So gross wie 11 Fussball­felder: das Amazon-Logistik­zentrum JFK8 im New Yorker Stadtteil Staten Island. Dave Sanders, The New York Times

Inhumane Ressourcen

Bei Amazon steuern Algorithmen das Personal, sie kommunizieren mit der Belegschaft oder feuern Mitarbeiter – der Onlinehändler hat das digitale Management von Angestellten perfektioniert. Dann kam die Pandemie.

Von Jodi Kantor, Karen Weise, Grace Ashford (Text) und Sven Gallinelli (Übersetzung), 17.07.2021

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Im September 2020 erhielt Ann Castillo eine E-Mail von Amazon, die keinen Sinn ergab. Ihr Ehemann hatte seit fünf Jahren beim Online-Versand­händler gearbeitet, zuletzt im riesigen Lagerhaus auf Staten Island. Von dort aus gehen die Pakete in den Grossraum von New York City. Die E-Mail forderte Castillos Mann auf, seine Arbeit in der Nachtschicht wieder aufzunehmen:

«Wir haben Ihren Vorgesetzten und die Personal­abteilung informiert, dass Sie am 1. Oktober 2020 zur Arbeit zurückkehren.»

Ann Castillo las die Nachricht ungläubig. Ihr Mann, der 42-jährige Alberto, musste im Frühling Überstunden leisten und gehörte zu den ersten Mitarbeitern im Lagerhaus, die positiv auf das Coronavirus getestet worden waren. Fieber und Infektionen frassen sich durch seinen Körper, er erlitt massive Hirnschäden. In Tests, die seine Reaktions­fähigkeit messen sollten, erzielte Alberto «so gut wie keine Punkte», erzählt Ann Castillo.

Ann Castillo ist eine freundliche, zupackende Physio­therapeutin. Während Monaten hatte sie Amazon wissen lassen, dass ihr Mann, der immer stolz auf seine Arbeit beim Verkaufs­giganten war, ernsthaft krank sei. Die Antworten, die sie von Amazon bekam, waren zusammenhangslos und verwirrend. Castillos E-Mails und Anrufe bei Amazon landeten oft in einem automatisierten System – und dort in der Sackgasse.

Eigentlich zahlt Amazon im Krankheitsfall grosszügige Leistungen an die Angestellten aus. Doch als die Zahlungen für ihren Mann plötzlich ausblieben, geriet Ann Castillo in Panik. Irgendwann schaffte sie es doch, persönlich mit der Personalabteilung zu sprechen, worauf die Zahlungen wieder aufgenommen wurden. Trotzdem fragte Amazon weiterhin nach, wann Ann Castillos Mann wieder zur Arbeit erscheine; fast jede Kontaktaufnahme von Ann Castillo endete wieder in der Telefon-Warteschleife oder wurde automatisiert beantwortet.

Konnte es sein, dass Amazon keine Ahnung über den Zustand ihres Mannes hatte? Ann Castillo fragte sich: «Wisst ihr eigentlich nicht, was mit ihm passiert ist? Sind Mitarbeiter bei euch Wegwerfware? Können sie einfach so ersetzt werden?»

Ann Castillo pflegt ihren Mann Alberto. Er hat sich vermutlich an seinem Arbeits­platz bei Amazon mit Corona infiziert und ist so schwer erkrankt, dass er nicht mehr zur Arbeit zurück­kehren kann. Nur merkte das niemand bei Amazon. Sarah Blesener, The New York Times

Das Amazon-Logistikzentrum in Staten Island trägt intern den Namen «JFK8», angelehnt an den JFK-Airport, den nächst­gelegenen Flughafen. Während sich im Frühling 2020 die Pandemie ausbreitete, war JFK8 für viele ein Rettungs­anker. Denn Covid traf New York früh und hart, ganze Wirtschafts­zweige der Stadt brachen zusammen. Die Folge: Hotel­mitarbeiter, Schauspielerinnen, Bartender oder Tänzerinnen brauchten einen neuen Job – und den fanden sie bei Amazon, für 18 Dollar die Stunde. Für den Konzern waren die ersten bangen Wochen der Pandemie ausgesprochen lukrativ. Amazon brach die eigenen Liefer­rekorde, die Verkäufe gingen in die Stratosphäre, und Ende 2020 war der Gewinn so hoch wie in den drei voran­gegangenen Jahren zusammen.

Amazon hat so schnell auf die Pandemie reagiert, weil es ein flexibler und wendiger Konzern ist. Diese Flexibilität verdankt es auch seinem Gründer: Jeff Bezos. Er hat neue Wege gefunden, wie Angestellte mit Technologie in Massen gemanagt werden können. Amazon vertraut dabei auf mehrere IT-Systeme, die zwei Dinge bewirken: Sie minimieren den zwischen­menschlichen Kontakt – und sorgen dafür, dass die Belegschaft möglichst reibungsfrei wachsen kann.

Amazons Erfolg im Pandemiejahr ist aber nicht ohne Nebengeräusche abgelaufen. Das Unternehmen und seine Art, Geschäfte zu betreiben, wurden letztes Jahr kräftig durchgeschüttelt.

Wenn Amazon etwas weiss, dann, wie Pakete präzise und effizient abgefertigt werden. Schwerer tut sich die Firma hingegen mit der Organisation des eigenen Personals. Amazon vertraut dabei auf Apps, Chatbots und auf ganz viele Zahlen. Wenn eine Mitarbeiterin ein personelles Anliegen hat, muss sie sich oft selber darum kümmern. Dieses System zeigte schon vor der Pandemie Mängel; doch während der Pandemie traten die Schwächen offen zutage: Amazon hat Arbeits­kräfte verheizt, versehentlich Kündigungen ausgesprochen, Leistungen unzuverlässig ausbezahlt – und die Kommunikation harzte.

Über Amazon – die Erfolgsgeschichte, die an Business­seminaren rund um den Globus gelehrt wird – ist ein Schatten gefallen.

Zu dieser Recherche

Dieser Artikel erschien unter dem Titel «The Amazon That Customers Don’t See» am 15. Juni 2021 in der «New York Times». Für die bislang unerzählte Geschichte, wie die Pandemie die Macht und Tücken des Amazon-Personal­systems offenlegte, sprachen die Reporterinnen mit über 200 aktuellen und ehemaligen Amazon-Angestellten. Auch wurden Mitarbeiterinnen der Amazon-Verwaltung in Amerika und Übersee sowie Führungs­kräfte des Konzerns kontaktiert. Weitere Quellen waren interne Firmen­dokumente, rechtliche Unterlagen und Behörden­akten sowie die internen Feedback-Boards der Mitarbeiter.

Eigentlich wollte Amazon während der Pandemie kulant zu seinen Angestellten sein: Wer aus Angst vor dem Virus zu Hause bleiben wollte, musste keine Kündigung befürchten. So viel zur Theorie. In der Praxis sah es aber oft ganz anders aus, wie das Beispiel von Alberto Castillo zeigt: Ihm – und auch anderen Arbeiterinnen – wurde gesagt, sie sollen so lange unbezahlten Urlaub nehmen, wie sie möchten. Doch während sie dies beanspruchten, hätten sie plötzlich die Aufforderung erhalten, zwingend Überstunden zu leisten. Oder es seien Ultimaten an Mitarbeiter im Urlaub verschickt worden, weil sie unentschuldigt fehlen würden. Das bestätigten uns sowohl Angestellte im JFK8-Logistikzentrum als auch HR-Mitarbeiterinnen.

Während der Pandemie begaben sich immer mehr Angestellte in den Urlaub, was im Betrieb Spuren hinterliess und den Versand von Waren beeinträchtigte. Auf eine Rückkehr zur Arbeit hatten die Mitarbeiter wenig Lust; auch deshalb, weil völlig unklar war, ob sich das Virus auch bei Amazon verbreitete. Eine eindeutige offizielle Kommunikation hierzu gab es nicht: Stattdessen wusste niemand, ob die automatisierten Meldungen über positive «Individuen» nun deren 2 oder 22 bedeuten würden. Gegenüber der Öffentlichkeit erklärte Amazon, dass es die bestätigte Zahl der Fälle an die Gesundheits­behörden melde. Aber die Aufzeichnungen der Stadt New York zeigen keine gemeldeten Fälle bis November 2020.

Wie viel Zeit braucht diese Arbeiterin, um ein Paket bereitzustellen? Amazon weiss es auf die Sekunde genau. Chang W. Lee, The New York Times

Wer in einem Logistikzentrum von Amazon arbeitet, wird lückenlos überwacht: Es wird registriert, wie schnell die Arbeiterinnen die Waren verpacken oder wie lange sie Pause machen. Wenn die Produktivität einbricht, dann gehen Amazons Computer davon aus, dass die Schuld beim Mitarbeiter liegt. Wer die vorgegebenen Ziele nicht erreicht, wird zuerst verwarnt – und dann entlassen.

Während der Pandemie hat Amazon seine Systeme nachjustiert und die automatischen Entlassungen vorübergehend sistiert; allerdings hat es das seinen Mitarbeiterinnen nie mitgeteilt. Im JFK8 war die Angst unter dem Personal also weiterhin gross. Das zeigen auch Rückmeldungen von Mitarbeiterinnen im internen Feedback-Board: «Es ist sehr wichtig, dass die Area-Managerinnen verstehen, dass Mitarbeiter mehr als eine Nummer sind», schrieb ein Angestellter und fügte hinzu: «Wir sind Menschen. Wir sind keine Werkzeuge, die man benutzen kann, um die täglichen oder wöchentlichen Ziele und Vorgaben zu erreichen.»

Die Arbeitsbedingungen kontrastieren mit dem Bild, das Amazon von sich selbst als Arbeitsplatz­erzeugerin zeichnet. Das Unternehmen nennt hierzu atemberaubende Zahlen: Allein von Juli bis Oktober 2020 seien 350’000 Arbeiterinnen neu eingestellt worden. Und natürlich ist auch der Einstellungs­prozess auf Effizienz getrimmt: Wer sich bewirbt, durchläuft maximal ein Computer-Screening – ohne ein echtes Bewerbungsgespräch oder weitere Nachforschungen. Die Kehrseite: Viele der so eingestellten Menschen blieben nur während Tagen oder wenigen Wochen im Unternehmen.

Eine Zahl, die das untermauert, ist die Fluktuation bei Amazon: Die war schon vor der Pandemie erstaunlich hoch. Jede Woche schieden 3 Prozent der Stundenlöhner aus dem Unternehmen. Übers Jahr gesehen beträgt die Fluktuation bei den Amazon-Mitarbeiterinnen um die 150 Prozent. Diese Zahl ist fast doppelt so hoch wie in der übrigen Verkaufs- und Logistikbranche. Einigen im Amazon-Management war das Grund zur Sorge: Sie befürchteten, landauf und landab nicht mehr genügend neue Leute zu finden.

«98 Prozent von allem läuft gut» – tatsächlich?

Im vergangenen April sagte Amazon-Gründer Jeff Bezos, dass er stolz sei auf die Arbeitskultur seines Unternehmens, die «erreichbaren» Produktivitäts­ziele, die Löhne und die Sozial­leistungen. Sowohl der Chef der Personal­abteilung für die Logistik­zentren als auch der Standort­leiter des JFK8 erklärten uns, bei Amazon habe das Wohlbefinden der Mitarbeiterinnen hohe Priorität. Sie betonten, dass mehr HR-Personal angestellt worden sei, und sie zitierten Studien, wonach die Zufriedenheit der Mitarbeitenden bei Amazon hoch sei.

Amazon gab uns gegenüber zwar zu, dass es einige Probleme mit ungerechtfertigten Kündigungen, dem Verlust von Sozialleistungen, Mitteilungen bei Nichterscheinen am Arbeitsplatz und Absenzen gab. Wie viele Personen davon betroffen waren, wollte Amazon aber nicht sagen. Kelly Nantel, eine Amazon-Sprecherin, erklärte, dass es sich bei den in diesem Beitrag genannten und in anderen dokumentierten Fällen um Ausreisser handle.

Ofori Agboka, oberster Leiter des Personalwesens für die Logistikzentren, stellte fest, dass es wegen Social Distancing und dem Tragen von Schutzmasken schwieriger geworden sei, mit den Arbeiterinnen persönlich in Verbindung zu treten. Jedoch, so Agboka: «98 Prozent von allem läuft gut, die Menschen haben die richtigen Erfahrungen.» Sie erhielten Unterstützung, wenn sie diese benötigten.

Zu dieser Sichtweise gibt es Gegenstimmen, etwa von ehemaligen Führungs­kräften, die mithalfen, Amazons Personal­systeme aufzusetzen. Sie sagen, dass die hohe Fluktuation und der Leistungs­druck zu kritisch geworden seien, um die damit verbundenen Probleme zu ignorieren.

Das Unternehmen ist diese Probleme nicht entschlossen genug angegangen, sagt auch Paul Stroup. Er hat bis vor kurzem ein Team geleitet, dessen Aufgabe es war, die Bedürfnisse der Angestellten in Amazons Logistikzentren zu verstehen. «Amazon kann eigentlich jedes Problem lösen, wenn es nur möchte», sagt Stroup. Allerdings sei die Personal­abteilung im Gegensatz zu anderen Unternehmens­bereichen nicht gut aufgestellt und habe auch weniger finanzielle Mittel zur Verfügung. Die Personal­abteilung fühle sich an, «als sei sie eine andere Firma», so Stroup.

Paul Stroup wertete die Daten von Amazon-Mitarbeiterinnen aus, um für sie bessere Arbeits­bedingungen zu schaffen. Doch im Management wollte niemand auf ihn hören. Ruth Fremson, The New York Times

David Niekerk war als Bereichsleiter und stellvertretender Personalchef für den Aufbau des Personalsystems in den Logistikzentren verantwortlich. Er sagt: Einige der Probleme bei Amazon kommen daher, dass die Systeme entwickelt wurden, als das Unternehmen noch viel kleiner war. Amazon-Gründer Jeff Bezos wollte demnach keine verwurzelte Belegschaft, er nannte es einen «Marsch in die Mittelmässigkeit», erinnert sich Niekerk. Bezos war der Überzeugung, dass Mitarbeiterinnen für die Jobs mit gering qualifizierten Tätigkeiten nur befristet eingestellt werden sollen. Als Amazon dann schnell wuchs, sagt Niekerk, konnte es seine Richtlinien nicht sorgfältig und fair implementieren: «Es ist in vielerlei Hinsicht ein Zahlenspiel. Die Firmen­kultur geht dabei verloren.»

Sogar Jeff Bezos gesteht inzwischen Probleme in dem System zu, das er selbst erfunden hat. In einem Brief an die Aktionärinnen schrieb er, dass «wir eine bessere Vision benötigen, wie wir Werte für die Mitarbeiter schaffen – eine Vision für ihren Erfolg.» Er bezog sich dabei auch darauf, dass es unter dem Amazon-Personal immer wieder Bestrebungen gibt, sich gewerkschaftlich zu organisieren. «Wir wollten immer das kunden­freundlichste Unternehmen der Welt sein», schrieb Bezos weiter. Und fügte hinzu: «Wir werden der weltbeste Arbeitgeber und der weltweit sicherste Ort zum Arbeiten sein.»

Der Expansionswille von Amazon ist ungebrochen. Innerhalb der nächsten beiden Jahre dürfte die Firma zum grössten privaten Arbeitgeber der USA werden. Rund eine Million Menschen vertrauen in den USA auf Amazons Löhne und Sozialleistungen; die meisten von ihnen arbeiten im Stundenlohn.

Nicht alle Mitarbeiter teilen die Kritik am Unternehmen, es gibt auch viele, die ihren Job bei Amazon als erfüllend bezeichnen. Zum Beispiel Adama Ndoye, auch sie arbeitet im Logistikzentrum JFK8: Sie hat mit ihrem Lohn ihre ganze Familie unterstützt und konnte gleichzeitig ein Fernstudium absolvieren. «Das Licht ist an, wir haben Essen, Kleider, alles», sagt sie. Dawn George, früher Köchin, sagt, sie war JFK8 dankbar für die Stelle bei Amazon, nachdem die Hotelküchen-Jobs im Frühling 2020 verschwanden. «Ich bin bereit, mir den Hintern aufzureissen für ein Einkommen auf Stundenbasis», sagt sie.

Einige bewundern Amazons Ambitionen. Es sei, als wäre er Mitglied eines Top-Sportteams, das jeden Abend ein wichtiges Spiel habe, sagt Dan Cavagnaro, der gleich nach der Eröffnung im Jahr 2018 im JFK8 zu arbeiten begann. Er kennt aber auch die Schattenseiten des Systems. Nach einem Urlaub wollte er mit Amazon den Zeitpunkt seiner Rückkehr vereinbaren. Er hatte zudem ein ärztliches Zeugnis und schlug vor, dass er im Juni 2020 zur Arbeit zurück­kehre. Aber er konnte niemanden erreichen, um sein Anliegen zu besprechen. Das System vermerkte ihn als «Nicht zur Arbeit erschienen», und er bekam die üblichen Verwarnungen und Androhungen. Nach vergebener Mühe, mit jemandem zu sprechen, schickte Cavagnaro ein letztes E-Mail: «Bitte nehmen Sie zur Kenntnis: ICH MÖCHTE WEITERHIN BEI AMAZON ANGESTELLT BLEIBEN.» Er erhielt nie eine Antwort.

Nachdem wir uns für diese Recherche bei Amazon erkundigten, was mit Cavagnaros Fall sei, wurde ihm der Job wieder angeboten. (Dieser Fall «hätte besser laufen müssen», sagte Amazon-Sprecherin Nantel.)

In der Geisterstadt

Im März 2020 schreitet Traci Weishalla durch die endlosen Hallen des JFK8. Sie trägt eine Leuchtweste, die sie als Managerin ausweist. Sie will einen ungefilterten Eindruck davon bekommen, was sie bald mitbeaufsichtigen wird: ein Logistikzentrum, 11 Fussballfelder gross, das eine Weltstadt mit Waren versorgen soll, während diese gerade zum Epizentrum von Covid-19 wird. Der Lärm von Förderbändern, auf denen Pakete herumwirbeln, klingt wie das Rauschen einer heranfahrenden U-Bahn-Komposition. Gebaut, um den lukrativsten Absatzmarkt des Landes zu erobern, herrscht im JFK8 während fast 24 Stunden täglich Betrieb, sieben Tage die Woche.

Eineinhalb Jahre zuvor half Weishalla dabei mit, das Logistikzentrum zu eröffnen. Und nun, als zu Hause eingesperrte Kundinnen im ganzen Land Thermometer, Desinfektionsmittel und Puzzles bestellen, tritt die 38-jährige Weishalla ihren neuen Posten an: stellvertretende Leiterin des JFK8.

Für ein Unternehmen, das logistische Wunder erbringt, war das Coronavirus einfach eine weitere Hürde, die übersprungen werden musste, sagt sie. «Das ist, was wir tun», sagt Weishalla. «Wir arbeiten, um Lösungen für unmögliche Probleme zu finden.»

Chefin über 5000 Mitarbeiterinnen: Traci Weishalla, Managerin im Amazon-Logistik­zentrum JFK8 in New York. Chang W. Lee, The New York Times

Doch in Amazons Maschinenraum begann es in der Pandemie zu rumpeln. Volle Sattelschlepper standen in den Logistik­zentren überall im Land, aber es waren nicht genug Arbeiterinnen da, um sie zu entladen. Kunden stellten fest, dass Artikel, die Amazon in der Pandemie als «nonessential» einstufte, plötzlich einen Monat benötigten, bis sie versandt wurden – eine Ewigkeit für ein Unternehmen, das normaler­weise innerhalb von zwei Tagen liefert.

Amazon begann, finanzielle Anreize zu schaffen, um das Personal zurückzulocken: Es erhöhte den Stundenlohn temporär um 2 Dollar und begann, das Doppelte für Überstunden zu bezahlen. Und erstmals offerierte der Konzern die Möglichkeit, unbegrenzt unbezahlten Urlaub zu nehmen. Damit, so dachten die Führungs­kräfte, könnten die Arbeiterinnen zu Hause bleiben ohne die Angst, gefeuert zu werden – und dass dank dieser höheren Flexibilität einige trotzdem für Teilschichten zur Arbeit erscheinen würden.

Fast ein Drittel von Amazons 500’000 Logistikangestellten in den USA blieb wegen der Pandemie daheim. JFK8 «war wie eine Geisterstadt», erinnert sich Arthur Turner, ein Arbeiter, der trotz Pandemie weiterarbeitete.

Selbst Alberto Castillo überlegte sich, zu Hause zu bleiben. Die Zahlen in den Nachrichten waren beängstigend: Schon 20’000 New Yorker waren zu diesem Zeitpunkt mit dem Coronavirus infiziert; die Spitäler waren überlastet; national wurde mit 1,7 Millionen Toten gerechnet. Allerdings war es für Castillo keine Option, auf sein Einkommen zu verzichten: Die Castillos waren Immigranten aus den Philippinen und wollten sich ein Haus kaufen. Also ging er weiterhin Nacht für Nacht zur Arbeit; die Angst vor dem Virus überspielte er mit Witzen und «Star Wars»-Anspielungen, wie Castillos Kollegen erzählen. Und es gab noch einen weiteren Grund, warum Castillo nicht fehlen wollte: Er hatte sich gerade für eine Beförderung beworben.

Die Anweisungen im JFK8 blieben derweil widersprüchlich. Obwohl Amazon sagte, dass die Mitarbeiterinnen Urlaub nehmen können, wurden diese gleichzeitig informiert, dass alle Abteilungen verordnete Überstunden leisten müssen.

Als Alberto Castillo am 24. März 2020 zur Arbeit erscheint, hört er, man habe im JFK8 soeben den ersten positiven Corona-Fall entdeckt. Er will es genauer wissen und schickt seinem Vorgesetzten eine Nachricht. Dieser antwortet mit: «Stimmt, ich vergass, das zu erwähnen.» Und er fügt an, dass alle, die mit dem betroffenen Arbeiter in Kontakt standen, informiert worden seien. Alberto Castillo ruft seine Frau an, um mit ihr zu besprechen, ob er nach Hause zurückkehren sollte. Sie entscheiden, dass er seine Schicht zu Ende bringen würde.

Später, auf der Rückfahrt im Morgen­grauen zu seinem Wohnort in New Jersey, spürt Alberto Castillo ein Kratzen im Rachen.

Gewerkschaften sind böse

Am selben Morgen sind Derrick Palmer und Chris Smalls, zwei Amazon-Mitarbeiter und beste Freunde, unterwegs zum JFK8. Dort gehen sie in den Pausen­raum und erzählen Dutzenden Kollegen: Das Virus sei in das Logistik­zentrum eingedrungen, man könne Amazon nicht trauen und die Anlage müsse geschlossen werden.

Solche Mitarbeiter­zusammenkünfte werden nicht gerne gesehen. Amazon empfindet die gewerkschaftliche Organisation der Angestellten als Bedrohung. Die Firma verzichtete sogar auf den Bau eines zweiten Logistik­zentrums in New York – aus Angst davor, dass sich die Mitarbeiterinnen gewerkschaftlich organisieren könnten. Die Einzelhandels-Gewerkschaft hatte einst kühn behauptet, dass JFK8 das erste gewerkschaftlich organisierte Logistik­zentrum in den USA werden würde, aber die Bemühungen verliefen im Sande.

Palmer und Smalls waren seit 2015 bei Amazon und kannten das Unternehmen von Grund auf. Palmer ist ein Studien­abbrecher, der in verschiedenen Logistik­unternehmen gearbeitet hatte, bevor er sich im JFK8 als «Picker» anstellen liess. Seine Aufgabe war es, Produkte aus den Roboter­regalen zu holen und auf das Laufband zu legen. Das Amazon-System stufte Palmer als einen der produktivsten Mitarbeiter ein, und er wurde auserwählt, um andere Mitarbeiterinnen zu schulen; zudem half er bei der Neueröffnung eines Logistik­zentrums im US-Bundestaat Illinois mit.

Heute fühlt sich Palmer von Amazon im Stich gelassen, er ist der Überzeugung, dass der überragende Erfolg des Unternehmens Arbeitern wie ihm nicht zugutekommt. Die Angestellten würden von Computern und Algorithmen gesteuert, die strikten Regeln folgten – Regeln, die das Personal nicht kenne.

Derrick Palmer arbeitet bei Amazon und möchte, dass sich die Mitarbeiter gewerkschaftlich organisieren können. Sein Arbeit­geber ist davon weniger begeistert. Sarah Blesener, The New York Times

2019 lernte Palmer die JFK8-Managerin Traci Weishalla kennen. Palmer sagte zu Weishalla, er wünsche sich mehr menschlichen Kontakt mit dem Management. Und dass er einen Job wie den ihren möchte. Es passierte nichts. «Wenn wir Leistung erbringen, die über das geforderte Mass hinausgeht, gibt es keine Belohnung», sagt Palmer. Als Palmer sich dann 2020 um eine Beförderung bewarb, war er einer von 382 Mitarbeiterinnen, die sich für dieselbe Position interessierten. Die Wahrscheinlichkeit, den Job zu erhalten, war vernichtend klein – ein Auswuchs von Jeff Bezos’ Management­philosophie.

Dass den Stundenlöhnern die Karriere­leiter versperrt bleibt, sei Absicht, sagt David Niekerk, der ehemalige stellvertretende Personal­chef von Amazon, der 2016 nach 17 Jahren bei Amazon pensioniert wurde. Als Personal­manager machte sich Niekerk dafür stark, dass es mehr Führungs­rollen bei den Stunden­löhnern gibt; er dachte dabei an ein ähnliches System wie mit den Unteroffizieren in der Armee. Der damalige oberste Chef über alle Betriebs­abläufe bei Amazon, Dave Clark, hatte diesen Vorschlag aber 2014 abgelehnt. Statt Führungs­leute aus der Arbeiter­schaft zu rekrutieren, sagt Niekerk, habe Clark für die unterste Führungs­riege auf «superschlaue» Studien­abgänger gesetzt.

Zum Vergleich: Bei Walmart, der grössten Supermarkt-Kette der USA, starteten 75 Prozent der heutigen Führungs­kräfte als Stunden­löhner. Amazon hingegen hat im letzten Jahr im Logistik­zentrum JFK8 220 Personen befördert von insgesamt 5000 Angestellten; das ist weniger als die Hälfte als Walmart.

Der Mensch, von Natur aus faul

Der Karriereweg blieb den Stundenlöhnern auch aus einem anderen Grund verschlossen: Amazon-Gründer Jeff Bezos will nicht, dass sie zu lange im Unternehmen bleiben, weil er eine «grosse, unzufriedene» Arbeiterschaft als Bedrohung empfindet, wie sich Niekerk erinnert. Die Daten des Unternehmens zeigten, dass die meisten Mitarbeiterinnen weniger produktiv wurden, je länger sie bei Amazon angestellt waren, so Niekerk. Bezos glaubte, dass die Menschen von Natur aus faul sind. «Er sagte, dass die Natur der Menschen darauf ausgerichtet ist, so wenig Energie wie möglich zu benutzen, um das zu erreichen, was wir möchten oder brauchen», so Niekerk.

Amazon-Gründer Jeff Bezos will das Personal nicht zu lange im Konzern behalten. Er glaubt, dass die Mitarbeitenden sonst träge werden. Ted S. Warren, Keystone

Statt die Mitarbeiter zu befördern, setzt Amazon auf das Gegenteil und schafft Anreize, damit sie nach einiger Zeit die Firma wieder verlassen. Zu diesen Anreizen gehörte eine Prämie von mehreren tausend Dollar für Mitarbeiterinnen, die kündigen. Es gab auch Gratiskurse, die Angestellte für eine beruflichen Neuorientierung fit machen sollten. Zudem gab es nach drei Jahren bei Amazon keine garantierten Lohn­erhöhungen mehr.

Als das Virus im JFK8 ankam, war Derrick Palmer besorgt darüber, wie Amazon die Mitarbeitenden zu schützen und mit ihnen zu kommunizieren gedachte. Die Informationen über den ersten Corona-Fall waren dürftig. Eine Arbeitskollegin seines besten Freundes, Chris Smalls, wirkte krank, ihre Augen waren blut­unterlaufen und sie schleppte sich durch die Schicht. Die beiden Männer sahen nur eine Lösung: JFK8 musste eine Pause einlegen, gereinigt und neu organisiert werden. Unbezahlter Urlaub war nicht genug, sagten die beiden; ein Unternehmen, das vom reichsten Mann der Erde geleitet wird, sollte Mitarbeiter nicht dazu drängen, sich zwischen Sicherheit und Lohn entscheiden zu müssen.

Palmer lud Dutzende von Mitarbeiterinnen ein, ihre Befürchtungen in einem Chat auf Instagram zu teilen:

«Das ist, warum ich meinen Hintern lieber zu Hause behalte», schrieb einer.

«Gesundheit vor Reichtum, ich schicke euch täglich Küsse», antwortete eine andere.

«Wählt ihr eigentlich nur notwendige Artikel aus?», fragte eine weitere und bezog sich dabei auf Amazons frühzeitige Bemühungen, während der Pandemie beim Versand gewisse Waren zu bevorzugen. «Mann, ich verstaue grade Dildos», antwortete ein anderer.

Wer schwarz ist, wird schneller rausgeschmissen

Fast alle Arbeiter in der Gruppe waren schwarz, wie Palmer und Smalls, oder Latino. So wie mehr als 60 Prozent der Mitarbeiterinnen im JFK8, wie interne Unterlagen von Amazon aus dem Jahr 2019 zeigen. Im Gegensatz dazu bestand das Management zu 70 Prozent aus Weissen oder Asiatinnen. Schwarze Angestellte hatten ein 50 Prozent höheres Risiko als weisse, entlassen zu werden – entweder wegen ungenügender Produktivität, Fehlverhaltens oder weil sie nicht zur Arbeit erschienen. (Amazon sagt, es könne diese Daten nicht bestätigen, ohne zu wissen, aus welchen Quellen sie stammen.)

Durch die konstante Überwachung, die Annahme, dass die meisten Angestellten Faulenzer sind, und den Mangel an Karrieremöglichkeiten «fühlen sich viele der Arbeiter, die einer Minorität angehören, ausgenutzt», sagt Palmer.

«Wir sind das Herz und die Seele dieses Gebäudes», schrieb Palmer in den Chat. Und: «Ohne uns geht nichts.»

Die beiden Freunde Palmer und Smalls führten ihre Zusammenkünfte in den Pausen­räumen während mehrerer Tage fort und konfrontierten die Führungs­kräfte im JFK8. «Wenn, Gott bewahre, jemand in diesem Gebäude stirbt oder Angehörige sterben, ist das Blut an euren Händen, nicht an meinen», sagte Smalls zu einem Manager des Logistik­zentrums, wie auf einer Audio­aufnahme des Gesprächs zu hören ist.

Am 30. März 2020 demonstrierten Palmer und Smalls mit einer kleinen Gruppe von Mitarbeiterinnen auf dem Parkplatz vor dem JFK8. Palmer trug ein Schild, auf dem stand: «Behandelt eure Arbeiter wie eure Kunden!»

Vom Amazon-Hauptsitz in Seattle aus versuchten die Führungskräfte, diese Proteste zu ersticken – und lenkten damit noch mehr Aufmerksamkeit darauf. Amazon entliess Chris Smalls mit der Begründung, seine Demonstration auf dem Parkplatz habe eine Quarantäne­vorschrift verletzt, da er Kontakt zu einer kranken Mitarbeiterin gehabt habe. Derrick Palmer erhielt eine Verwarnung wegen Missachtung der Social-Distancing-Regeln. Sitzungs­notizen, die am nächsten Tag von einem Top-Anwalt des Unternehmens aufgezeichnet wurden und an die Öffentlichkeit gesickert sind, beschrieben Smalls als «nicht klug oder artikuliert».

Obwohl der Anwalt später sagte, er habe Smalls Hautfarbe nicht gekannt, schrieb eine Gruppe von schwarzen Amazon-Mitarbeiterinnen einen Brief, der den Vorfall als Teil eines «systematischen Musters rassistischer Voreingenommenheit, das Amazon durchdringt» bezeichnete. Die Staats­anwaltschaft erkundigte sich, ob die Kündigung von Smalls eine Vergeltungs­massnahme gewesen sein, was Amazon verneinte.

An der Basis harzte es weiter.

Auch im April gab es in Amazons Logistik­zentren Personal­mangel, noch immer stockte der Versand von Waren. Die Kundschaft wanderte zur Konkurrenz ab. Um wieder Boden gutzumachen, musste Amazon einen Weg finden, um die Mitarbeiterinnen zurück an die Arbeits­plätze zu bringen. Jede Entscheidung, die Amazon nun traf, würde das Leben von Hundert­tausenden Angestellten betreffen.

Und jetzt bitte schnell zurück an den Arbeitsplatz

Die Arbeit, diese Szenarien auszuarbeiten, oblag Paul Stroup, dem früheren Leiter des Daten­wissenschafts­teams am Hauptsitz in Seattle, einer Abteilung mit Tausenden von Mitarbeiterinnen, deren Aufgabe es ist, auch kleinste Abläufe zu optimieren. Immer mit dem Ziel, billiger, schneller und besser voraussehbare Lieferungen zu erreichen. Stroup selbst bezeichnet sich als «das Hirn» hinter den Betriebs­abläufen bei Amazon. 2019 machte Stroup dann einen überraschenden Schritt – er wechselte in die Personal­abteilung. Einige schockierte Kolleginnen triezten ihn damit, dass der Wechsel ins HR-Personal wie ein Sabbatical sein würde.

Aber Stroup war einst selber eine Billig­arbeitskraft, als er in einem Teilzeit­job bei der Baumarkt­kette «Home Depot» für 9 Dollar pro Stunde Lastwagen entlud. Er kannte die Basis. «Wenn ich so vielen Menschen wie möglich helfen möchte, dann ist die Arbeit in der Personal­abteilung von Amazon, einem der grössten Arbeitgeber der Welt, sehr einflussreich», sagt Stroup. Er hoffte, dass er nicht nur das Leben der Angestellten bei Amazon verbessern würde, sondern generell Standards für Stunden­löhnerinnen setzen könnte, die beispielhaft für die Branche wären.

Als Stroup die Bedingungen der Mitarbeiter für die Rückkehr zur Arbeit überprüfte, war er zuversichtlich, dass die Arbeits­plätze bei Amazon sicherer würden, auch weil Amazon Milliarden von Dollars in Schutz­massnahmen investierte. Im Logistik­zentrum JFK8 in New York startete ein Pilot­versuch, bei dem Desinfektions­mittel zwischen den Arbeits­schichten versprüht wurde; dann wurde das überall in Amerika und Europa eingeführt. Weiter wurden Temperatur­scanner installiert, und bunte Klebe­streifen am Boden markierten neu die Laufwege der Mitarbeiterinnen. Mithilfe von künstlicher Intelligenz bauten Ingenieurinnen ein Programm, das um jeden Arbeiter einen virtuellen Kreis von zwei Metern zeichnete, damit es leichter fiel, den Abstand einzuhalten.

Stroup half zudem Daten­wissenschaftlern und Epidemiologinnen dabei, Werkzeuge zu entwickeln, um potenzielle Virus­ausbrüche zu orten und so eine zentralisierte Quelle zu schaffen, um die Fälle zu verfolgen. Die Analyse zeigte, dass es in den Amazon-Logistikzentren noch keine grossen Ausbrüche gab, im Gegensatz zu anderen Industrien, etwa den Fleisch­fabriken. Aber: Die Zahl der Covid-Todesfälle fing in ganz Amerika an zu steigen.

Stroup war besorgt, wie genau Amazon die Arbeiterinnen zurück an die Arbeits­plätze bringen konnte. Die Firma musste wissen, welche davon nicht an eine Rückkehr dachten, sodass diese ersetzt werden konnten. Nur gab es dabei ein Problem: Wenn die Mitarbeiter zu abrupt zur Rückkehr aufgefordert würden, könnten Tausende Entlassungen folgen.

Stroup nahm Erhebungen vor und stellte Daten zusammen für Dave Clark, unterdessen oberster Chef über alle Betriebs­abläufe bei Amazon, der die endgültigen Entscheidungen zu treffen hatte. Clark wollte die Leute möglichst schnell zurück an den Arbeits­platz bringen, Stroup hingegen empfahl eine gestaffelte Vorgehens­weise. Der langsame Rückkehr­plan sah vor, dass die Leute innerhalb von ein bis zwei Monaten ihre Arbeit wieder aufnahmen; in diesem Fall war die Annahme, dass nur 5 bis 10 Prozent der Leute zu Hause bleiben und darum ihren Job verlieren würden. Beim schnelleren Plan hingegen könnte es sein, dass 20 bis 30 Prozent der Leute im Monat entlassen würden.

Doch Clark beharrte auf Tempo.

Ausserdem erklärte Amazon Ende April 2020, dass das Programm für unlimitierten unbezahlten Urlaub im Mai auslaufen werde. Mitarbeiterinnen, die einen solchen noch nicht beantragt hatten, mussten innerhalb einer Woche entscheiden, ob sie davon noch Gebrauch machen wollten.

Mehrere hochrangige Führungskräfte, die wir für diese Recherche angefragt haben, lehnten es ab, mit uns zu sprechen. Darunter HR-Chefin Beth Galetti, Dave Clark und Jeff Bezos.

«Für unser Team war das hart», sagt Stroup über die Vorgaben. Trotzdem verstand er Clarks Notlage: «Da ist viel Druck, wenn deine Website normaler­weise eine Lieferung innert ein bis zwei Tagen verspricht, und plötzlich sind es 28 Tage», so Stroup.

Stress in Costa Rica

Die kurze Frist, um noch unlimitiert unbezahlten Urlaub anzumelden, machte das Chaos noch grösser.

Über Nacht wurde Amazon mit Urlaubs­anträgen überschwemmt. Massenweise wurden die Anträge in ein Amazon-Büro in San José, Costa Rica, gespült, dessen Mitarbeiterinnen für die Bearbeitung der Anträge zuständig sind. Unter ihnen der Fallmanager Dangelo Padilla. Jeden Morgen wachte er auf und musste mitansehen, wie sein Team mit einer unüberwindbaren Aufgabe konfrontiert wurde. Das Büro war sowieso schon mit 18’000 pendenten Fällen vom März 2020 im Rückstand. Nun, Ende April, kamen nochmals 13’500 Anträge hinzu.

Bei den Amazon-Arbeitern in den USA verbreitete sich Panik. Diejenigen, die Urlaub beantragen wollten, fanden besetzte Telefonlinien vor oder erhielten automatische Antworten mit dem Hinweis, dass ihre Anfragen nur verspätet beantwortet werden können. Mitarbeiterinnen, die ihren Urlaub bereits antraten, deren Gesuch aber noch hängig war, erhielten Verwarnungen und Kündigungsandrohungen, weil sie nicht zur Arbeit erschienen.

In Costa Rica forderte Padilla seine Chefs auf: «Sie müssen das in Ordnung bringen.»

Das Team, das für die Urlaubsanträge zuständig war, hatte mit weiterem Ungemach zu kämpfen: Etwa mit unzuverlässiger Technik. Kurz bevor die Pandemie losging, wurde ein neues System für die Behandlung von Urlaubs­anträgen eingeführt. Das System mit dem Namen «Dali» hätte Flexibilität bieten sollen, aber es hatte viele Fehler. Die Mitarbeiter des Teams wurden ständig vor Probleme gestellt. «Wir waren aufgeschmissen», sagt Padilla. «Nicht einmal unsere Chefs wussten, was zu tun ist.»

Fax-Schreiben und E-Mails, die vom System automatisch hätten sortiert werden sollen, landeten alle in einer riesigen Inbox, die manuell bearbeitet werden musste. Genehmigte Abwesenheiten, die sich in den Arbeitsplänen der Mitarbeiterinnen hätten widerspiegeln sollen, mussten in einem anderen Amazon-Büro in Indien von Hand eingegeben werden. Geschah das nicht rechtzeitig, so wurden den Mitarbeitern Freizeit- statt Urlaubstage von ihrem Guthaben abgezogen. In der Folge erhielten sie die üblichen Warnungen: Dass sie entlassen würden, weil sie ihren Arbeitsplatz verlassen hätten. «Jeden Tag sah ich Leute, denen ohne Grund gekündigt wurde», sagt Dangelo Padilla.

Auf Anfrage bestätigen mehrere ehemalige und aktive Amazon-Mitarbeiter, aber auch Führungs­kräfte das Versagen des Systems. Einige der Fehl­entscheide wurden durch Amazon rückgängig gemacht. Es gab Angestellte, die um ihren Job kämpften und erfolgreich waren.

Andere gaben auf und kündigten.

Amazon-Sprecherin Nantel sagt, dass das Unternehmen während der fraglichen Zeit Urlaubs­anträge schnell bewilligt hat. Um genug Personal zu haben, habe man zudem 500 Leute eingestellt, um die steigenden Zahl der Anträge zu bewältigen. Nantel führt weiter aus, dass Amazon im Pandemie-Jahr 2020 mehr als eine Million Urlaubs­anträge erhalten habe, doppelt so viel wie angenommen. Zudem arbeite Amazon hart daran, die Mitarbeiterinnen vor der Entlassung zu kontaktieren, um nachzufragen, ob sie ihren Job behalten wollen.

Die verpasste Pause wegen Stau vor der Personalabteilung

Die Angestellten suchten auch Hilfe bei den Personal­teams vor Ort in den Logistik­zentren. Doch die Teams waren nicht für die Urlaubs­anträge zuständig. Zudem sind sie personell dünn besetzt und schon in normalen Zeiten überfordert. Im JFK8, erzählen Mitarbeiterinnen, sie hätten ihre tägliche 30-minütige Pause verpasst, weil sie die gesamte Zeit in einer Warteschlange vor der Personal­abteilung angestanden seien – ohne dass sie mit jemandem sprechen konnten.

Hinter den Kulissen versuchte Amazon, die Probleme in den Griff zu bekommen: Wie verschiedene altgediente Mitarbeiterinnen des JFK8 und von anderen Standorten erzählen, seien viele Stunden aufgewendet worden, um Fehler zu beheben und dafür zu sorgen, dass die Regeln von Amazon fair angewendet wurden. Auch weitere Probleme, mit denen die Stunden­löhner konfrontiert waren, sollten angegangen werden – wie etwa der Zusammenbruch des öffentlichen Verkehrs während der Pandemie oder die Kinderbetreuung.

Derweil wurden viele Aufgaben, die eigentlich in den Zuständigkeits­bereich der Personal­abteilung gehören, auf die Mitarbeiter abgewälzt. Mit der App «A bis Z» konnten die Angestellten ihr Arbeitsverhältnis überblicken, vom Lohn bis zu Änderungen bei den Schichtplänen. Grundsätzlich kam die App beim Personal gut an, aber den menschlichen Kontakt konnte sie nicht ersetzen, wie die App-Bewertung eines Arbeiters zeigt: «Den Mitarbeitern sollte es möglich sein, auch mit jemandem persönlich zu sprechen, nicht nur mit einem virtuellen Chat-Roboter. Insbesondere dann, wenn sie die Kündigung erhalten, weil die Chat-Mitarbeiter Dinge vergessen oder nicht weitergeben.»

Amazon-Sprecherin Nantel sagt, die Technologie sei dafür gedacht, den Mitarbeiterinnen viele Kommunikations­möglichkeiten zu eröffnen, sie soll aber nicht persönliche Kontakte ersetzen. Nantel fügt an, dass die Personal­abteilung, die zuständig für die Logistikzentren ist, seit 2019 um 60 Prozent gewachsen sei, parallel mit dem Ausbau der Anzahl Stunden­löhner. Im Zentrum JFK8 sei das Personal­team für die mehr als 5000 Angestellten seit dem Start der Pandemie von 24 auf 34 Personen vergrössert worden.

Dangelo Padilla vom Amazon-Büro in Costa Rica hat die Konsequenzen gezogen und Amazon im Sommer 2020 verlassen, weil die Arbeit mit den Urlaubs­anträgen «meine mentale Gesundheit und meine Stabilität zerstört hat», wie er sagt. Im vergangenen Mai ist er in das Unternehmen zurückgekehrt, in ein Team, das nichts mit Urlaubs­anträgen zu tun hat.

Dokumente, die nie ankommen

Im Juni 2020 verschlimmerte sich der Zustand von Alberto Castillo. Die Ärztinnen sagten seiner Frau, dass er nie mehr werde sprechen, essen oder arbeiten können. Besuchen konnte sie ihren Mann wegen der Virus-Restriktionen nicht. Ann Castillo richtete in ihrer kleinen Wohnung eine Trauerecke mit Bildern ein, sie zeigen die vierköpfige Familie bei kirchlichen Festivitäten, beim Sport oder mit Halloween-Kostümen. Am Vatertag standen die beiden Kinder des Paars vor der Klinik, in der Castillo behandelt wurde, mit Postern, auf denen sie ihre Liebe zum Vater zeigten.

Die Krankenversicherung, die von Amazon zur Verfügung gestellt wurde, zahlte die meisten Kosten der medizinischen Rechnungen; aber Ann Castillo entdeckte, das Amazon die Zahlungen plötzlich einstellte. «Ich sendete die medizinischen Formulare an Amazon, wusste aber nicht, ob sie bei irgend­jemandem ankamen», sagt Ann Castillo. Der Traum vom Haus, den sie mit ihrem Mann zusammen gehabt hatte, war verblichen; jetzt musste Castillo jeden Penny zählen und Spenden von Freundinnen annehmen.

Der zuständige Personalmanager vom JFK8 entschuldigte sich später und überwies die während zehn Wochen ausgebliebenen Zahlungen. Amazon sagt, die Dokumente, die Ann Castillo gesendet habe, seien nie beim zuständigen Fallbetreuer gelandet; ein System­problem, das auch andere Fälle betroffen habe.

Im Logistikzentrum JFK8 kehrten derweil die Arbeiterinnen nach und nach zurück. Gleichzeitig kündigte Amazon an, dass die Lohn­erhöhung von 2 Dollar pro Stunde und die doppelt vergüteten Überstunden gestrichen würden. Die Extraleistungen seien keine «Gefahrenzulage» während der Pandemie gewesen, hiess es, sondern ein Anreiz, damit wieder mehr Leute zur Arbeit erschienen. Die Entscheidung, die Mitarbeiter zurück zur Arbeit zu bewegen, steuerte das Unternehmen in die profitabelste Ära seiner Geschichte. Ende Mai 2020 war JFK8 eines der leistungs­fähigsten Logistik­zentren im Konzern. Innert einer einzigen Woche wurden 1,68 Millionen Artikel umgeschlagen.

Produktivität steht an erster Stelle: Blick ins Amazon-Logistik­zentrum in New York. Chang W. Lee, The New York Times

Für JFK8-Managerin Traci Weishalla und ihre Kollegen war klar, was der Schlüssel war, um Tausende von Mitarbeiterinnen auf dieses Leistungs­niveau zu bringen: das Tempo vorgeben.

Geschwindigkeit war essenziell, aber ebenso wichtig war es, dass das Logistik­zentrum den richtigen Rhythmus aufrechterhalten konnte: Wenn neue Waren eintrafen und schneller ausgepackt wurden, als sie für den Versand vorbereitet werden konnten, konnte es zu einem Warenstau kommen. Das Logistik­zentrum war ein Organismus in einem grösseren Ökosystem von weiteren derartigen Zentren, und die Koordination mit den anderen Standorten und der Flotte von Zustellerinnen erforderte, dass mit einem konsistenten Puls gearbeitet wurde.

Die Macht der Metrik

Zwei Messgrössen dominieren die Schichten der meisten Stunden­löhnerinnen. Einerseits zeigt eine ständig schwankende Zahl an ihrer Arbeitsstation an, wie schnell sie arbeiten. Andererseits gibt es die «arbeitsferne Zeit»: Hierbei wird jede Sekunde gemessen, in der die Arbeiterinnen sich nicht ihrer Aufgabe widmen. Dazu gehören etwa ein Gang auf die Toilette, die Fehler­suche an defekten Maschinen oder Gespräche mit Arbeits­kollegen. Aus beiden Metriken wird dann die Produktivität jeder Mitarbeiterin berechnet.

Der frühere Amazon-Personalmanager David Niekerk sagt, das Messen der Produktivität sei in einem so analytisch tickenden Konzern wie Amazon sehr verführerisch. Seit der Einführung des Systems sei aber auch immer wieder debattiert worden. Niekerk selbst war stets skeptisch. Er findet, dass «Produktivitäts­metriken immer eine beängstigende Sache sind». Denn wenn sich ein Mitarbeiter einen Ausrutscher leistet, «gerät man in Rückstand». Niekerk kämpfte vergebens gegen das System an. Amazons Versprechen gegenüber der Kundschaft, schnell zu liefern, habe einen «multiplizierenden Effekt auf den Bedarf an höherer Produktivität» zur Folge, so Niekerk.

In neueren, roboter­dominierten Logistik­zentren wie JFK8 stehen diese Metriken im Zentrum von Amazons Geschäfts­tätigkeit. Eine einzige Frontline-Managerin kann die Leistung von 50, 75 oder sogar 100 Arbeitern überprüfen – an ihrem Laptop. Automatisch generierte Berichte signalisieren, wenn jemand die Ziele nicht erfüllt. Eine Arbeiterin, deren Leistung zu langsam oder deren arbeits­ferne Zeit zu hoch ist, riskiert eine Verwarnung oder die Kündigung. Wenn ein Mitarbeiter etwas anderes tut, als seiner Kernaufgabe nachzugehen, geht das System davon aus, dass er die Schuld daran trägt.

Den Managern im Logistik­zentrum wurde aufgetragen, die Arbeiterinnen zu fragen, was der Grund dafür sei, wenn sie zu viel arbeits­ferne Zeit anhäufen. Wenn der Mitarbeiter eine glaubhafte Entschuldigung vorbringen konnte, wie etwa die Störung an einer Maschine, dann konnte die Managerin manuell einen Code erfassen, um die arbeits­freie Zeit zu legitimieren. Interne Dokumente zeigen, dass die Führungs­kräfte instruiert wurden, nur diejenigen Mitarbeiterinnen auf die arbeits­freie Zeit anzusprechen, die zu den «Top-Tätern» gehörten.

Laut Pressesprecherin Nantel waren 2019 weniger als 1 Prozent der Kündigungen auf mangelnde Leistung oder zu viel Zeit fern der Kernaufgabe zurückzuführen.

Dass Probleme mit der arbeitsfernen Zeit nur selten zu Kündigungen führen, ist den Arbeiterinnen aber nicht bekannt. Das Ziel, wie es die internen JFK8-Richtlinien umreissen, ist es, «eine Umgebung zu schaffen, in der wir nicht jeden aufschreiben, sondern in dem die Mitarbeiterinnen wissen, dass wir die arbeitsferne Zeit auditieren». Jedoch ist für die Angestellten nicht sichtbar, wie viel arbeits­ferne Zeit sie angehäuft haben, was zu erhöhten Ängsten führt. Es machte die Runde, das «Amazonianer» nicht einmal Zeit für einen Toiletten­gang haben; eine Fehl­wahrnehmung, die aber auf echten Befürchtungen beruht. Einige Mitarbeiterinnen haben den Ablauf ihres Arbeitstages minuten­genau aufnotiert, nur für den Fall.

Ofori Agboka, oberster Leiter des Personal­wesens für die Logistikzentren, sagt, dass die arbeitsferne Zeit dazu diene, Erschwernisse zu identifizieren, mit denen die Mitarbeiter konfrontiert würden. «Wir möchten nicht, dass unsere Angestellten mit dem Gedanken zwischen Produktivität und Kündigung leben müssen.»

Einige Angestellte, wie etwa Arthur Turner, empfanden das System als fair: «Wenn du hierherkommst und das Richtige tust, wenn du allen Abläufen folgst, wie sie es dir auftragen, dann bekommst du keine Probleme.» Auch die 32-jährige Dayana Santos, die seit 2019 im JFK18 arbeitet, schätzt die Metriken. «Wie kann ich meine Arbeit effizient erledigen, wenn es die Person neben mir nicht tut?», fragt sie, die mit einigen Kollegen sogar Arbeits-Wettrennen veranstaltete – aus Spass, wie sie sagt.

Black Lives Matter

Doch auch die wohlmeinenden Mitarbeiterinnen sind nicht vor den Auswüchsen des Systems gefeit. Nach Monaten des Lobes von ihren Chefs hatte Dayana Santos einen schlechten Tag. Sie arbeitete im Bereich, wo Roboter das Personal beim Zusammen­stellen von Artikeln unterstützen, aber an diesem Tag hatte der Bus Verspätung, und sie wurde in die Komissionierungs­abteilung geschickt. Nach dem Mittagessen erhielt sie eine neue Aufgabe – diese Information drang aber nicht bis zu Santos durch. Als sie zu ihrer Kommissionierungs­station zurückkehrte, war diese bereits besetzt. Sie durchquerte das Logistik­zentrum, um eine andere Station zu finden. Vom System wurde das als arbeitsferne Zeit taxiert.

Noch am selben Nachmittag stellte Santos erstaunt fest, dass sie soeben gefeuert worden war.

Es sind solche Geschichten, die die Arbeiter noch vor dem ersten Arbeitstag einschüchtern, wie Paul Stroup und seine Forschungs­teams im Haupt­quartier von Amazon herausfanden. «Jeder in deinem Umfeld hat irgendwann einmal bei Amazon gearbeitet», sagt Stroup. «Du hast Versatz­stücke von Informationen, die dir beim Abendessen oder von Freundinnen erzählt werden.»

Experimente von einem von Stroups Teams ergaben, dass das aktive Anspornen von Mitarbeiterinnen sie nicht produktiv genug machte, um den zusätzlichen Aufwand wert zu sein. Das Team witzelte, dass, wenn man einer Arbeiterin 5 Dollar in die Hand drückte, «dies einen besseren Einfluss auf die Produktivität hätte als wenn eine Vorgesetzte zu dir kommt und dir sagt, dass du in der Vorwoche schlecht gearbeitet hast». Doch Stroups Arbeit an diesem Thema geriet ins Stocken, als die Pandemie dringendere Prioritäten setzte.

Im Sommer 2020 wuchs der Widerstand gegen Amazons Richtlinien. Mit dem Wegfallen der Covid-Entschädigung und dem Aufflammen der Proteste rund um Black Lives Matter in ganz Amerika erhob sich eine kleine Gruppe von schwarzen Mitarbeitern im Logistikzentrum Bessemere, Alabama, gegen die Art, wie Amazon Zeit-Mikromanagement gegen die Angestellten betrieb.

In New York machte Dayana Santos ihren eigenen kleinen Aufstand. Amazon wollte ihr keine Arbeitslosen­leistungen bezahlen, mit der Begründung, dass Santos nicht grundlos entlassen worden sei. Sie wehrte sich, und ein Verwaltungs­gericht schlug sich auf ihre Seite, mit der Begründung, dass Santos nie eine Warnung bekommen habe und dass Amazon nicht beweisen könne, sie habe sich von der Arbeit ferngehalten.

Im Hochsommer 2020 landete eine Nachricht von JFK8-Managerin Weishalla in den E-Mail-Inboxen der Mitarbeiterinnen: Das «Produktivitäts-Feedback» werde wegen der Pandemie suspendiert. Dies bedeutete, dass niemand mehr entlassen wurde, weil er zu langsam arbeitete. Verwirrenderweise hiess es in der Nachricht auch, dass es Extraminuten fürs Hände­waschen gebe – und dass die Änderungen bereits seit März in Kraft seien.

Bis zu diesen Mitteilungen hatten viele Arbeiterinnen keine Ahnung, dass Amazon eine der umstrittensten Mitarbeiter-Richtlinien gelockert hatte. Die Metriken wurden weiterhin an den Arbeits­stationen angezeigt, und die Chefinnen wurden angewiesen, ihren Untergebenen nur mündliche Informationen über die Änderung zu geben. Amazon-Sprecherin Nantel sagt, dass die Führungs­kräfte den Auftrag hatten, jede Mitarbeiterin mündlich zu informieren, sie nennt es einen «Ansatz des direkten Kontakts».

Die Mitteilungen von Weishalla wurden ausgelöst durch einen Rechtsfall, der später abgewiesen wurde und die Arbeits­situation während der Pandemie im JFK8 zum Inhalt hatte.

Der führende Kläger war Derrick Palmer.

Was braucht es für eine Anstellung? Nichts

Obwohl das Personal nun nicht mehr für schlechte Leistung abgestraft werden konnte, forderten die Führungskräfte weiterhin Tempo.

An einem Tag im Spätsommer beschränkte die damals 28-jährige Arbeiterin Thalia Morales ihre Toiletten­gänge, um ihre Produktivität zu verbessern. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus – und fand die nächste Frauen­toilette geschlossen vor. Morales wurde wütend und liess ihre Wut an einer Reinigungs­person aus. Morales wurde entlassen wegen ihrer verbalen Entgleisung, und ihr wurde gesagt, sie könne sich nie wieder bei Amazon bewerben.

Trotzdem erhielt Morales eine Meldung in ihrer Personal-App, die sie zur Rückkehr zur Arbeit aufforderte. Morales kehrte ins Logistik­zentrum zurück, sie empfand ein Gefühl der Beklemmung, beendete ihre Schicht und arbeitet heute immer noch dort. Es stellte sich heraus, dass ihre Kündigung nicht richtig abgewickelt wurde – Amazon beging einen Fehler zu ihrem Vorteil.

Ende September 2020 machte eine Neuigkeit die Runde im JFK8 und an anderen Standorten: Die Schonzeit war schon wieder vorbei, die Produktivitäts­ziele wurden wieder in Kraft gesetzt; die Weihnachtszeit stand vor der Tür, und es wurde erwartet, dass eine Zeit käme wie nie zuvor.

Am 13. Oktober 2020 wurde die JFK8-Bushaltestelle geflutet mit Arbeiterinnen, die massenweise neu angestellt wurden; in einem Ausmass, wie es in der Geschichte der amerikanischen Wirtschaft noch nie da gewesen war. Es war «Prime Day», der von Amazon erfundene Shopping-Feiertag, mit dem die Weihnachts­saison eröffnet wurde. Um die Arbeitslast zu bewältigen, hatte das Logistik­zentrum Freunde und Familien­mitglieder der Arbeiterinnen eingestellt – ohne jegliche Bewerbungsgespräche.

Kevin Michelus, 60 Jahre alt und pensioniert nach einem Leben mit Gelegenheits­jobs, fand seinen Weg zu Amazon über eine Postkarte, die die Arbeits­stellen anpries. «Kein Lebenslauf, keine Berufserfahrung wurden gefordert», sagt er. «Ich habe noch nie von einem solchen Job gehört.» Er und andere Neulinge wurden schon nach einer kurzen Online-Überprüfung eingestellt. Intern beschreiben einige Amazons automatischen Anstellungs­prozess als «Anstellung bei ausgeschaltetem Lichtschalter», wo die Algorithmen Entscheidungen fällen und Amazon nur begrenzt weiss, wer hier überhaupt zur Tür hereinspaziert.

Das war ganz im Sinne von Amazon-Gründer Jeff Bezos, wie sich der Ex-Manager David Niekerk erinnert. Amazons Personalbedarf ist so gross, dass die Bewerbungen nicht mehr sein sollen als eine Checkbox auf einem Computer­bildschirm. Bezos sah automatisierte Beurteilungen als konsistente, unvoreingenommene Möglichkeit, um motivierte Mitarbeiterinnen zu finden, sagt Niekerk.

Während der Pandemie wurden Hunderte neuer Mitarbeiterinnen eingestellt. Einige von ihnen müssen jeden Tag mehrere Stunden pendeln, um dann ihre 12-Stunden-Schicht anzutreten. Dave Sanders, The New York Times

Schon ein paar Wochen nach der Anstellungs­offensive traten die ersten Probleme auf, wie Mitarbeiterinnen erzählen und wie auch ein Blick auf die internen Feedback-Boards zeigt. Schicht­pläne wurden geändert «ohne vorherigen Anruf, SMS oder E-Mail, nichts». Angestellte der Personal­abteilung waren «schwierig auffindbar», «nicht ausgebildet» und «unfähig, Reklamationen zu behandeln». Andere wunderten sich, wieso sie eine Personalmitarbeiterin aufsuchen mussten, um Fehler in der unbezahlten Freizeit zu beheben, die von der «A bis Z»-App abgezogen wurden. «Schaut euch die ganze Technologie an», schrieb ein Arbeiter, «ich bin sicher, das kann korrigiert werden.»

Einige neue Mitarbeiterinnen gerieten sofort ins Schleudern oder waren ganz ungeeignet für den Job. Michelus, der Rentner, der via Postkarte angestellt wurde, hatte eine niedrige Produktivitätsrate. Gestresst verliess er Amazon – 11 Tage, nachdem er dort angefangen hatte. Weil der öffentliche Verkehr nur eingeschränkte Betriebs­zeiten hatte, kämpften einige der neuen Mitarbeiter damit, dass sie um 2 oder 3 Uhr morgens in entlegenen Ecken der Stadt aufstehen, 3 Stunden zum Logistikzentrum pendeln und dann eine 12-Stunden-Schicht leisten mussten. Andere waren nicht vertrauenswürdig, stahlen Waren, spielten Spiele auf ihrem Smartphone während langer Pausen auf der Toilette und missbrauchten Abwesenheits­regeln.

Die Mega-Fluktuation

2019 stellte Amazon mehr als 770’000 Stunden­löhnerinnen ein – und das, obwohl der Personalbestand inklusive der Angestellten in der Verwaltung nur um 150’000 Mitarbeiter angewachsen ist, wie John Philipps, der einst bei Amazon für die Massen­einstellungen verantwortlich war, auf dem Online­portal Linkedin schrieb. Dies bedeutete, dass das Äquivalent der ganzen Belegschaft von Amazon – rund 650’000 Menschen bei Jahresbeginn – das Unternehmen bei Jahres­ende verlassen hatten und ersetzt worden waren.

Für 2020 wollte uns Amazon keine Zahlen nennen.

Für einige funktionierten die temporären Jobs gut. Stephen Ojo, ein Tänzer aus Brooklyn, begann im Frühling im JFK zu arbeiten. «Es war ein guter Weg für mich, um etwas zusätzliches Geld zu verdienen, es gab keine Termin­probleme und passte damals in mein Leben», sagt er. Aber er wusste, dass er seine Zukunft nicht bei Amazon verbringen würde. Er wurde zum Star in seiner Rolle als «Blue Man» in Beyoncés Film «Black Is King», der im Sommer 2020 veröffentlicht wurde; und damit war seine Zeit bei Amazon beendet.

Andere benötigten den Job. Nachdem der Rentner Michelus seine Stelle bei Amazon kündigte, stand er Tage später schon wieder an der Bushaltestelle vor dem JFK8. «Ich muss lernen, mit dem Druck umzugehen», sagte er. Amazon gab ihm wieder einen Job, und bald hat er wieder Waren für den Versand bereitgestellt.

Es ist nicht so, dass die hohe Fluktuation dem Amazon-Management keine Sorgen bereitet hätte. Mehrere ehemalige und aktuelle Amazon-Manager äusserten uns gegenüber die Befürchtung, dass es in den ganzen USA schlicht nicht genug Arbeiterinnen gebe. «Sechs oder sieben Leute, die sich auf einen Job bewerben, entsprechen einer Person, die auch wirklich ihre Arbeit aufnimmt», erklärt Paul Stroup. Wenn Amazon also seine ganze Belegschaft ein- bis zweimal im Jahr auswechselt, so Stroup, «dann braucht es 8, 9, 10 Millionen Menschen im Jahr, die sich bewerben».

Das entspricht etwa 5 Prozent aller arbeitenden Menschen in den USA.

Amazon-Sprecherin Nantel antwortete zu mehreren Fragen zur Fluktuation repetitiv mit: «Die Fluktuation ist nur ein Datenpunkt, dem, wenn er alleine verwendet wird, wichtiger Kontext fehlt.»

Stroup sagt: «Ich werde immer ein Amazon-Fan sein.» Aber während seiner Zeit im Personal­wesen des Konzerns war er enttäuscht, dass niemand «sich langfristige Gedanken machen wollte» über Amazons schnelle Mitarbeiter-Zyklen. «Wir nutzen die Arbeiterinnen aus», sagt Stroup, «obwohl wir wissen, dass wir uns damit selber schaden.»

Stroup verliess Amazon ebenfalls. Nach neun Jahren im Unternehmen wechselte er zu Shopify, einer anderen E-Commerce-Firma. Er hofft, dass sein Wissen dort eine grössere Wirkung hat.

Heute vergleicht er die kurzsichtige Personal­strategie von Amazon mit dem Umstand, dass die Menschheit immer noch fossile Brenn­stoffe nutzt. «Wir hören nicht auf damit», sagt er, «obwohl wir uns langsam zu Tode kochen.»

Angestellte haben keinen Wert

Im Dezember 2020 steht Ann Castillo vor ihrem Wohnblock. Sie hat entschieden, ihren Mann, der sich nun in Hospiz­fürsorge befindet, nach Hause zu holen und sich selber um ihn zu kümmern. Trotz der von Amazon finanzierten Langzeit-Invaliditäts­versicherung wird sie wohl in eine Sozial­wohnung ziehen müssen. «Wenn er stirbt, so ist er wenigstens bei uns», sagt Ann Castillo. Sie hat die Hoffnung aufgegeben, dass irgend­jemand im JFK8 weiss, was mit ihrem Mann geschieht. «Es hat nie jemand angerufen und sich nach seinem Befinden erkundigt», sagt sie.

Nur einen Augenblick später erreichen mehrere Notfall­fahrzeuge mit Blaulicht den Parkplatz vor dem Wohnhaus. Angestellte der Stadt steigen aus und erklären Ann Castillo, sie könne Tag und Nacht anrufen, wenn sie Unterstützung benötige. Dann fährt ein Ambulanz­wagen vor; mit vereinten Kräften wird Alberto Castillo in die Wohnung gebracht.

Ann Castillos Mann Alberto wird von der Klinik zurück nach Hause gebracht. Sie will sich selber um ihn kümmern. Amazon hatte zwischen­zeitlich die Krankenkassen­leistungen eingestellt – niemand in der Firma wusste, was mit dem ehemaligen Mitarbeiter los ist. Sarah Blesener, The New York Times

Ann Castillos eigener Arbeitgeber, ein gemeinnütziger Anbieter für häusliche Krankenpflege, überhäufte sie mit Unterstützung, arrangierte doppelt so viele Besuche von Pflege­personal als üblich, spendete extra Pflegezeit und Geld von einem Notfall­fonds. Castillos Umfeld und sogar unbekannte Menschen haben ihr Unterstützung angeboten: Die Lehrer, aber auch die Fussballkolleginnen und Trainer ihrer Kinder, Kirchenvertreterinnen und alte Freunde von den Philippinen sandten Lebens­mittel, Mahlzeiten, Geschenk­karten und Geld.

Nachdem sich die Autorinnen dieses Artikels bei Amazon über den Fall Castillo erkundigt hatten, meldeten sich ein Vertreter der Personal­abteilung und ein JFK8-Mitarbeiter bei Ann Castillo. Eine Sprecherin äusserte ihr Bedauern, dass Ann Castillo sich nicht genügend unterstützt fühlt. Agboka, Leiter des Personal­wesens, sagte in einer Stellungnahme: «Wir schliessen Sie, Ihren Mann und Ihre Liebsten in unsere Gedanken und Gebete ein.»

Im Logistikzentrum JFK8 war Traci Weishalla inzwischen zur Geschäfts­führerin befördert worden. Sie verfolgte praktisch jede verfügbare Metrik über den Bedarf im JFK8, die Anwesenheit des Personals und das Inventar. Aber sie hatte keinen Überblick darüber, wie viele Mitarbeiter sich mit Corona infiziert hatten. «Das ist keine Zahl, die ich täglich verfolge; es ist schwierig, das zu quantifizieren», sagte sie in einem Interview. «Niemand schickt mir diese Zahlen.»

Amazon-Sprecherin Nantel sagt, Weishalla habe über ein Online­portal Zugriff auf die Fallzahlen gehabt und sei gut über die Situation im JFK8 informiert gewesen.

Wo sind die Corona-Kranken?

Der Sprint der Festtage im Logistik­zentrum, «Peak» genannt, begann zum selben Zeitpunkt, als die zweite Corona-Welle auf die Region prallte. Ab Oktober 2020 bot Amazon im JFK8 gratis Corona-Tests für die Belegschaft an. Es teilte den Angestellten aber nicht die Namen der Infizierten mit, aus Gründen des Persönlichkeits­schutzes; es gab auch keine Hinweise, in welchen Bereichen oder Schichten Corona-Fälle auftauchten.

Als Folge davon vernahmen die Mitarbeiterinnen auf inoffiziellen Wegen von positiven Fällen, und das setzte die Gerüchte­küche in Gang. Gegenüber Derrick Palmer erklärte eine Arbeiterin, dass sie krank sei; es erfolgte aber keine weitergehende Information. Palmer konfrontierte seine Chefs damit, und sie konnten ihm nicht erklären, weshalb die Information zurückgehalten wurde. Für ihn war nach diesem Vorfall klar, dass Amazon nicht transparent über die Virus-Bedrohung informierte; auch weil es nie Zahlen über das Ausmass der Covid-Infektionen im Betrieb gab.

Amazon-Sprecherin Nantel sagt, das sei ein Fehler gewesen – und fügte hinzu, dass es nur einen weiteren ähnlichen Fall gab, bei dem die Information nicht weitergegeben worden sei.

Laut den Daten der Stadt und Akten, die Amazon aufgrund eines Rechtsfalls offenlegen musste, hatte das Logistik­zentrum JFK8 zwischen März 2020 und März 2021 mindestens 700 bestätigte Corona-Fälle. Da im Frühling 2020 in New York nur wenig getestet werden konnte, ist davon auszugehen, dass die wahren Zahlen viel höher liegen.

Je näher Weihnachten rückte, desto mehr zeichnete sich im JFK8 ein neuer Rekord ab: «Gratulation ans Team für über eine Million Einheiten in 24 Stunden – damit haben wir das Vorjahr übertroffen», freute sich JFK8-Managerin Weishalla auf Linkedin. Die Mitarbeiter «erreichten das Unmögliche», schrieb eine andere Managerin. Bald wurde Weishalla erneut befördert, nun ist sie für mehrere Amazon-Logistikzentren im mittleren Westen zuständig.

JFK8 war nur ein kleiner Bestandteil von Amazons Erfolg. Von Oktober bis Dezember 2020 verkaufte Amazon Waren im Wert von 125,6 Milliarden US-Dollar. Im Pandemie­jahr 2020 zahlte Amazon 44 Milliarden für das Leasen von Flugzeugen, die Konstruktion von Daten­zentren und die Eröffnung neuer Logistik­zentren – und erarbeitete trotzdem einen Gewinn von 21 Milliarden Dollar. Darüber hinaus zahlte Amazon im Pandemie­jahr weltweit 2,5 Milliarden Dollar an Extra­zulagen für die Mitarbeiterinnen aus. Für die Arbeit während der Feiertage gab es zudem saisonale Boni: Arbeiterinnen in den Logistikzentren erhielten 500 Dollar; Teilzeit­mitarbeiter 250 Dollar.

In Facebook-Gruppen teilten Angestellte von Amazon-Standorten im ganzen Land Bilder der Motivations­nachrichten und Belohnungen, die sie von ihren Vorgesetzten erhielten. Einige Mitarbeiter gewannen Heissluft­fritteusen oder erhielten einen USB-Stick für das Amazon-eigene TV-Angebot «Fire». Im Bundesstaat Connecticut sandte ein Manager Nachrichten an die Mitarbeiterinnen, wonach sie Süssigkeiten gewinnen konnten, wenn sie an ihren Stationen mehr als 400 Produkte pro Stunde verarbeiten – das wäre ein Artikel pro 10 Sekunden. An einem anderen Standort wurde während der Weihnachtszeit ein Schild aufgehängt: «Der heutige Snack: eine Banane, erhältlich von 9 bis 19 Uhr».

In Ohio erhielten die Angestellten Rubbellose und konnten Preise gewinnen. Ein Arbeiter rubbelte zwei Lose mit derselben Nachricht frei: «Bitte versuchen Sie es noch einmal.»

Winds of change

In den ersten Wochen im neuen Jahr unternahmen Derrick Palmer und sein Kollege Chris Smalls einen 16-Stunden-Roadtrip nach Bessemer, Alabama. Dort wollten sie Zeuge eines der stärksten Vorstösse werden, die Amazon-Mitarbeiterinnen unternahmen, um ihren Status im Unternehmen zu verbessern. Die schwarzen Mitarbeiter, die Amazons allererste Gewerkschafts­abstimmung angestossen hatten, stellten ihre Behandlung als eine Frage der Rassen­gerechtigkeit dar. Sie kritisierten das System mit der «arbeitsfernen Zeit» und weiteren Mess­methoden der Produktivität und nannten ihre Kampagne eine Mission für mehr Respekt am Arbeitsplatz.

Amazon startete eine Gegen­offensive und warnte mit Schildern, Text­nachrichten und an obligatorischen Treffen, dass Gewerkschafts­verhandlungen die guten Jobs und die Leistungen für die Mitarbeiterinnen gefährden würden. Schlussendlich war das Abstimmungs­resultat deutlich: Die Angestellten sprachen sich gegen eine Gewerkschafts­gründung aus.

Zurück in New York im Logistikzentrum JFK8 begaben sich Palmer und Smalls auf eine neue Mission. Sie begannen, Hunderte von Unterschriften zu sammeln, um JFK8 gewerkschaftlich zu organisieren. Amazon schlug wie schon in Bessemer zurück, hing entmutigende Botschaften in den Toiletten und am Gebäude­eingang auf. Palmer, der weiterhin im Logistik­zentrum Pakete verpackte, während die Firma gegen seine Bemühungen vorging, fühlte, wie sich der Druck auf ihn erhöhte.

Endlich eine Gewerkschaft gründen: Die Freunde Chris Smalls (links) und Derrick Palmer protestieren mit weiteren Arbeits­kolleginnen auf dem Parkplatz des Amazon-Logistikzentrums.Dave Sanders, New York Times

Aber zur selben Zeit schienen die Proteste in Alabama zu einem unerwarteten Moment der Anerkennung durch Amazon zu führen. Die Klagen, die im Logistik­zentrum Bessemer zu hören waren, wurden auch von Arbeiterinnen an anderen Standorten im ganzen Land aufgenommen. Und soeben war mit Joe Biden ein neuer, arbeitnehmer­freundlicherer Präsident ins Weisse Haus eingezogen. Das Virus hatte fundamentale Fragen über Amazons Beziehungen zu seinen Angestellten ans Licht gebracht, und die erstarkende Wirtschaft gab den Arbeitern neue Handlungsmacht – was für ein Unternehmen wie Amazon zum Problem werden könnte.

In den letzten Monaten von Jeff Bezos’ Amtszeit als Amazon-CEO bekam das Modell der gewollten hohen Fluktuation Risse, und die Bedenken über Amazons Umgang mit seinen Arbeiterinnen, die für den Aufstieg von Amazon ja wesentlich waren, trübten Bezos Vermächtnis. Während der Pandemie explodierte Bezos persönliches Vermögen von 100 Milliarden Dollar auf über 190 Milliarden. Er liess sich eine Superjacht für 500 Millionen Dollar bauen. Und er bereitet seinen ersten Weltraumflug vor, nachdem er Milliarden in sein Raumfahrt­unternehmen «Blue Origin» investiert hat.

Bezos Aussage kurz vor seinem Abtritt als CEO, er wolle, dass Amazon der «weltweit beste Arbeitgeber» werde, warf Fragen auf. Zum Beispiel: Was bedeutet dies genau? Und wie weit würden er und seine Nachfolger dafür gehen?

Schon bald erhöhte Amazon die Löhne wieder. Die Anfangs­gehälter im JFK8 wurden um 50 Cent nach oben angepasst und betrugen neu 18,25 Dollar. Das Unternehmen kündigte Sicherheits­programme und Diversity-Pläne an, inklusive des Ziels, dass «Mitarbeiter zu statistisch ähnlichen Verhältnissen über alle Demografien hinweg» angestellt werden sollten – ein implizites Zugeständnis, dass die Zahlen zwischen den verschiedenen Ethnien bislang nicht ausgeglichen waren. Weishallas Nachfolger im JFK8 hielten wöchentliche Talentförderungs­anlässe ab, um sicherzustellen, dass auch Schwarze und Latinos Aufstiegs­chancen bekamen.

Personalchef Ofori Agboka erklärte, Amazon hätte zu stark auf Technologie vertraut, um die Mitarbeiterinnen in den Logistik­zentren zu verwalten. «Wir dachten, dass es gut ist, wenn die Angestellten ihre Personal­anliegen selber bearbeiten können, aber es zeigte sich, dass es nicht die einzige Lösung sein kann», sagt er. «Jede Erfahrung zählt. Und wenn die Erfahrung nicht richtig ist, dann müssen wir etwas ändern.»

Trotzdem bleibt unklar, wie entschlossen Amazon wirklich ist, um seine Systeme für Produktivität, Automation und hohe Fluktuation zu überdenken. Denn es sind genau diese Systeme, die das Unternehmen so erfolgreich gemacht haben.

In Seattle beobachtet Paul Stroup, dessen Teams Amazons Angestellte im Stundenlohn studierten, die jüngsten Entwicklungen. Er fühlte sich gefangen zwischen Skepsis und Hoffnung, dass Amazon endlich seine besten Qualitäten auch zum Nutzen seiner Arbeiterinnen einsetzen würde: Eine Neigung für frisches, aufgeschlossenes Denken und das Lösen von schwierigen Problemen. «Das wäre eine ausser­ordentliche Sache für Stunden­löhner in allen Branchen», schrieb Stroup in einem Beitrag auf dem sozialen Netzwerk Linkedin. «Bezos’ jüngste Anmerkungen lassen in mir die Hoffnung aufkommen, dass sich Dinge ändern können; aber es könnte zu spät sein, um den Schaden rückgängig zu machen, der angerichtet wurde.»

«Jetzt lasst uns mal sehen», so Stroup, «ob sie innovativ genug sind, um da wieder rauszukommen.»

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