Minsker Alltag abseits der Proteste: Impressionen aus der belarussischen Hauptstadt, eingefangen 2020 und 2021.

«Das ist das Problem: Es spielen alle dasselbe Spiel. Aber mit verschiedenen Regeln»

Aufbruchstimmung in Belarus hat Volha Hapeyeva schon einmal miterlebt. Diesmal schaut die Autorin aus dem Exil auf die Ereignisse in ihrem Land. Was denkt sie über Heimat, politischen Widerstand und das Lernen aus der Geschichte?

Ein Interview von Daniel Graf (Text) und Jana Nizovtseva (Bilder), 13.07.2021

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Wir sprechen am Rande des Literatur­festivals Leukerbad. Volha Hapeyeva ist nicht aus Belarus angereist, sondern aus München. Bereits vor zwei Jahren hat sie ihr Land auf unbestimmte Zeit verlassen, ein Jahr vor der friedlichen Revolution, auf die das Regime unter Alexander Lukaschenko seither mit brutaler Gewalt und Repression reagiert.

Vergangenen Mittwoch hat die Schweiz die Sanktions­liste gegen Belarus ausgeweitet, die sie erlassen hatte, nachdem der belarussische Präsident Ende Mai die Zwangs­landung einer Ryanair-Maschine und die Verhaftung des Bloggers Roman Protassewitsch sowie von dessen Freundin Sofia Sapega angeordnet hatte. Auch die EU hatte zuvor mit Sanktionen geantwortet.

Lukaschenko reagierte darauf mit einem Besuch bei Wladimir Putin in Sotschi. Eines der Fotos, das dabei auf Putins Jacht entstanden ist, habe ich zum Gespräch mitgebracht.

Zwei Staatspräsidenten markieren Sorglosigkeit. Sergei Ilyin/Sputnik/Kremlin Pool Photo/AP/Keystone

Frau Hapeyeva, dieses Foto ging um die Welt. Was sehen Sie darauf?
Ich glaube, einfach zwei unglückliche Menschen. Vielleicht halten sie sich ja für einzigartig. Aber es sind nur Menschen wie wir alle, und es ist schade, dass sie glauben, es sei anders.

Wenn Sie diesem Bild einen Titel geben müssten, wie würde er lauten?
(lacht, überlegt dann einige Sekunden) «So viele Masken».

Solche Fotos kommen nicht zufällig in Umlauf. Was ist die Botschaft eines solchen Bildes?
Entgegen der Intention der Macht­haber ist dieses Bild eine gute Metapher für die heutige Situation. Es erklärt, warum die Lage in Belarus so ist, wie sie jetzt ist, und warum die Menschen, die nicht mit der Regierung einverstanden sind, es so schwer haben, etwas gegen sie zu unternehmen. Denn an Lukaschenkos Seite steht die grosse Macht namens Russland. So laufen die Spiele in der politischen Weltarena, und Belarus ist mit 10 Millionen Einwohnern ein relativ kleines Land, dessen Geschichte schon seit Jahr­hunderten durch seine geopolitische Lage bestimmt wird.

Eine Geschichte, die natürlich sehr viel älter ist als der jetzige, noch sehr junge Staat Belarus.
Als ich Schülerin war, haben wir die Landes­geschichte seit dem Altertum und besonders seit der Zeit des Gross­fürstentums Litauen studiert und waren auch stolz darauf. Weil aber das heutige Belarus relativ jung ist, denken viele, dass das Land keine Geschichte hat oder diese mit den Bolschewiki anfängt. Das ist grundlegend falsch.

Zur Person

Volha Hapeyeva, 1982 in Minsk geboren, schreibt Literatur in vielen Gattungen: vorwiegend Lyrik, aber auch Prosa, Theater­stücke und Kinder­bücher. Ihre Gedichte wurden in über zehn Sprachen übersetzt, auf Deutsch erschien der Band «Mutanten­­garten». Zuletzt kam ihr Debüt­roman «Camel Travel» heraus. Hapeyeva ist promovierte Linguistin und überträgt Literatur aus zahlreichen Sprachen. Aus dem Deutschen übersetzte sie unter anderem Prosa von Robert Walser sowie Essays und Lyrik von Nora Gomringer ins Belarussische. Sie ist Mitglied des PEN-Zentrums Belarus und lebt derzeit in München.

Wie würden Sie die Erzählungen über Belarus aus der Zeit vorher beschreiben?
Die Zeit des Gross­fürstentums Litauen, beginnend mit dem 14. Jahr­hundert, war tatsächlich ein goldenes Zeitalter für Belarus. Die alte belarussische Sprache, das Ruthenische, war dort bis 1697 die Kanzlei­sprache. Das Litauische Statut aus dem 16. Jahr­hundert wurde auf Ruthenisch geschrieben. Und später, 1791, wurde in Polen-Litauen zum ersten Mal in Europa eine Verfassung vom Parlament verabschiedet. Russland, Moskau oder die Moskauer Kurfürsten, das war ganz etwas anderes. Belarus war immer Teil von Europa. Ein zweites goldenes Zeitalter, eine zweite Renaissance, bildete die kurze Zeit­spanne von 1900 bis zu den 1920er-Jahren. In dieser Zeit entstanden etwa zahlreiche belarussische Wörter­bücher, die Intelligenzija schrieb über die Grammatik der belarussischen Sprache – ich bin Linguistin, deshalb spreche ich immer besonders über die Sprache. 1918 wurde die Weissrussische Volks­republik gegründet, als erster unabhängiger belarussischer Staat.

Und dann?
Dann kamen 1919 die Bolschewiki und gründeten die Belarussische Sozialistische Sowjet­republik. Die Rada, also der Rat der Weiss­russischen Volks­republik, musste ins Exil gehen. Es folgte die Gründung der Sowjet­union, danach die Stalin-Zeit mit all ihren Repressionen. Fast unsere gesamte Intelligenzija wurde damals getötet oder nach Sibirien geschickt. So wurde es sehr, sehr schwierig, Kultur und Literatur wieder aufzubauen.

Eingang zur Metrostation Molodjoschnaja.
Das Minsker Stadttor beim Bahnhofplatz.

Sie sind noch in der Sowjetunion geboren, haben die Zeit der Wende erlebt. Und dann gab es ein paar wenige Jahre, bevor Lukaschenko an die Macht kam. Was ist in dieser Zeit passiert?
Die Jahre von 1991 bis 1994 würde ich die dritte Renaissance von Belarus nennen. Man konnte freier atmen, und ich erinnere mich, dass das auch danach noch ein paar Jahre so war, bis vielleicht um 2000 herum. Die Erfahrung der Demokratie war noch spürbar. Es gab Avantgarden in Kultur und Literatur, man konnte Festivals organisieren, Kritik üben, diskutieren, sogar ein Amtsenthebungs­­­verfahren gegen Lukaschenko war im Gespräch. Aber dazu ist es nicht gekommen, leider.

Sie haben die Stalin-Zeit angesprochen. Wenn Sie jetzt die öffentlichen Auftritte sehen, bei denen Roman Protassewitsch offenbar mit drastischen Mitteln zur Selbst­verleugnung gezwungen wird: Erinnert Sie das an stalinistische Schauprozesse?
Das war mein erster Gedanke, als es nach den Präsidentschafts­wahlen die Proteste gab und dann die Verhaftungen begannen: Es ist jetzt wieder 1937. Wir wollen offenbar nicht aus der Geschichte lernen. Die historische Entwicklung in Belarus verläuft nicht als Linie, sondern wie eine Spirale. Oder nicht einmal das, denn bei einer Spirale geht es immer ein bisschen höher. Aber ich glaube, in Belarus verläuft die Linie als Kreis, und wir finden den Ausweg nicht.

Welchen Preis muss Lukaschenko für seine Unter­stützung durch Wladimir Putin bezahlen?
Es gibt die Meinung, dass er schon ganz Belarus verkauft hat.

Heisst das, die russisch-belarussische Integration wird weiter zunehmen?
Das bewegt sich in Wellen. Politik­wissenschaftlerinnen könnten das besser beschreiben. Lukaschenko hat immer versucht, auf zwei Sesseln zu sitzen, und vielleicht ist das für einen kleinen Staat sogar eine Strategie. Wenn er etwas von Russland nicht bekommt, wendet er sich an Europa und ist plötzlich ein grosser Freund von Europa. Wenn sich dann etwas ändert, ist wieder Russland unser bester Freund. Es gab auch Zeiten, da konnte man im Staats­fernsehen Kritisches über Russland hören. Und man dachte: wow, was für ein Fortschritt. Aber Lukaschenko ist wie ein Fähnchen im Wind: Wenn das Wetter sich ändert, ändern sich seine Meinung und seine Freunde.

Einkaufen im Komarowski-Markt.
Geranien vor einem Fenster.
Alte Magazine in einem Buchladen.

Vor noch nicht allzu langer Zeit waren die Bilder, die man aus Belarus sah, nicht Bilder von mächtigen Männern, sondern von protestierenden Frauen. Hat die sogenannte weibliche Revolution noch eine Chance?
In der patriarchalischen Gesellschaft: nein.

Sie gelten als eine der wichtigen feministischen Autorinnen aus Belarus. Auch wenn Sie skeptisch sind in Bezug auf die Chancen der gesellschaftlichen Veränderung: Was bedeutet es für Sie, dass die aktuelle Opposition in Belarus vor allem von Frauen getragen wird?
Für mich war es sehr wichtig zu sehen, dass so viele Menschen wirklich nicht einverstanden sind. Früher habe ich gedacht: Das sind nur die Universitäts­angehörigen, Studenten und jungen Menschen, die so denken, die grosse Masse hingegen ist einverstanden und bleibt passiv. Aber plötzlich habe ich gesehen, das sind nicht nur wir! Das zu sehen, war wichtig für uns alle. Und es war auch sehr schockierend für das Regime. Deshalb war die Unter­drückung dieser Proteste auch so massiv und so gewalttätig.

In einem Ihrer Gedichte heisst es: «meine dunkle dunkle dunkle stadt … ist sich sicher dass ich wiederkomm». Sie haben Minsk und das Land 2019 verlassen. Ist für Sie eine Rückkehr nach Belarus noch vorstellbar?
Im Moment glaube ich nein.

Wäre es wünschenswert?
Ja, sicher. Schon bevor die Protest­bewegung 2020 begann, hatten viele Belarus verlassen, weil sie nicht an die Möglichkeit einer Veränderung glaubten.

Was ist für Sie Heimat?
Ich stelle mir diese Frage schon lange, sie begleitete mich auch, als ich noch in Belarus war. In dem Land Belarus fühle ich mich zu Hause. Der Staat Belarus aber ist mir fremd. Was ich gelernt habe, ist vielleicht, dass Heimat nichts Konstantes ist. So pathetisch es klingt: Dieser Planet ist unser Heim. Wir sind nur Menschen, und es spielt keine Rolle, welcher Nation wir angehören. Wer weiss, morgen könnten auch Sie ein Flüchtling sein. Ich habe mir auch nie vorstellen können, dass ich so etwas wie jetzt in meinem Land erleben würde.

Noch ein Zitat aus Ihren Gedichten: «schweigen / ist strafe ohne datum fürs schafott / schweigen / streicht von der liste der lebenden.» Welche Formen kann das Nicht-Schweigen im Jahr 2021 in Belarus annehmen?
Die offensichtlichste Form sind die Proteste, dass die Menschen auf der Strasse waren. Aber es ist nicht nur das. Wichtig ist, dass wir da niemanden verurteilen. Manchmal sah ich Postings auf Social Media, die sagten: Diese und jene Menschen gehen nicht auf die Strasse, sie bleiben zu Hause und sagen, sie können das nicht, nur weil sie Kinder haben. Wenn ich so etwas sah, dachte ich immer: Wie kannst du so etwas schreiben? Jeder Mensch kämpft, wie er oder sie kann. Ich zum Beispiel glaube, ich kann mehr ausrichten mit meinen Gedichten, als wenn ich auf die Strasse gehe und dann im Gefängnis lande. Wir können nicht sagen: okay, jetzt alle! Denn es funktioniert nicht für alle gleich. Es ist wichtig, dass auch wir als die Menschen, die jetzt gegen dieses Regime kämpfen, das verstehen.

Damit es keine Spaltung, keine internen Kämpfe gibt?
Genau.

Was ist mit der EU und der Schweiz? Schweigen diese zu viel in Bezug auf das Geschehen in Belarus?
Vielleicht. Aber Weltpolitik ist Weltpolitik, und wie die Staaten dort agieren, ist ihre Entscheidung. Die Europäische Union spielt entlang von Regeln. Aber Belarus und Russland spielen anders. Und das ist das Problem: Es spielen alle dasselbe Spiel. Aber mit verschiedenen Regeln.

Können Sie ein Beispiel geben, wo sich das zeigt?
Die Europäische Union glaubt vielleicht, Belarus sei ein eigener Staat und sie könne sich nicht in dessen innere Angelegenheiten einmischen. Aber die Menschen werden in Gefängnissen gefoltert. Dort wird nicht nach Regeln gespielt, Belarus ist kein Rechts­staat mehr. Unsere Gerichte funktionieren nicht wie normale europäische Gerichte. Die Richter in Belarus entscheiden nichts, sie sind nur Marionetten. Vielleicht hat die Europäische Union das noch nicht ganz verstanden.

Hausbewohner beobachten Anfang September 2020 aus sicherer Distanz einen Protestmarsch.
Eine kleine Plauderei am Strassenrand.

Es gibt eine Stelle in Ihrem autobiografisch geprägten Roman «Camel Travel», da fragt die Icherzählerin als kleines Mädchen ihre Mutter: «Mama, kennst du Lenin?», und sie antwortet: «Nein, kenne ich nicht.» Das Kind insistiert: «Wie denn das, Mama, alle kennen Lenin!», und die Mutter bleibt bei ihrer Ausweich­taktik und sagt: «Wir sind nicht persönlich miteinander bekannt.» Was würden Sie antworten, wenn ein Kind Sie fragen würde: Volha, kennst du Lukaschenko?
Vielleicht würde ich es machen wie meine Mutter: «Wir sind uns nicht persönlich bekannt.» Aber ernsthaft, es gibt so viel Aufmerksamkeit für diese Figur, und ich glaube, das ist wirklich falsch. Es wäre viel besser, wir würden zum Beispiel über Poesie sprechen. Damit meine ich nicht Eskapismus! Aber wenn diese Figur zu viel Aufmerksamkeit und all unsere Energie bekommt, wird sie stärker und stärker. Warum sollten wir unsere Zeit – und unser Leben ist nicht so lang – dieser Person schenken?

Was glauben Sie, wie lange wird es dauern, bis man von Lukaschenko in der Vergangenheit spricht?
Ich bin pessimistisch. Aber ich weiss auch, früher oder später wird es so weit sein. Alle Diktatoren haben früher oder später mehr oder weniger dasselbe Schicksal. Bis dahin müssen wir, so gut es möglich ist, unser eigenes Leben leben.

Zum Gedicht «schweigen» von Volha Hapeyeva

Hören Sie Volha Hapeyevas Gedicht «schweigen», vorgelesen von der Autorin – einmal auf Belarussisch und einmal auf Deutsch:

«schweigen» – in der belarussischen Version.

«schweigen» in der deutschen Version, übersetzt von Matthias Göritz und Martina Jakobson.

Zur Fotografin

Für die Illustration des Alltags­lebens in Belarus haben wir Bilder von Jana Nizovtseva verwendet. Die 31-jährige Designerin und Fotografin lebt in Minsk. Für ihre Fotografien benutzt Nizovtseva eine Analog­kamera: «Ich liebe die Analog­fotografie – sie ist ehrlich, es gibt keine Filter und jedes Bild ist einzigartig und unbezahlbar», schreibt sie über ihre Arbeitstechnik.

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