Der Shutdown im Stresstest
Die Corona-Massnahmen hätten die Menschen krank, gestresst und depressiv gemacht, sagen Kritikerinnen gerne. Und was sagen die harten Daten?
Von Marie-José Kolly, 19.07.2021
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Die Firma Levi’s verkauft seit Ende 2020 richtig viele Jeans. Und «die Zahl der Leute, die eine neue Grösse brauchen, ist ziemlich verblüffend», sagte der CEO von Levi’s kürzlich zu «Associated Press». Die einen haben zugenommen, die anderen abgenommen, und zwar Frauen wie Männer. «Mehr als 25 Prozent der Konsumenten tragen eine neue Grösse.» Und die Levi’s-Aktie steigt.
Die gängige Erzählung hierzu lautet, dass die Pandemie enorm viel Stress über uns Menschen brachte. Und Stress, das wissen wir, wirkt sich bei vielen Menschen auf das Körpergewicht aus: Manche greifen zu Schokolade, wenn es ihnen nicht gut geht. (Zucker agiert im Gehirn ähnlich wie Alkohol und andere Drogen: Er löst ein kurzfristiges Glücksgefühl aus.) Anderen vergeht unter Stress oder Trauer der Appetit.
Die Sorge, Menschen würden vermehrt unter psychischen Schwierigkeiten leiden, war im letzten Jahr immer wieder präsent. Ganz besonders laut wurde sie in der Schweiz dann geäussert, wenn der Bundesrat oder die Kantonsregierungen neue Schutzmassnahmen einführten – oder mit Lockerungen noch zuwarteten –, um die Verbreitung von Sars-CoV-2 zu bremsen.
Die Sorge war selbstverständlich berechtigt, und es ist schön, dass psychischen Krankheiten – typischerweise ein grosses Tabu – vermehrt öffentliche Aufmerksamkeit zukommt. Schön war eigentlich auch, dass sich hierzu Personen, Parteien und Lobbygruppen äusserten, die nicht gerade dafür berühmt sind, sich für psychisch Kranke einzusetzen.
Der Schönheitsfehler: Häufig musste man hinter diesen Äusserungen denn auch ein anderes Interesse vermuten. Ein politisches, ein wirtschaftliches, ein vermeintlich freiheitliches, kurz: eines gegen die Schutzmassnahmen. Kaschiert wurde dieses Interesse durch die Behauptung, die psychischen Folgen der Massnahmen gegen Covid-19 seien schädlicher als Covid-19 selbst.
Die Evidenz dazu, die fehlte aber.
Wie geht es also den Menschen?
Heute brauchen Politikerinnen ihre Entscheidungen nicht mehr auf der Basis präventiver Sorgen zu treffen, denn mittlerweile gibt es zahlreiche Studien mit vergleichbaren Daten zu dieser Frage. Was sie zeigen, ist ein differenziertes Bild.
Ja, für viele Menschen war es ein schwieriges Jahr, das ihr Leben und ihre Seele erschütterte. Zu ihnen kommen wir noch – auf sie muss sich der Fokus von Politik und Gesellschaft richten.
Aber der Mehrheit geht es erstaunlich gut. Von einem kurzen und heftigen Belastungs-Peak im von Unsicherheiten und Ängsten geprägten Frühling 2020 haben viele sich rasch erholt. Und nun scheint es ihnen nicht besser und nicht schlechter zu gehen als vor der Pandemie. Dieses Muster findet man in verschiedensten Studien aus aller Welt wieder. Zum Beispiel in einer aus den Vereinigten Staaten:
Für die Schweiz erschien kürzlich eine Studie, welche nicht die generelle psychische Belastung, sondern den Stresspegel abbildet. Dieser ging während des Shutdowns im Frühling 2020 sogar zurück, nachdem er vorher jahrzehntelang gestiegen war.
Solche Resultate liessen selbst Psychologinnen etwas verdattert zurück: «Die Resilienz der Menschen hat uns überrascht», sagt Lara Aknin im Gespräch mit der Republik. Die Professorin für Psychologie an der kanadischen Simon Fraser University leitet eine Taskforce, die im Auftrag der wissenschaftlichen Zeitschrift «The Lancet» Effekte der Pandemie auf die psychische Gesundheit untersucht.
«Wir setzten uns also an diese Aufgabe und dachten, wir würden nun gemeinsam das Ausmass der Zerstörung dokumentieren», erzählt Aknin. Doch es kam anders. Die Forscher sichteten rund 1000 Studien zu Depression, Angst und Suizid, die sie nach bestimmten Qualitätskriterien ausgewählt hatten: grosse Stichproben, hohe Repräsentativität, rigorose Methoden. Nachdem alle ihre Hausaufgaben gemacht hatten – Papers lesen, zusammenfassen, Erkenntnisse in Spreadsheets teilen –, kamen sie in einem grossen Call zusammen. «Und da hat sich der Ton des Gesprächs schrittweise verändert.»
Einer nach dem anderen habe von überraschenden Beobachtungen erzählt, sagt Aknin. Von Daten aus Deutschland etwa, wo die Menschen im April 2020 mit ihrem Leben etwa gleich zufrieden waren wie noch im Jahr 2019. Oder aus Frankreich, «aus dem Auge des Sturms», wo die Zufriedenheit sogar gestiegen war. Auch in weltweiten Umfragedaten des Gallup-Instituts fanden die Wissenschaftlerinnen: Menschen, die ihre Lebenszufriedenheit auf einer Skala von 0 bis 10 bewerten sollten, gaben 2020 im Schnitt eine 5,75 an – dasselbe wie in den vorangehenden Jahren.
«Wir waren zunächst verblüfft und skeptisch», sagt Aknin. Beobachteten sie hier vielleicht kurzzeitige Phänomene? Anomalien? Aber als dieselbe Erkenntnis in diversen Datensätzen wieder und wieder auftauchte, stieg das Vertrauen in sie. «Als Wissenschaftlerinnen waren wir natürlich offen für die Möglichkeit, dass unsere anfänglichen Annahmen falsch waren», sagt Aknin.
Die Mehrheit der Menschen war also offensichtlich resilienter, als man denken könnte.
Die Forschungsergebnisse sind wichtig, weil sie eine einseitige Erzählung korrigieren, die sich auch in der Schweiz verbreitet hatte. «So, wie sich unser Verständnis der Virusverbreitung verändert hat – wir wissen jetzt, dass Aerosole gefährlicher sind als Viruspartikel auf Oberflächen –, so müssen wir auch unser Verständnis der Konsequenzen der Pandemie für die psychische Gesundheit updaten», sagt die Psychologin Lara Aknin.
Was sich hinter dem Mittel verbirgt
Wichtig ist aber auch: Diese Studien zeigen, by design, Mehrheiten und Durchschnittswerte. Doch diese sagen wenig über die Verteilung der Daten aus – über die Entwicklung am oberen und am unteren Ende des Spektrums.
Was sich hinter dem Durchschnitt verbirgt, ist nicht immer ganz klar. Zum Beispiel könnte man sich vorstellen, dass im Pandemiejahr die Schere zwischen denjenigen, denen es vorher schon gut ging, und denjenigen, die vorher schon psychisch angeschlagen waren, stärker auseinanderging. Möglich wäre auch, dass sich die psychische Gesundheit der meisten Menschen nicht gross veränderte, aber in beide Richtungen mehr Extremwerte entstanden: Menschen, denen es, vielleicht im Homeoffice, plötzlich viel besser ging. Und andere, vielleicht einsame, denen es plötzlich viel schlechter ging.
Schnitt und Mehrheit dürfen also nicht darüber hinwegtäuschen, dass das vergangene Jahr für viele Menschen Leid, Verlust und Verzweiflung brachte. Ganz im Gegenteil, sagt Lara Aknin: Es sei wichtig, die Daten präzise zu betrachten – um präzise Abhilfe bieten zu können, da, wo sie am meisten gebraucht wird.
Besonders gelitten hätten Frauen und Familien mit jungen Kindern, sagt die Forscherin. Auch junge Menschen, deren Zukunftsaussichten sehr unsicher gewesen seien (und teils nach wie vor seien), hätten eine stärkere psychische Belastung erlebt. Und vielen, die an Covid-19 erkrankten, sei es psychisch über längere Zeit nicht gut gegangen. Schwer habe es auch jene getroffen, die schon vor der Pandemie an einer Krankheit gelitten hätten, physisch oder psychisch. Das Gesundheitspersonal arbeitete hart an der Belastungsgrenze. Und Menschen in finanzieller Not hatten es schwer. Das zeigt auch die Schweizer Haushaltspanel-Studie: Wer mit finanziellen Schwierigkeiten oder in prekären Arbeitsverhältnissen lebte, litt besonders stark unter Stress.
Interessanterweise ist diese Gruppe von Personen auch ohne pandemisches Virus am stärksten gestresst, zusammen mit jenen, die unter einer hohen Arbeitsbelastung leiden. Mit der Pandemie wurde die Lage für Erstere noch schwieriger. Für viele Menschen in der zweiten Gruppe hingegen reduzierte sich der Stress.
Um was für Personen handelt es sich dabei? Gemäss der Haushaltspanel-Studie ist der Stressrückgang während der ersten Covid-19-Welle in der Schweiz vor allem auf Hochschulabgängerinnen zurückzuführen. Die Verlangsamung im öffentlichen und sozialen Leben brachte mehr Ruhe in ihr Leben. Für Personen mit niedrigerem Bildungsstand fiel der Stressunterschied jedoch geringer aus, was vermutlich unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass viel weniger von ihnen die Arbeit nach Hause verlegen konnten.
Was nun?
Das Wissen um diese Unterschiede ist wichtig für künftige politische Entscheide. Einerseits, damit psychische Krankheiten nicht für politische Zwecke missbraucht werden. Und andererseits, damit die Gesellschaft gezielt auf Menschen eingehen kann, deren Psyche wirklich unter der Pandemie leidet – sei es wegen der viralen Bedrohung für ihre Gesundheit, sei es wegen der Schutzmassnahmen, die sie einsamer, unsicherer oder ärmer werden liessen.
Viele von uns tragen heute eine andere Jeans-Grösse als noch im Januar 2020. Jene, die vor Angst oder Kummer weniger assen. Andere, welche wegen finanzieller Sorgen häufiger zu Kuchen und Keks griffen. Noch andere, die abends, wenn der Computer endlich heruntergefahren war und die Kinder schliefen, öfter mal eine Flasche Wein öffneten. Oder die, die auf ihr gewohntes Sportprogramm im Turnverein oder Fitnesscenter verzichten mussten.
Manche auch, weil sie endlich Ruhe und Fokus fanden. Oder plötzlich mehr Zeit für Bewegung und Selberkochen.
Und auch das sollten wir nicht vergessen: Sehr viele von uns tragen noch ihre alten Jeans.