Menschen das Leben. Und sie wies einige merkwürdige Eigenschaften auf. Zum Beispiel befiel sie fast ausschliesslich Menschen Mitte zwanzig – oder jünger. Und das H1N1-Virus war so gut wie identisch mit einem Viren­stamm, der bereits in den 1950er-Jahren grassierte. Wer vorher zur Welt kam, hatte eine schützende Immunität gegen dieses Virus entwickelt, die Jüngeren nicht.

Doch wie in aller Welt hatte dieses Virus genetisch so lange derart stabil bleiben können, wenn Viren doch ständig mutieren?

Wissenschaftlerinnen vermuteten, dass es in einem Labor eingefroren worden war. Bei vielen Stämmen stellte man fest, dass sie temperatur­empfindlich waren, dass sich die Viren bei höheren Temperaturen also nicht replizieren konnten. Im Allgemeinen entsteht diese Eigenschaft durch Manipulationen am Virus, etwa bei der Impfstoff­forschung.

Erst 2004 schrieb der prominente Virologe Peter Palese, dass ihm Chi-Ming Chu, ein renommierter Kollege und ehemaliges Mitglied der Chinesischen Akademie der Wissenschaften, anvertraut habe, man halte «die Verbreitung dieses H1N1-Virus anno 1977» tatsächlich für eine Folge von Experimenten mit Impfstoffen; man habe, um diese zu testen, «Tausende von Rekruten des chinesischen Militärs mit lebenden H1N1-Viren infiziert».

Erstmals in der Geschichte, so scheint es also, hat die Wissenschaft mit der Absicht, sich auf eine Pandemie vorzubereiten, selber eine Pandemie ausgelöst. Nun drängt sich zum zweiten Mal in fünfzig Jahren dieselbe Frage auf: Geht die aktuelle Pandemie auf wissenschaftliche Forschung zurück?

Aufgrund der Hindernisse, welche die chinesische Regierung bei den Versuchen, diese Frage zu klären, geschaffen hat, können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob Sars-CoV-2 aus der freien Wildbahn kam oder aus einem Labor in Wuhan – und ob dabei vielleicht sogar genetische Experimente mit im Spiel waren. Doch allein das, was wir heute mit Sicherheit sagen können, bietet Anlass zur Sorge.

Jahre der Forschung zur Gefährlichkeit von Corona­viren – von der Geschichte weltweiter Labor­unfälle und -irrtümer ganz zu schweigen – lieferten der Wissenschaft auch vor der Pandemie genügend Gründe dafür, bei der Erforschung dieser Klasse von Pathogenen extreme Vorsicht walten zu lassen. Und doch blieben die Sicherheits­vorkehrungen mangelhaft. Schlimmer noch: Die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in ganz praktische Notfall­vorsorge blieb grösstenteils aus.

Selbst wenn Sars-CoV-2 ohne Zutun der Wissenschaft vom Tier auf den Menschen übergesprungen sein sollte: Das Fundament für ein potenzielles Desaster war schon seit Jahren gelegt.

Knapp an der Katastrophe vorbei

Bis zum Ausbruch der Sars-Pandemie galten Corona­viren als nicht allzu gefährlich, da sie nur harmlose bis mittelschwere Erkältungen verursachten. Selbst fünf Monate nach dem ersten Auftauchen von Sars in Südchina im November 2002 vertuschte die chinesische Regierung die Gefährlichkeit des Sars-Virus, obwohl es sich bereits in andere Länder auszubreiten begann. Im Sommer 2003 war die Pandemie schliesslich eingedämmt, allerdings erst nachdem sich 8000 Menschen infiziert hatten und 774 von ihnen starben. In den Griff bekommen hatten die Behörden Sars, weil die Infizierten sichtlich krank waren. Das machte es leichter, sie zu entdecken und zu isolieren.

Trotzdem fehlte wenig bis zum Desaster, und dass die Sterblichkeits­rate bei etwa 10 Prozent lag, liess die Alarm­glocken schrillen. Die Verhinderung einer nächsten Corona-Pandemie wurde zu einer Priorität der Forschung.

Bis 2005 hatten Forscherinnen – darunter Shi Zhengli, eine Virologin am chinesischen Wuhan Institute of Virology – die Hufeisennasen-Fledermaus als wahrscheinlichste Primär­wirtin des Sars­-Virus ausgemacht. In den folgenden Jahren sammelten Wissenschaftler Corona­viren in der freien Wildbahn, um sie dann im Labor zu studieren.

Viele Expertinnen vertraten die These, dass das Sars-Virus durch Palmen­roller, eine Unter­familie der Schleich­katzen, auf den Menschen übertragen wurde. Diese niedlichen, katzen­artigen kleinen Säuger werden zuweilen auf Wildtier­märkten verkauft. Allerdings kam zunehmend der Verdacht auf, dass Fleder­­­mäuse menschliche Lungen­zellen auch direkt, also ohne einen tierischen Zwischen­­wirt, mit Corona­viren infizieren können. Labor­experimente der Virologin Shi hatten dies spätestens 2013 gezeigt.

Dennoch arbeiteten etliche Wissenschaftler weiter mit Fleder­mäusen, Fledermaus­proben und Fledermaus­viren – und das unter Bedingungen, die so manche Beobachterin die Stirn runzeln liessen.

Gefährliche Experimente

Es liegt in der Natur von Viren, dass sie andauernd mutieren und dabei völlig willkürlich und zufällig Stellen im Genom verändern oder Teile hinzufügen oder Teile entfernen. Oder aber sie sorgen – in einem als «Rekombination» bezeichneten Prozess – für den Austausch genetischer Codes mit anderen Viren. Durch dieses unablässige Trial-and-Error-Verfahren entstehen Merkmale, die es Viren erlauben, immer neue Spezies zu infizieren.

Um solche Sprünge vorherzusehen, hat der Mensch versucht, diesen Prozess zu steuern. In einem in Anspielung auf den erhofften «Funktions­zugewinn» zuweilen als gain-of-function-Forschung bezeichneten Verfahren manipulieren Forscher Viren genetisch, um zu sehen, auf welche Weise sie potenziell gefährlicher oder effizienter werden können.

So berichteten in einem Artikel in «Nature Medicine» von 2015 Forscherinnen von zwei weltweit führenden Corona-Forschungs­laboren – darunter die Virologin Shi Zengli und Ralph Baric, ein Professor an der University of North Carolina in Chapel Hill –, dass sie mittels Biotechnik ein Corona­virus geschaffen hatten. Durchgeführt hatten sie die Experimente in Barics Labor. Sie nahmen dabei ein Spike-Protein – gewisser­massen der «Schlüssel», mit dem Corona­viren Zellen aufschliessen und infizieren – von einem Virus der Hufeisen­nasen-Fledermaus und kombinierten es mit einem auf Mäuse zugeschnittenen menschlichen Sars-Virus. Wie die Forscher schrieben, war dieses «chimäre Virus» in der Lage, menschliche Zellen zu infizieren, was den Schluss nahelegte, dass auch einige Fledermaus­viren «in der Lage sein könnten, ohne Mutation oder Adaptation Menschen zu infizieren».

Es war also das zweite Mal seit Shis Experimenten von 2013, dass ein Sars-artiges Fledermaus­virus im Labor die Fähigkeit zeigte, ohne Zwischen­wirt menschliche Atemwegs­zellen zu infizieren.

Diese Art von genetischer Manipulation hatte bereits früher Anlass zur Sorge gegeben. Etwa als Labore in den Niederlanden und den USA 2011 bekannt gegeben hatten, sie hätten neue Influenza­stämme mit genetischem Material aus dem H1N1-Grippe-A-Virus geschaffen, das ausgesprochen tödlich ist, sich aber im Allgemeinen noch nicht unter Menschen ausbreiten kann. Diese neuen Stämme konnten sich – zumindest unter Frettchen, deren Lunge der menschlichen sehr ähnlich ist – auf dem Luftweg ausbreiten.

Es folgte: ein weltweiter Aufschrei.

Verteidigt wurde das von Shi Zhengli und ihren Kollegen 2015 durchgeführte Corona-Experiment von Peter Daszak, dessen Organisation EcoHealth Alliance eng mit der Forscherin zusammen­arbeitet und in den vergangenen zehn Jahren mehrere 10 Millionen Dollar an staatlicher Unter­stützung erhalten hat. Daszak zufolge konnten sich Wissenschaftler dank diesen Erkenntnissen künftig auf das grösst­mögliche Risiko konzentrieren, schliesslich hätten sie den Status «dieses Virus vom entstehenden Erreger­kandidaten zu einer eindeutig präsenten Gefahr» gehoben.

Andere waren besorgter. «Sollte das Virus entweichen, wäre sein Weg nicht vorher­zusagen», meinte etwa Simon Wain-Hobson, Virologe am Institut Pasteur in Paris. Und tatsächlich bietet die jüngere Geschichte genügend Anlass für solche Bedenken.

Eine Serie von Laborunfällen

2007 entwichen Erreger der Maul- und Klauen­seuche über ein leckes Abfluss­rohr in einem englischen Labor mit der höchsten biologischen Schutz­stufe BSL-4. Diese Krankheit kann sich verheerend auf einen Vieh­bestand auswirken, 2001 sorgte sie in Gross­britannien für eine schwere Krise.

Selbst beim letzten bekannten Pocken­toten handelte es sich um eine Person, die sich 1978 bei einem Labor­zwischenfall infiziert hatte.

Nahezu jeder Sars-Fall seit dem ersten Ausbruch liess sich bislang auf «Labor­lecks» zurück­führen – sechs Vorfälle in drei Ländern, darunter zwei in einem einzigen Monat in einem Labor in Peking. In einem Fall kam die Mutter eines Labor­angestellten ums Leben.

In ihrer ersten veröffentlichten Studie über Melde­verfahren in US-Laboren, die mit gefährlichen Krankheits­erregern arbeiten, berichteten die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) 2012 von elf Labor­infektionen in sechs Jahren. Die Meldungen betrafen grösstenteils BSL-3-Einrichtungen, die Sicherheits­stufe, welche Pathogenen wie dem Tuberkulose­bakterium vorbehalten ist. In allen Fällen wurde die Gefahr erst erkannt – beziehungs­weise gemeldet –, nachdem sich Mitarbeitende infiziert hatten.

Im Januar 2014 kontaminierte die Gesundheits­behörde CDC selbst die Probe eines gutartigen Virus mit dem tödlichen Influenza-A-Subtyp H5N1, entdeckte die Gefahr jedoch erst Monate später. Im Juni desselben Jahres schickte man unsach­gemäss inaktivierte Milzbrand­­bakterien versehentlich an Labore und gefährdete damit potenziell mindestens 62 CDC-Mitarbeiter, die ohne entsprechende Schutz­ausrüstung mit den Proben hantierten. Und nur einen Monat später wurden in einem Lager­raum des US-amerikanischen National Institute of Health Gefässe mit lebenden Pocken­viren entdeckt.

Nach dieser Serie medien­trächtiger Zwischen­fälle froren die USA 2014 mit einigen wenigen Ausnahmen die Mittel für neue gain-of-function-Forschungen ein. 2017 hoben sie dieses Moratorium allerdings wieder auf.

Womit wir in der Gegenwart wären: bei der Corona-Pandemie.

Warum Wuhan?

Am 30. Dezember 2019 warnte ein öffentlicher E-Mail-Verteiler, der von der International Society for Infectious Diseases betrieben wird, im chinesischen Wuhan sei eine «unerklärliche Pneumonie» aufgetaucht; Berichte über die ersten Fälle stellten eine Verbindung mit dem Huanan-Fisch­markt her. Am 10. Januar 2020 postete ein chinesischer Wissenschaftler im Internet das Genom des Virus, das bald den Namen Sars-CoV-2 bekommen sollte. Der Wissenschaftler bestätigte, dass es sich um ein Corona­virus handelte. Noch bis zum 19. Januar 2020 bestritt die chinesische Regierung, dass sich das Virus unter Menschen ausbreite; drei Tage später riegelte das Regime die 11-Millionen-Metropole Wuhan hermetisch von der Aussen­welt ab.

Etwa eine Woche nach dem «Lockdown» veröffentlichten chinesische Wissenschaftlerinnen im medizinischen Fachblatt «The Lancet» einen Artikel, in dem von Fleder­mäusen als wahrscheinlicher Quelle des Virus die Rede war. Wie die Autoren anmerkten, war der Ausbruch während der Überwinterungs­periode der dortigen Fledermaus­population erfolgt, und da man «auf dem Fisch­grossmarkt Huanan weder Fledermäuse verkauft noch gefunden» hatte, lag für sie der Schluss nahe, dass die Übertragung durch einen Zwischen­wirt erfolgt war.

Solche Ausbrüche fernab des Herkunfts­orts sind durchaus möglich. Die Sars-Epidemie von 2002 beispiels­weise begann in Guangdong, etwa tausend Kilometer entfernt von der Provinz Yunnan in den Höhlen der Hufeisen­nasen-Fleder­mäuse, aus denen Sars allem Dafürhalten nach stammt. Als Zwischen­träger, die das Sars-Virus von Yunnan nach Guang­dong gebracht haben könnten, vermutete man die in ganz China gezüchteten und gehandelten Larven­roller, eine weitere Schleichkatzen­art. Sie werden oft unter engen, unhygienischen Umständen gehalten, was sie für Epidemien besonders anfällig macht. Da man Sars-CoV-2 zum ersten Mal auf einem Markt festgestellt hatte, auf dem womöglich auch Lebend­tiere verkauft wurden, geriet auf der Stelle der Handel mit Wild­tieren unter Verdacht.

Skepsis an dieser These regte sich erstmals unter Nutzerinnen von Chinas sozialen Netzwerken. War es reiner Zufall, dass sich eine von Fleder­mäusen stammende Krankheit ausgerechnet von Wuhan aus ausbreiten sollte, dem Standort des Wuhan Institute of Virology, eines der wenigen namhaften mit der Erforschung des Fledermaus-Corona­virus befassten Labore weltweit? Und was hatte es mit dem dortigen Ableger des Chinese Center for Disease Control and Prevention (quasi das Pendant zu den amerikanischen CDC) auf sich, wo ebenfalls an Fleder­mäusen geforscht wurde – und das nur wenige hundert Meter vom Huanan-Fisch­markt entfernt?

27 prominente Wissenschaftler verwahrten sich am 19. Februar 2020 in einem offenen Brief in «The Lancet» gegen «Verschwörungs­theorien, die unterstellen, dass Covid-19 nicht natürlichen Ursprungs» sei.

Bei den Überlegungen über seinen Ursprung geht es weniger um die Frage, ob Sars-CoV-2 tatsächlich aus einem Labor entwichen sein könnte. Unfälle sind nie auszuschliessen. Zentraler sind vielmehr die Fragen: Wie kam es überhaupt ins Labor, und wie ging man dort damit um?

Ein alter Name und ein alter Fall

Kurz nach der Abriegelung von Wuhan im Januar 2020 liess sich nicht mehr übersehen, dass es sich bei Sars-CoV-2 um den Verwandten eines Virus handelte, das den Wissenschaftlerinnen seit Jahren bekannt war.

Am 3. Februar 2020 gab Virologin Shi zusammen mit einigen Co-Autoren in «Nature» bekannt, in ihrer Datenbank auf ein Virus mit der Bezeichnung RaTG13 gestossen zu sein. Seine Genom­sequenz stimmte zu 96,2 Prozent mit dem von Sars-CoV-2 überein; festgestellt habe man dieses Virus bereits bei Hufeisennasen-Fledermäusen aus der Provinz Yunnan.

Argwöhnische Internet­detektive durchforsteten daraufhin Genom-Daten­­banken. Dabei stellten sie fest, dass sich RaTG13 exakt mit einem Fledermaus-Corona­virus mit der Bezeichnung 4991 deckte. Dieses stammte aus einer Höhle, die 2012 im Zusammen­­hang mit einem ungeklärten Ausbruch von Lungen­entzündung unter Bergwerks­­arbeitern in den Blickpunkt gerückt war. Die sechs Kumpel hatten zuvor in einer Mine in Yunnan Fledermaus­exkremente gesammelt; drei von ihnen starben.

Im Mai 2020 fand ein ehemaliger Naturkunde­lehrer aus Indien mit dem Twitter-Pseudonym TheSeeker268 eine Magister­arbeit von 2013. Und ausserdem eine von George Fu Gao betreute Dissertation von 2016, dem gegenwärtigen Direktor des Chinese Center for Disease Control and Prevention. Die Magister­­arbeit vertrat die Hypothese, die Gruben­arbeiter hätten sich ihre Krankheit direkt von einem Sars-artigen Corona­virus einer Hufeisennasen-Fledermaus geholt. Die Dissertation gab sich vorsichtiger, nannte den Ausbruch aber dennoch «bemerkenswert». Wie sie festhielt, hatte ein Team vom Wuhan Institute of Virology in der Höhle Fledermaus­proben gesammelt. Ausserdem, so die Dissertation, wurde das Blut der Bergleute sowie von weiteren Personen, die die Höhle ebenfalls betreten hatten, einige Wochen später auf Sars-Antikörper getestet. Bei vier von ihnen konnten solche nachgewiesen werden.

Nicht einer dieser wichtigen Fakten – weder die Namens­änderung des Virus noch die Verbindung zum früheren tödlichen Ausbruch eines möglicher­weise Sars-artigen Corona­virus – hatte in der ursprünglichen Arbeit über RaTG13 Erwähnung gefunden. In einem Interview vom März 2020 sagte die Virologin Shi, die Bergleute seien nicht an einem Corona­­virus, sondern an einem Fungus erkrankt.

Was die Fragen aber nicht verklingen liess.

Im Juli bestätigte Shi schliesslich, dass es sich bei RaTG13 in der Tat um 4991 handelte; und ja, man habe es umbenannt. Im November 2020 brachte das Fachmagazin «Nature» ihren Artikel auf den neuesten Stand. Darüber hinaus bestätigte sich, was Hobby­detektive im Internet ausgegraben hatten: Ihr Team hatte RaTG13 2018 genetisch sequenziert. (Die Möglichkeit einer Verbindung des Fledermaus-Corona­virus mit dem Tod der Bergleute blieb aber nach wie vor unerwähnt.)

Diese eher kargen Auskünfte – ein Virus mit zwei Namen, die Verbindung mit einem tödlichen Krankheits­ausbruch, wechselnde Krankheits­erreger sowie wider­sprüchliche Darstellungen – schürten den Argwohn.

Es kam zu Spekulationen darüber, ob man wohl RaTG13 im Sinne einer gain of function manipuliert und damit Sars-CoV-2 geschaffen hatte. Allerdings handelt es sich bei RaTG13 eher um einen entfernten Verwandten von Sars-CoV-2, was es wiederum eher unwahrscheinlich macht, dass RaTG13 Sars-CoV-2 hervor­gebracht haben sollte, sei es durch eine kürzlich erfolgte Evolution in freier Wildbahn oder durch Manipulation im Labor.

Selbst wenn RaTG13 keine Rolle beim Ausbruch von Covid-19 gespielt haben sollte, so blieb doch die Frage, weshalb sich Virologin Shi und andere in der ganzen Angelegenheit derart verschlossen gaben.

Doch es tauchten noch andere Fragen auf.

Eine Datenbank geht offline

Dieselbe Gruppe von Internet­spürhunden, die RaTG13 mit besagter Mine in Verbindung gebracht hatte, entdeckte auch, dass im September 2019 eine vom Wuhan Institute of Virology unterhaltene Genom-Datenbank vom Netz ging – eine Daten­bank mit Informationen über Tausende von Fledermaus­proben und mindestens 500 jüngst entdeckte Fledermaus-Corona­viren. Die offizielle Erklärung – man habe sie offline genommen, um sie vor Hackern zu schützen – erklärt nicht, warum man sie nicht auf die eine oder andere Weise gesichert verantwortungs­vollen unabhängigen Forscherinnen zugänglich gemacht hat.

Angesichts solcher Erklärungs­lücken lassen sich besorgnis­erregende Szenarien nicht mehr so einfach ausschliessen. Falls es tatsächlich zu einem Labor­unfall mit Sars-CoV-2 oder einem ähnlichen Virus gekommen war, ob dieses nun aus freier Wildbahn stammte oder aus einem Experiment, dann könnte man die Daten­bank vom Netz genommen haben, um andere daran zu hindern, aus dem vorhandenen Material die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Es ist möglich, dass die Behörden eventuelle Labor­fälle untersucht haben und man die Einrichtungen voreilig entlastet hat. Aber Krankheits­fälle können nun mal asymptomatisch verlaufen, und sie könnten den einen übersehen haben, der die Übertragungs­kette ausgelöst und es dem Virus erlaubt hatte, in aller Stille bis zu einem «Super­spreader»-Ereignis im Dezember zu zirkulieren.

Geheimniskrämerei und Verschleierung haben zu einigen eher hysterischen Theorien geführt – etwa dass das Virus aus einem Biowaffen­labor entwichen sei, was schon deshalb nicht sehr logisch ist, weil Biowaffen in der Regel mit tödlicheren Pathogenen arbeiten, für die ein Gegenmittel bekannt ist, oder bei denen ein Impfstoff für jene zur Verfügung steht, die sie einsetzen.

Die wirklichen Bedrohungen waren eher nüchterner Art.

Ohne Zwischenwirt infiziert

Die wissenschaftliche Arbeit der Virologin Shi Zhengli baut auf dem Sammeln und der Analyse Hunderter von Fledermaus­proben auf. Und sie zeigt die mit diesem Unter­fangen verbundenen Gefahren sehr deutlich auf. Bereits das von Shi zusammen mit Peter Daszak und anderen 2013 veröffentlichte Papier hat gezeigt, dass ein Fledermaus-Corona­virus aus einer Yunnan-Probe an Rezeptoren menschlicher Lungen­zellen andocken konnte. Dies wiederum bewies, dass «für eine direkte Übertragung auf den Menschen Zwischen­wirte womöglich nicht nötig sind».

Das ebenfalls weiter oben erwähnte umstrittene Experiment der Forscher­gruppe um Shi und Ralph Baric von 2015 wurde durchgeführt, nachdem man ein weiteres Fledermaus-Corona­virus entdeckt hatte, das man für fähig hielt, Menschen direkt zu infizieren. Nur liess sich dieses Virus nicht so recht kultivieren. Also schufen sie das chimäre Virus, das zur Bindung an eine Wirtszelle seine Stacheln einsetzt. Ausserdem zeigten sie auf, dass es in der Lage war, menschliche Atemwegs­zellen ohne Zwischen­wirt zu befallen.

Im Oktober 2015 nahm Shis Labor Proben von über 200 Personen, die im Umkreis von wenigen Kilometern der Fledermaus­höhlen in Yunnan ansässig waren. Man fand bei sechs von ihnen Antikörper für das Fledermaus-Corona­virus, was auf eine frühere Infektion schliessen liess. Alle sechs gaben an, Fledermäuse gesehen zu haben, und das, obwohl insgesamt nur zwanzig der getesteten Leute Fledermäuse in der Nähe ihrer Häuser gesehen haben wollten. Das liess darauf schliessen, dass mit dem Kontakt das Infektions­risiko stieg.

Die Forschungs­praktiken selbst dürften diesen Erkenntnissen nicht immer Rechnung getragen haben.

Während ein chinesischer Artikel von 2017 auf die Vorsicht verwies, mit der man im Wuhan Institute of Virology zu Werke ging, und Mitarbeitende in Kapuzen und N95-Masken zeigte, waren noch im selben Jahr in einer Sendung über Shis Arbeit im chinesischen Staats­fernsehen Forscher zu sehen, die mit blossen Händen oder entblössten Armen mit Fleder­mäusen oder Fledermaus­­kot hantierten. Der Biss einer Fledermaus, so eine Person aus dem Team, sei vergleichbar «mit dem Stich einer Nadel».

In einem Blogpost von 2018, der später wieder verschwand, schrieb Shi, die Arbeit sei «nicht so gefährlich» wie allgemein angenommen. «Die Chance, sich als Mensch direkt zu infizieren, ist sehr gering», so die Virologin. «In den meisten Fällen trifft man nur die üblichen Schutz­vorkehrungen» – es sei denn, man wisse, dass eine Fledermaus von einem Virus befallen ist, der Menschen infizieren könnte.

Ähnliches wiederholte sie einem Bericht der «Washington Post» zufolge 2018 in einem Video im Stil der TED-Talks. Hier sagte sie – illustriert durch Fotos von unmaskierten Kollegen oder solchen mit Chirurgen­maske und blossen Händen –, dass «ein einfacherer Schutz» durchaus angemessen sei, da Fledermaus-Pathogene zur Übertragung nach allgemeinem Dafürhalten eines Zwischen­wirts bedürften.

Zwischen Blut und Urin

Wie Shi betonte, forschte man am Institut in strikter Einhaltung der Standards für Biosicherheit. Ausserdem werde das Institut alljährlich durch eine unabhängige Einrichtung geprüft.

Gemäss Berichten ist auch das Chinese Center for Disease Control and Prevention in Wuhan mit der Erforschung von Fledermaus­­viren befasst.

Tian Junhua, einer der festen Mitarbeiter dort, hat sich mit seiner verwegenen Art einen Ruf gemacht. Einer Arbeit von 2013 zufolge hatte sein Team in der Provinz Hubei 155 Fleder­mäuse eingefangen. Laut der «Washington Post» brüstete er sich in einem am 10. Dezember 2019 veröffentlichten Video damit, «Dutzende von Fledermaus­höhlen aufgesucht und 300 Arten von viralen Vektoren untersucht zu haben». Zuvor hatte er bereits eingeräumt, bei der Feld­arbeit den einen oder anderen Fehler gemacht zu haben – so hatte er etwa seine Schutz­ausrüstung vergessen, war mit Fledermaus­urin, ja sogar mit Fledermaus­blut in Berührung gekommen. Und dennoch bestritt die Einrichtung nach einem Bericht der Welt­gesundheits­­organisation WHO, im Labor vor der Pandemie je Fledermaus­viren gelagert oder mit solchen gearbeitet zu haben.

Einem Bericht der WHO vom März 2021 zufolge war das Labor in Wuhan des Chinese Center for Disease Control and Prevention «am 2. Dezember 2019 in eine neue Lokalität in der Nähe des Huanan-Marktes umgezogen». Dabei sei es «weder zu Störungen noch zu Zwischen­fällen» gekommen. Angesichts des Mangels an Offenheit seitens der chinesischen Behörden kommt hier der Verdacht auf, es könnten um die Zeit des Ausbruchs in der Nähe des Fisch­grossmarkts wenn schon nicht lebende Fleder­mäuse, so doch Labor­proben transportiert worden sein.

Viele dieser Forschungs­praktiken wichen in keiner Weise ab von internationalen Normen. Eine Fledermaus­forscherin aus den USA sagte mir, sie betrete Fledermaus­höhlen zwar heute nur noch mit einem Atem­gerät, das sei jedoch zuvor keines­wegs üblich gewesen.

Die Unterstellung, Feldforscher riskierten, einen Ausbruch loszutreten, ist also gar nicht so weit hergeholt. Linfa Wang, ein chinesisch-australischer Virologe aus Singapur, der des Öfteren mit der Virologin Shi zusammen­arbeitet und als Erster die Hypothese vorgebracht hatte, für die Sars-Epidemie von 2003 könnten Fleder­mäuse verantwortlich gewesen sein, sagte der Zeitschrift «Nature» gegenüber, es bestehe durchaus eine zwar kleine, aber doch eine Möglichkeit, dass die gegenwärtige Pandemie von einer Forscherin losgetreten worden sei, die sich beim Sammeln von Proben in einer Fledermaus­höhle versehentlich mit einem unbekannten Virus infiziert habe.

Ausserdem könnten im Labor gehaltene Fleder­mäuse für ähnliche Risiken sorgen, wie sie der Verkauf von Wild­tieren auf städtischen Märkten bietet.

Vom Füttern nicht existierender Tiere

Peter Daszak, der Initiator des «Lancet»-Briefs, in dem sich Forscher gegen die Infrage­stellung des natürlichen Ursprungs von Covid-19 verwahrten, war im Herbst 2020 in die mit der Untersuchung der Pandemie beauftragte WHO-Kommission berufen worden. Bei der Unterstellung, auch nur eines der Labore, mit denen er in den letzten fünfzehn Jahren gearbeitet hatte, könnte lebende Fleder­mäuse gehalten haben, so insistierte er am 10. Dezember 2020, handle es sich um eine Verschwörungs­theorie.

«So arbeitet diese Wissenschaft nicht», schrieb er in einem später gelöschten Tweet. «Wir sammeln Proben von Fleder­mäusen, schicken sie ins Labor. Eingefangene Fleder­mäuse setzen wir wieder FREI!»

Die Gegenbeweise allerdings häuften sich. Einem Forschungs­assistenten zufolge kümmerte sich Virologin Shi selbst um die Fütterung der Fleder­mäuse, wenn die Studenten nicht im Haus waren. Laut einem Presse­bericht von 2018 hatte ein Team unter der Leitung eines ihrer Doktoranden «einen ganzen Träger mit Abstrichen gesammelt und ein Dutzend lebende Fleder­mäuse für weitere Tests im Labor eingepackt». Gemäss der Website der Chinesischen Akademie der Wissenschaften verfügte das Institut in Wuhan über mindestens ein Dutzend für die Haltung von Fleder­mäusen geeignete Käfige. Und 2018 hatte das Institut sogar ein Patent für einen Fledermaus­­käfig eingereicht. Shi selbst hatte davon gesprochen, die Entwicklung von Anti­körpern in Fleder­mäusen über längere Zeit hinweg beobachtet zu haben – was kaum in einer Höhle zu machen ist. Und jüngst tauchte ein weiteres Video auf, das angeblich lebende Fleder­mäuse im Institut zeigt.

Erst vor wenigen Wochen, Anfang Juni 2021, änderte Daszak seine Aussagen. «Es würde mich nicht überraschen», sagte er, «wenn man dort wie in vielen anderen Instituten eine Fledermaus­­kolonie aufzuziehen versuchte.»

Wer ist hier der Zwischenwirt?

Tatsache ist: Einen Zwischen­wirt hat man bis dato nicht gefunden, und dies, obwohl man rund um Wuhan Tausende von Tieren getestet hat. Dieser Mangel an Erfolg, sagte Scott Gottlieb, der ehemalige Chef der US-Lebens­mittel­behörde FDA, diesen Mai, trage zum Verdacht auf ein Laborleck bei. Peter Daszak hingegen legte Ermittlern nahe, ihre Bemühungen auf Wildtier­farmen in Südchina auszuweiten.

Falls es zu einer direkten Übertragung von der Fledermaus auf den Menschen kam, ist ein Zwischen­träger gar nicht nötig; jede Interaktion mit einem dieser Tiere, sei es durch eine Dorf­bewohnerin, sei es durch einen Feldforscher, könnte dazu geführt haben.

Bei allen Beteuerungen, Fledermaus­viren bedürften zur Ausbreitung auf den Menschen eines Zwischen­wirts, hat sich die Wissenschaft bislang noch nicht einmal darauf einigen können, dass die Schleich­katzen­art Palmen­roller für die Übertragung von Sars von der Fledermaus auf den Menschen verantwortlich war. Wir wissen, dass Palmen­roller den Ausbruch forcierten, nachdem Sars auf dem Markt von Guangdong aufgetaucht war; ebenso wissen wir um die Möglichkeit der wechsel­seitigen Übertragung zwischen Mensch und Palmen­roller. Aber die einzigen Palmen­roller-Populationen mit hohen Infektions­raten fanden sich bisher auf städtischen Märkten und auf der einen oder anderen Farm – mit anderen Worten: in menschlicher Umgebung und nicht in freier Wildbahn.

Wir wissen, dass wir Tiere infizieren können. Letztes Jahr musste Dänemark 17 Millionen Nerze keulen, die sich beim Menschen mit Sars-CoV-2 angesteckt hatten. Es ist also möglich, dass im Fall der Palmen­roller der Mensch der ursprüngliche Zwischen­träger war und dass den possierlichen Tierchen die Verbreitung der Krankheit zu Unrecht zur Last gelegt wird.

Zur These des biotechnischen Ursprungs

Weitere Risiko­quellen findet man in weiteren Tätigkeiten in den Laboren.

Es kam zu Spekulationen darüber, dass es sich bei Sars-CoV-2 um das Resultat gentechnischer Manipulationen handeln könnte. Das ist nicht auszuschliessen, jedenfalls nicht allein aufgrund einer Genom­analyse. Und die bedeckte Reaktion der chinesischen Behörden hat diesen Verdacht nur genährt. So verweigert man nach wie vor die Herausgabe von Original­unterlagen aus dem Labor. Diese Haltung spiegelte sich im Mai in Shis Reaktion auf die Forderung einiger Wissenschaftler, darunter ihr Co-Autor Baric, nach mehr Transparenz: «Das ist definitiv inakzeptabel», schrieb sie in einer E-Mail als Reaktion auf die Forderung, ihre Labor­aufzeichnungen einsehen zu dürfen.

Den ganzen Dezember 2019 über argwöhnten Ärztinnen in Wuhan, dass da ein Sars-artiges Virus am Wirken sei, während die Behörden vor Ort Whistle­blower in Haft nahmen, darunter war mindestens ein Gesundheits­arbeiter. Die Kommunistische Partei setzte ihre Verschleierungs­taktik fort, bis am 18. Januar der prominente Sars-Wissenschaftler Zhong Nanshan nach Wuhan reiste und Alarm schlug.

Trotz allem gibt es aber durchaus Indizien, die Zweifel an der Behauptung aufkommen lassen, Sars-CoV-2 sei biotechnischen Ursprungs.

So könnten einige Aspekte des Virus, welche manche Experten vermuten liessen, dass es biotechnisch hergestellt worden ist, ebenso gut ein Beleg dafür sein, dass sich das Virus natürlich entwickelt hat. Viel Aufmerksamkeit erlangte etwa ein ungewöhnliches Merkmal auf seinem Spike-Protein, eine Furin-Spaltstelle, mit der das Virus eine menschliche Zelle besser infizieren kann. Die Furin-Spaltstelle ist nur eines von vielen merkwürdigen Merkmalen von Sars-CoV-2, sie ist aber so ungewöhnlich, dass mir selbst Virologinnen mit starken Zweifeln an der Labor­theorie versicherten, dass ihre Entdeckung wie ein Schlag für sie kam.

Doch selbst ohne diese Furin-Spaltstelle nimmt sich Sars-CoV-2 in den Augen der Wissenschaftler neuartig aus. Die Evolution sorgt immer wieder für eine zufällige Häufung sonderbarer neuartiger Merkmale. Und im Sinne der Forschung, wie Shi und andere Wissenschaftlerinnen sie für profilierte wissenschaftliche Publikationen betreiben, wären solche Kombinationen einfach nicht stimmig. Ihre Arbeit besteht für gewöhnlich in der Analyse oder Veränderung eines Elements nach dem anderen; nur so lässt sich heraus­finden, wozu jedes fähig ist und mit welcher Aufgabe es sich betrauen lässt.

Anders gesagt: Wenn Ihr Computer den Geist aufgibt, versuchen Sie dem Fehler auch nicht dadurch auf die Spur zu kommen, dass Sie alle Kabel auf einmal ziehen; Sie probieren sie vielmehr der Reihe nach durch. Eine Vielzahl ungewöhnlicher Elemente führt zu übermässig komplizierten Ergebnissen; daraus wird kein Artikel in «Nature».

Gegner der Laborthese wanken

Doch lassen wir direkte biotechnische Manipulationen mal aussen vor. Der Labor­alltag in Wuhan hat auch so vielerorts Anlass zur Sorge gegeben.

So berichtete das Wuhan-Institut 2016 über Experimente an einem aktiven Fledermaus-Corona­virus, das menschliche Zellen infizieren konnte – in einem Labor mit der biologischen Schutz­stufe 2, die gern mit den Vorsichts­massnahmen einer Zahnarzt­praxis verglichen wird. Das Tragen von Schutz­kleidung über Handschuhe und Labor­schürzen hinaus ist hier in der Regel freigestellt, und nicht immer erfolgt die Lüftung streng getrennt vom Rest der Einrichtung. Michael Lin, ausserordentlicher Professor für Neuro­biologie und Biotechnik in Stanford, bezeichnete es als «regelrechten, in den Medien dokumentierten Skandal», dass man unter solchen Sicherheits­bedingungen an einem Sars-artigen, zur Replikation in menschlichen Zellen fähigen Virus gearbeitet habe.

Allein der Versuch, Fledermaus­viren im Labor zu kultivieren, kann für Risiken sorgen, deren sich die Wissenschaftlerinnen womöglich nicht einmal bewusst sind. So kann selbst ein gescheiterter Versuch, einen bestimmten Stamm zu züchten, unbeabsichtigt zur Züchtung eines anderen führen, von dem man noch nicht einmal weiss. Laut Lin bestünde sogar die Möglichkeit, dass unter­schiedliche Viren in ein und derselben Probe koexistieren und es in aller Stille zu Rekombinationen kommt, wodurch unentdeckt etwas ganz Neues entsteht. Unter BSL-2- oder gar schludrig eingehaltenen BSL-3-Bedingungen könnten Forscher einem Erreger ausgesetzt werden, von dem sie nicht mal ahnen, dass es ihn gibt.

Einige der Unterzeichner des «Lancet»-Briefs, der die blosse Erwägung eines nicht natürlichen Ursprungs von Sars-CoV-2 verurteilt hatte, geben sich der Labor­theorie gegenüber mittlerweile etwas offener. So etwa Bernard Roizman, emeritierter Virologe der University of Chicago mit vier Ehren­titeln chinesischer Universitäten. Gegenüber dem «Wall Street Journal» sagte er, er neige inzwischen dazu, an einen Labor­­unfall zu glauben. «Meiner Überzeugung nach hat man das Virus ins Labor gebracht, wo man damit zu arbeiten begann, und ein schlampiger Mitarbeiter trug ihn mit raus.» Und er fügte an: «Eine solche Dummheit können die natürlich nicht eingestehen.»

Charles Calisher von der Colorado State University, auch er ein Unterzeichner des «Lancet»-Briefs, sagte gegenüber ABC News, es gebe «zu viele Zufälle», als dass man die Theorie eines Labor­lecks ignorieren könne. «Wahrscheinlicher ist», so sagt er heute, «dass es aus diesem Labor kam.»

Peter Palese, der Virologe, der über die Grippe­pandemie von 1977 publizierte, sagte, es seien «seit dem von mir mitunterzeichneten ‹Lancet›-Brief eine Menge besorgnis­erregender Informationen aufgetaucht». Er wünsche sich eine Untersuchung, um Licht in die Sache zu bringen.

Sie sind nicht die einzigen Wissenschaftler, die ihre Meinung geändert haben. Ian Lipkin, Direktor des Center for Infection and Immunity an der Columbia University und Co-Autor eines einfluss­reichen Artikels in «Nature Medecine», in dem man im März 2020 einem natürlichen Ursprung von Sars-CoV-2 das Wort geredet hatte, ist heute ebenfalls skeptischer geworden. «Man sollte sich in BSL-2-Laboren keine Fledermaus­viren ansehen», sagte er im Mai. «Ich habe meine Ansicht geändert.»

Alles sauber, überall

Die Gesundheits­akten von Labor­arbeiterinnen könnten zur Klärung solcher Fragen beitragen. Letzten Juli bestritt Virologin Shi jede Möglichkeit, dass irgend­jemand aus dem Institut sich «beim Umgang mit Fledermäusen, sei es beim Sammeln oder bei der Proben­entnahme», infiziert haben könnte. Man habe, so schob sie nach, erst kürzlich sowohl alle festen Mitarbeitenden des Instituts als auch alle Studenten auf Antikörper getestet, die auf eine frühere Infektion mit Sars-CoV-2 oder Sars-artigen Viren hätten hinweisen können, habe dabei aber «null Infektionen» festgestellt.

Sie schloss diese Möglichkeit für alle Labore in Wuhan aus.

Es ist schwer nachzuvollziehen, wie ein gewissen­hafter Wissenschaftler eine solche Möglichkeit nicht nur für sein eigenes, sondern gleich für alle Labore kategorisch ausschliessen kann. «Null Infektionen» würde bedeuten, dass es unter den Hunderten von Leuten am Institut nicht einen einzigen Fall gegeben hat, obwohl einer Studie zufolge in Wuhan 4,4 Prozent der Bevölkerung infiziert waren.

Kein Zutritt! Während des Besuchs des WHO-Teams stoppt ein Sicherheitsmann Journalistinnen vor dem Institut für Virologie in Wuhan (3. Februar 2021). Ng Han Guan/AP Photo/Keystone

Im Folgenden verlangte das Team der WHO mehr Informationen über die ersten Covid-19-Fälle in Wuhan, inklusive anonymisierter, aber detaillierter Patienten­daten – etwas, das bei der Unter­suchung von Ausbruchs­ursachen zum Standard gehören sollte.

Das Ansinnen wurde abgelehnt. Was nicht nur für zahlreiche Möglichkeiten, sondern auch für ziemliche Verwirrung sorgt.

Es bleibt: Die Standort­frage

Die meisten Pandemien sind zoonotischen Ursprungs, das heisst, sie sind auf Tiere zurück­zuführen. Doch genügt dies schon, um an einem Labor­fehler zu zweifeln? Vielleicht – wenn man sich die Menschheits­geschichte insgesamt ansieht. Was aber, wenn man sich auf die Zeit seit dem Aufkommen der Molekular­biologie beschränkt? Seither nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass Wissenschaftler für Ausbrüche verantwortlich sind. Die Pandemie von 1977 hatte mit Forschungs­arbeiten zu tun; nicht aber die beiden anderen Pandemien seither, Aids und die H1N1-Schweine­grippe von 2009.

Doch davon einmal abgesehen: Ist ein so seltener Vorfall wie eine Pandemie erst einmal eingetreten, dann gilt es, ausnahmslos alle potenziellen Entstehungs­möglichkeiten in Erwägung zu ziehen. Denken wir an die Unter­suchung eines Flugzeug­absturzes. Fliegen ist für gewöhnlich ausgesprochen sicher, aber wenn es zu einem Absturz kommt, tun wir das nicht einfach damit ab, dass technisches Versagen und Piloten­fehler in der Regel nicht zu Katastrophen führen und Terror­anschläge eher selten sind. Stattdessen gehen wir alle Möglichkeiten durch, selbst die ungewöhnlichen, um heraus­zufinden, wie sich ähnliche Vorfälle künftig vermeiden lassen.

Die womöglich grösste Frage in diesem Zusammen­hang ist nach wie vor: Was sollen wir von einem Ausbruchs­ort halten, der immerhin anderthalb­tausend Kilometer von den nächsten Verwandten des Virus entfernt, aber in unmittelbarer Nähe einer führenden Forschungs­einrichtung liegt?

Man hat die Neugier um den Standort zuweilen mit der Erklärung abgetan, dass Labore immer dort eingerichtet würden, wo Viren zu finden seien. Nur befindet sich das Wuhan Institute of Virology bereits seit 1956 dort, wo es ist; man betrieb dort unter anderem Namen molekular­biologische Forschung für Land­wirtschaft und Umwelt. Erst nach dem Sars-Ausbruch rüstete das Institut auf und begann, sich der Erforschung des Corona­virus zu widmen.

Wuhan ist eine Metropole mit mehr Einwohnerinnen als New York City, kein ländlicher Aussen­posten in der Nähe einiger Fledermaus­höhlen. Virologin Shi sagte, der Ausbruch von 2019 habe sie überrascht, sie hätte «so etwas nie erwartet, nicht in Wuhan, nicht in Zentralchina».

Als ihr Labor eine Bevölkerungs­gruppe brauchte, bei der die Wahrscheinlichkeit, dem Corona­virus ausgesetzt gewesen zu sein, nicht allzu gross war, nahm man Einheimische. «Bei Orts­ansässigen», so die Begründung, bestehe «aufgrund ihres städtischen Umfelds eine weit geringere Wahrscheinlichkeit eines Kontakts mit Fledermäusen».

Dennoch ist der Standort allein noch kein Beweis. So plausibel Szenarien auch sein mögen, die auf Forschungs­arbeiten hindeuten, sie schliessen andere Optionen nicht aus.

Erst vor wenigen Wochen sprach ich mit Jesse Bloom, einem ausser­ordentlichen Professor am Fred Hutchinson Cancer Research Center. Er sagte mir, er habe nach Analyse eines partiell wieder­hergestellten Daten­satzes der ersten, aus dem Genom-Archiv entfernten Wuhan-Sequenzen «solide, real existierende Belege dafür gefunden, dass Sars-CoV-2 in Wuhan bereits vor dem Ausbruch im Fisch­markt im Umlauf war». Sowohl die ersten Berichte chinesischer Wissenschaftler als auch die jüngere Untersuchung der WHO diesen Winter kamen zu dem Schluss, dass zwischen vielen frühen Fällen und dem Fisch­markt keinerlei Verbindung bestand – auch nicht der bisher erste bestätigte Fall vom 8. Dezember 2019.

Womit der Fisch­grossmarkt womöglich nicht der ursprüngliche Ausbruchs­ort war.

Es ist durchaus glaubwürdig, dass das Virus ganz woanders zum Ausbruch kam und die Krankheit nur deshalb in Wuhan entdeckt wurde, weil es eine Gross­stadt ist. Das Testen von Blut­konserven aus ganz China, vor allem in der Nähe von Wildtier­farmen und Fledermaus­höhlen, wäre eine grosse Hilfe. Aber mit wenigen Ausnahmen haben die chinesischen Behörden solche Tests entweder nicht durch­geführt oder entsprechende Resultate nicht weitergegeben.

Was wir daraus lernen können

Angesichts all des zurückgehaltenen Beweis­materials fällt es schwer, verlässliche Aussagen über den Ursprung von Covid-19 zu machen; selbst eine ernsthafte Unter­suchung würde sich dabei schwertun. Es gab andere Ausbrüche, deren Ursprung bis heute ungeklärt bleibt.

Aber selbst wenn uns Antworten verwehrt bleiben, können wir unsere Lehren aus dem Fall ziehen.

Die womöglich grösste ist die: Uns stand – auf die eine oder andere Weise – der Ausbruch einer Fledermaus-Corona­virus-Epidemie ins Haus, und wir haben die von der Forschung festgestellte Fähigkeit des Virus, auf den Menschen überzuspringen, ignoriert.

Wissenschaftlerinnen und Staats­bedienstete müssen Nutzen und Gefahren der Arbeit mit Fleder­mäusen und Viren abwägen, sei es bei der Feld­forschung oder im Labor, zumal anderweitige Investitionen in die öffentliche Gesundheit womöglich weit mehr zur Verhinderung von Pandemien beitragen. Es könnte sich als effektiver erweisen, eine rigorose Überwachung bekannter Brutstätten gefährlicher Pathogene einzuführen und unsere Behörden darauf vorzubereiten, bei den ersten Anzeichen eines Ausbruchs so rasch und transparent wie möglich zu reagieren. Man könnte die Forschung mehr auf die Reaktion ausrichten als auf die Prognose; so sehr sich die beiden Bereiche überlappen, sie sind nicht deckungs­gleich. Ein gefährliches Virus zu finden, ob in einer Höhle oder in einer Petrischale, kann durchaus von Nutzen sein, aber man reizt damit auch den schlafenden Bären, dem man aus dem Weg zu gehen versucht.

Man hätte bei der Erforschung von Fleder­mäusen im Feld mit mehr Vorsicht vorgehen sollen. Mit Fledermaus­viren sollte nicht in BSL-2-Laboren gearbeitet werden, und die Forschung in BSL-3-Laboren sollte nur unter strengsten Sicherheits­vorkehrungen erfolgen. Die menschliche Interaktion mit Fleder­mäusen sollte strengstens reguliert und überwacht werden.

Der investigativen Reporterin Alison Young zufolge, die seit Jahren über Labor­unfälle schreibt, kam es allein in den USA zwischen 2015 und 2019 zu über 450 gemeldeten Unfällen mit Pathogenen, die von der Bundes­regierung wegen ihrer Gefährlichkeit reguliert werden. Vergleichbare Zahlen finden sich für britische Labore. Und wie einschlägige Recherchen nahelegen, werden Labor­­unfälle auch nicht immer gemeldet.

Einige Wissenschaftler fordern striktere Kontrollen und eine stringentere Kosten-Nutzen-Analyse für die Forschung mit Pathogenen, die versehentlich Pandemien auslösen könnten. Forschung, die das Risiko wert sein könnte, so ein Vorschlag, sollte man in Einrichtungen verlegen, die ausserhalb dicht besiedelter Räume liegen.

Die Zusammen­arbeit mit China ist hier nicht weniger wichtig als in den Bereichen Labor­sicherheit und Ausbruchs­monitoring. Kritik an Chinas Reaktion auf die Pandemie und den wissenschaftlichen Praktiken, die zu ihr geführt haben, so argumentiert man bisweilen, bringe diese Zusammen­arbeit nur in Gefahr. Es ist jedoch nicht einzusehen, wie ein geharnischter Artikel die chinesischen Behörden noch kompromiss­loser machen sollte, als sie es ohnehin schon sind.

Es ist verständlich, wenn man hier und da vorsichtig ist mit solchen Behauptungen, um Wissenschaftlerinnen aus anderen Ländern nicht zu dämonisieren, vor allem angesichts überbordender antiasiatischer Ressentiments. Nur werden sie von der Aufrecht­erhaltung des aktuellen Zustands wohl kaum profitieren.

Nach einem Labor­unfall mit Milzbrand­bakterien 1979 in der Sowjet­union, der Dutzende von Menschen­leben forderte, haben führende westliche Wissenschaftler die Erklärungen der sowjetischen Behörden akzeptiert, die sich später allesamt als Lügen heraus­stellten. So etwas wird nicht zur Verbesserung von Sicherheits­standards beitragen, schon gar nicht unter einem autoritären Regime.

Ein besserer Weg wäre eine auf Gegen­seitigkeit beruhende, wahrhaft globale Zusammen­arbeit zum Wohle und Nutzen aller. Trotz ihrer Verschleierungs­politik sollte man nicht davon ausgehen, dass die chinesische Regierung das alles noch einmal durchmachen will – zumal auch Sars in China begann.

Dies bedeutet, das öffentliche Interesse über den persönlichen Ehrgeiz zu stellen und einzuräumen, dass die biomedizinische Forschung, ungeachtet ihrer wunderbaren Kräfte, auch Gefahren birgt.

Dazu müssen Amtsträgerinnen wie Wissenschaftler ihren Blick auf das grosse Ganze richten, nach Gemeinschaftlichkeit und Wahrheit streben, anstatt nur der Blamage aus dem Wege zu gehen. Darüber hinaus bedürfte es der Entwicklung eines Rahmen­werks jenseits von Schuld­zuweisungen an China, da die hier zu lösenden Probleme globaler Art sind. Und dann müsste man noch den womöglich nächsten grossen Trend erkennen: den sorgfältigen Umgang mit einer Vielzahl kleiner Details.

Hinweis: In einer früheren Version war die Rede von Tuberkulose­viren. Tuberkulose wird aber von Bakterien verursacht. Wir haben das korrigiert.

Zur Autorin

Zeynep Tufekci ist Soziologin und freie Mitarbeiterin unter anderem von «The Atlantic», «Scientific American» und «New York Times». Sie beschäftigt sich schon länger mit der Covid-19-Pandemie und deren gesellschaftlichen Folgen.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 25. Juni 2021 in der «New York Times».

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Artikel wie diesen gibt es nur, wenn genügend Menschen die Republik mit einem Abo unterstützen. Kommen Sie bis zum 31. März an Bord!

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr