Diese Brücke nahe der nordirakischen Stadt Darbandikhan führt über das Flussbett des Diyala, der als Sirwan im Iran entspringt und nun, kurz nach der Regenzeit, viel Wasser führen sollte.

Krieg der Dämme

Im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris wurden erstmals Menschen sesshaft und erfanden die Landwirtschaft. Heute legen die Klimakrise, korrupte Politiker und der Energie­hunger eine der fruchtbarsten Gegenden der Welt trocken.

Eine Reportage von Bartholomäus von Laffert (Text) und Daniela Sala (Text und Bilder), 10.07.2021

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Aus der Tiefe röchelt es. Von einem Fels­vorsprung baumelt das Ende eines 200 Meter langen Plastik­rohrs, das Wasser auf die Felder der Bauern transportieren sollte. Doch wo einst der Fluss war, gibt es heute nur noch eine schmutzige Pfütze.

Oben auf dem Felsen steht Alqod Mahmoud und starrt in das ausgetrocknete Bett des Diyala, eines der wichtigsten Zuflüsse des Tigris im Nordirak. «In zwei Jahren lebt niemand mehr hier», sagt der 33-Jährige. Er ist Dorf­vorsteher von Topkhane, einem Ort mit 72 Bewohnerinnen in der kurdischen Autonomie­region im Nordirak. «Und das alles, weil der Iran Dämme baut und uns verdursten lässt.»

Einst zählte die Gegend zwischen Euphrat und Tigris zu den fruchtbarsten Regionen der Welt; im Zweistrom­land zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak wurde der Mensch sesshaft und erfand die Land­wirtschaft. Die regel­mässigen Über­schwemmungen brachten kostbares Wasser und nährstoff­reichen Schlamm für die Felder. Bis heute hat sich an der Bedeutung der beiden Flüsse für die Region nichts geändert – nur dass mittlerweile viel mehr Menschen mit Wasser versorgt werden müssen.

Der Irak ist eines der fünf Länder, die am stärksten von der Klima­krise betroffen sind. Fast 20 Prozent der etwa 40 Millionen Einwohner leiden schon jetzt an Wasser­knappheit. Und wenn man die Menschen im Nordirak fragt, ist daran vor allem der Iran schuld.

In Wahrheit ist das Problem um einiges komplexer: Es hat mit wirtschaftlichen Interessen zu tun, korrupten Mandats­trägern, zwischen­staatlichen Verflechtungen und der globalen Klimakrise.

Weniger Wasser, mehr Dreck

Das World Resources Institute, eine globale Denkfabrik für Umwelt­fragen, hat ein Online-Tool namens «Water, Peace and Security» mitentwickelt, das vorhersagt, wo in den nächsten zwölf Monaten Konflikte ums Wasser auftreten werden. Was man heute im Nordirak beobachten kann, ist der nächste emerging conflict – ein Konflikt im Entstehen. Einer, wie er am Tschad­see schon mit Waffen ausgetragen wird – und in den kommenden Jahrzehnten in vielen Welt­gegenden ausbrechen könnte. Historikerinnen warnen schon länger, dass Wasser­kriege die Ölkriege des 21. Jahr­hunderts werden könnten.

Alqod Mahmouds Söhne servieren klebrig-süssen Schwarztee, während er seine Geschichte erzählt. Vor drei Jahren hat er sich das Pumpsystem angeschafft, das heute bloss noch röchelt. 1700 Dollar hat es ihn gekostet. Dann seien zuerst die Bagger gekommen, um den Kies im Fluss abzugraben. Als Nächstes habe der Iran mithilfe des Damms begonnen, den Wasser­fluss zu blockieren. Jetzt führe der Diyala um zwei Drittel weniger Wasser, die Pumpen, die seine Reisfelder und Graswiesen versorgen sollten, sind für nichts mehr zu gebrauchen. Der Ertrag seiner Ernte ist auf ein Zehntel zusammen­geschrumpft.

«In zwei Jahren lebt niemand mehr hier»: Dorfvorsteher Alqod Mahmoud mit seiner Tochter.
Macht sich Sorgen um die Zukunft seiner Familie: Alqod Mahmoud hatte einst aus dem Diyala Wasser gepumpt, nun sieht er den Fluss nur aus der Ferne.

In der Ecke des Wohn­zimmers lehnt ein altes Gewehr. Keine Sorge, sagt Mahmoud, das stehe da nur, damit er sich gegen Einbrecher wehren könne. Bevor sie einen Krieg wegen des Wassers anzetteln würden, zöge er mit seiner Familie weg – wie alle anderen. «Weg vom Land in die Stadt, wo wir dann als Sklaven für riesige Unter­nehmen schuften oder uns als Strassen­verkäufer durchschlagen.»

Mehrere hundert Dörfer sind allein entlang des Diyala von der Trockenheit betroffen, hinzu kommen die zwei grösseren Städte Kalar und Halabja. Wie in kaum einem anderen Land hängt die Wasser­versorgung des Irak von Quellen ab, die ausserhalb des eigenen Territoriums entspringen. Vor allem in der Türkei und im Iran.

«Als ich hier angefangen habe, dachte ich nicht, dass Wasser­knappheit einmal unser Haupt­problem wird», sagt Namiq Mustafa. Er ist Vizedirektor im Hydrologie-Departement des Staudamms von Darbandikhan, einer Kleinstadt der kurdischen Autonomie­region, 30 Kilometer fluss­aufwärts von Mahmouds Feldern. Vom Aussichts­turm geht der Blick 30 Meter in die Tiefe. Unten vor der Schleuse treibt ein Teppich aus Plastik­flaschen und Müll im Damm­becken. Alle paar Wochen lassen Mustafa und seine Kollegen die Schleuse öffnen, um die Menschen flussabwärts mit Wasser zu versorgen.

Als Namiq Mustafa im Hydrologie-Departement des Staudamms von Darbandikhan anfing, floss das Wasser noch in Hülle und Fülle.

Mustafa sagt, er wisse nie, ob er den Leuten damit mehr helfe oder schade. «Immer weniger Wasser bedeutet einen immer höheren Grad an Verschmutzung, weil das vorhandene Wasser den Dreck aus den Städten nicht absorbieren kann, sodass das Wasser flussabwärts kaum mehr für Bewässerung, geschweige denn als Trink­wasser zu gebrauchen ist.»

«Vor fünfzig Jahren wurde der Damm gebaut, um Energie zu gewinnen und die saisonalen Fluten flussabwärts zu kontrollieren», erzählt Mustafa. In den dreissig Jahren, in denen er schon fürs Hydrologie-Departement arbeitet, hat er verschiedene Herrscher und Dürre­perioden miterlebt. Doch so schlimm wie jetzt sei es noch nie gewesen. «Normaler­weise sollten zu dieser Jahreszeit 400 bis 500 Kubik­meter Wasser pro Sekunde in das Damm­becken fliessen – stattdessen sind es nur noch 28», sagt er. «Seit vier Jahren haben wir Probleme – aber im letzten Jahr hat uns der Iran das Wasser ganz abgestellt», sagt Mustafa.

Der Darbandikhan-Staudamm im Irak kann kaum noch Wasser an die Bauern abgeben – das liegt auch am Daryan-Damm stromaufwärts im Iran.

Die Hauptursache des Problems, von dem Mustafa spricht, liegt weiter flussaufwärts, 28 Kilometer innerhalb des iranischen Territoriums. Der Diyala heisst dort Sirwan. Eingeklemmt zwischen zwei Bergen, verstopft der Daryan-Damm wie ein grauer, 169 Meter hoher Pfropf den Fluss. Es ist die grösste Talsperre eines noch grösseren Projekts, dessen Name mehr nach Wellness-Therme klingt als nach Industrie­komplex: Tropical Water Project.

Insgesamt besteht das Tropical Water Project aus 14 Dämmen, die 1,9 Milliarden Kubik­meter Wasser stauen können. Das Ziel sei es, Energie zu erzeugen und die Flüsse Sirwan (Diyala) und Zmkan umzuleiten, um land­wirtschaftliche Gebiete innerhalb und ausserhalb des Diyala-Beckens zu bewässern, schreibt die Expertin für internationale Angelegenheiten, Banafsheh Keynoush, auf Anfrage der Republik. Hierfür wurden 150 Kilometer unterirdische Tunnel mit einem Fassungs­vermögen von mehr als einer Milliarde Kubik­meter gebaut, die das Wasser von den Dämmen vor der irakischen Grenze auf die Felder im Süden des Iran umleiten.

Der iranische Präsident Hassan Rohani hatte schon 2017 verkündet: «Das Tropical Water Project wird die Region komplett verändern. Gerade in dieser Zeit, wo der Druck unserer Feinde immer grösser wird, ist es ein Zeichen des Widerstands – jede Vollendung eines grossen Plans ist ein Schlag gegen unsere Feinde.»

Türkei

Tigris

Grosser Zab

Urmiasee

4

Kleiner Zab

Arbil

Euphrat

2

Halabja

3

Darbandikhan

Sirwan

1

Diyala

Syrien

Kalar

Iran

Bagdad

Irak

Jordanien

Saudiarabien

1. Daryan-Damm

2. Dukan-Damm

3. Darbandikhan-Damm

4. Ilisu-Damm

Türkei

Tigris

Grosser Zab

Urmiasee

4

Kleiner Zab

Arbil

Euphrat

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Halabja

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Darbandikhan

Sirwan

1

Syrien

Kalar

Iran

Diyala

Bagdad

Irak

Jordanien

Saudiarabien

1. Daryan-Damm

3. Darbandikhan-Damm

2. Dukan-Damm

4. Ilisu-Damm

Während des Wieder­aufbaus nach dem Iran-Irak-Krieg, Ende der 80er-Jahre, sei es bei den Dämmen nicht nur um Wasser und Energie­gewinnung gegangen, sondern auch um National­stolz, schreibt Keynoush: «Der Stolz der Revolutionäre, die dem Rest der Welt ihre Unabhängigkeit demonstrieren wollten und ihre Fähigkeit, trotz aller Entbehrungen eine neue Ära der Entwicklung einzuleiten.»

Noch heute sind die Dämme ein Quell des National­stolzes – und ein Mittel, um den US-Sanktionen und der Klima­krise zu trotzen. Keynoush schätzt, dass der Iran aufgrund der Klimakrise jährlich etwa 30 Prozent seiner Grund­wasser­ressourcen verliert: «Wenn der Iran seine Wasser­ressourcen nicht nutzbar macht, wird das Land bis 2036 in eine grosse Krise geraten und mit Massen­migration konfrontiert sein.»

Dieses Jahr wird voraussichtlich eines der trockensten der letzten fünfzig Jahre werden: Im Mai warnte der iranische Energie­minister Reza Ardakanian, dass der Iran in eine der schlimmsten Zeiten der Wasser­knappheit eingetreten sei. Von den 85 Millionen Einwohnern des Landes leben etwa 28 Millionen in wasser­armen Gebieten. Ein Drittel der iranischen Land­bevölkerung habe aufgrund von Dürre und Sand­stürmen bereits ihre Dörfer verlassen, schrieb Keynoush 2018 in einem Aufsatz für das International Institute for Iranian Studies.

Ein Problem der nationalen Sicherheit

Das Sinnbild der Wasser­krise im Iran bildet der Urmia­see. Einst der zweitgrösste Salzsee der Welt, trocknete er in weniger als zwei Jahrzehnten fast komplett aus und schrumpfte auf weniger als 5 Prozent seiner ursprünglichen Grösse. 2013 startete die iranische Regierung das Urmia Lake Restoration Program, das weltweit Unter­stützung mobilisierte, aber auch Kontroversen auslöste.

Durch eine Reihe von Kanälen und zwei Haupt­dämme leitet der Iran jährlich bis zu 623 Millionen Kubik­meter Wasser aus dem Kleinen Zab – einem Zufluss des Tigris und einer wichtigen Wasser­quelle im Nordirak – in den südlichen Arm des Urmia um. Ganz ähnlich, wie es beim Diyala geschieht.

Im Iran werde die Wasser­knappheit inzwischen als ein Problem der nationalen Sicherheit betrachtet, sagt Wissenschaftlerin Keynoush. Ein Problem, für dessen Lösung die iranische Regierung in den vergangenen Jahren Millionen investiert hat – und dabei wenig Rücksicht nimmt. «Der Damm­bau ist für den Iran einerseits eine Reaktion auf die Wasser­krise, an der sich Politiker und die ‹Wasser­mafia› bereichern – andererseits ist es ein Weg, nach dem Irak-Überfall der USA 2003 den Einfluss im Irak und in der Region auszubauen. Die irakischen Interessen spielen dabei keine Rolle», sagt Keynoush.

Im Iran selber will aber keine offizielle Stelle über das Thema sprechen. Sowohl der zuständige Energie­minister als auch der stellvertretende Minister für Wasser lassen eine Interview­anfrage unbeantwortet. Auch eine Anfrage an die Regierungs­behörde für Wasser­ressourcen­management bleibt erfolglos. Ein iranischer Journalist, der in den letzten fünf Jahren für internationale Medien über Wasser­fragen im Iran berichtet hat, bestätigt, dass «die Leute in der Regierung normaler­weise nicht sehr erpicht darauf sind, zu antworten».

Ebenso schwierig ist es, im Iran ansässige Wissenschaftlerinnen zu erreichen: Insgesamt acht verschiedene Experten wollen keine Auskunft geben. Die Wasser­ressourcen­expertin einer iranischen Universität entschuldigt sich, dass sie «nach einigen Abwägungen» ein Interview leider absagen müsse. Ein irakischer Wissenschaftler, der seit Jahren zu iranischen Stau­dämmen forscht, schreibt, er könne keine Verbindung zu seinen Quellen im Iran herstellen, da er «ihnen versprochen habe, ihre Namen aufgrund der Situation im Land geheim zu halten».

Kawa Salar ist nicht bereit zu gehen. Der 49-jährige Iraker lebt in Darbandikhan, der kleinen Ortschaft unterhalb der riesigen Damm­schleuse. «Wir haben nicht Saddam und den Bürger­krieg überlebt, damit wir uns jetzt vom Iran in die Knie zwingen lassen», sagt er, und seine Mimik kann den Zorn kaum verbergen. In seiner traditionellen kurdischen Kluft, den weiten Pluder­hosen und dem blumen­verzierten Gürtel, sieht er den Arbeitern dabei zu, wie sie versuchen, auf seinem Feld einen Dattel­palmen­setzling in den Boden zu treiben.

Salar ist heute ein einfacher Bauer. Früher einmal war er Gross­grund­besitzer. Damals hätten auf seinen Feldern 150 Familien gearbeitet und davon gelebt, erzählt er. Heute seien es noch 5. Früher hat er hier Reis, Okra­schoten und Melonen angepflanzt, heute reicht das Wasser gerade noch für Dattel­palmen. Früher habe er ein Dutzend Fisch­farmen besessen. Nun sind die Karpfen im Becken vor ihm die letzten, die ihm geblieben sind.

Der Landwirt und einstige Grossgrundbesitzer Kawa Salar musste umstellen: Statt Reis und Wassermelonen produziert er nun Datteln.

«Das ist kein Krieg im Entstehen – wir befinden uns bereits im Wasser­krieg. Der Iran will uns Kurden vernichten, und die Regierung in Bagdad ist nicht willens, irgendwas dagegen zu tun», sagt Salar. «Aber ich habe meine Söhne zu aufrechten Männern erzogen: Bevor wir unser Haupt vor ihnen senken, werden wir kämpfen.» Doch der Bauer ist machtlos.

Wie machtlos, das kann man auf dem Markt in Kalar sehen, der mit 250’000 Einwohnerinnen grössten Stadt entlang des Diyala auf kurdischem Autonomie­gebiet. Früh am Morgen, lange bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreicht und es ausserhalb des Schattens unerträglich heiss wird, drängen sich die Menschen auf den Kiesplatz am Rand der Stadt. In mehreren Reihen haben die Händler ihre Sackkarren und Pick-ups abgestellt, brüllen in knarzende Megafone, um frisches Obst, frisches Gemüse, frischen Fisch anzupreisen.

Was sie dabei nicht erwähnen: Kaum ein Produkt hier kommt aus dem Irak. Fast alles ist importiert: aus der Türkei – und aus dem Iran. «Dort können sie mehr produzieren und billiger, weil die Währung so schwach ist», sagt ein Händler. «Ein Fisch aus dem Iran kostet die Hälfte, genauso ist es mit dem Gemüse. Es ist viel billiger, zu importieren, als selbst zu produzieren.» Es ist eine Entwicklung, die Anfang der 2000er-Jahre begann, als im Nordirak der Handel mit dem Öl boomte, die Regierung die Bauern im Stich liess und viele Menschen in die Städte zogen; eine Entwicklung, die in der Wasser­krise einen neuen Höhe­punkt findet.

Abhängig von Importen

Für den von Sanktionen gebeutelten Iran ist der Irak einer der wichtigsten Handels­partner, 35 Prozent der iranischen Agrar­exporte landen hier. «Der Iran hat den Irak zu seinem Marktplatz umgebaut», sagt Abdulmutalib Raafat Sarhat während eines Abend­essens. Er ist Dozent für Wasser­ressourcen­management an der irakischen Universität Garmian in Kalar.

Für ihn ist es ganz einfach: Der Iran hält das Wasser zurück; die Wasser­knappheit zwingt immer mehr irakische Farmer, wasser­intensive Pflanzen wie Reis, Tomaten, Wasser­melonen und auch die Fisch­zucht aufzugeben; dafür liefert der Iran die Produkte in den Irak. «So werden wir von iranischen Waren überschwemmt. Wir sind zunehmend von ihren Importen abhängig», sagt Sarhat.

Die Einzigen, die das Problem lösen könnten, seien die Regierungen im Iran, im Irak und in der Türkei, sagt Sarhat, indem sie internationale Abkommen über die gemeinsame Nutzung grenz­überschreitender Ressourcen beschlössen – doch genau dort liegt das Problem.

Denn völkerrechtlich ist die Nutzung von Flüssen wie dem Diyala eigentlich geregelt: im Übereinkommen über das Recht der nicht­schiff­fahrtlichen Nutzung internationaler Wasser­läufe, das 1997 von der Uno verabschiedet wurde und seit 2014 in Kraft ist. Der Irak hat die Konvention 2001 ratifiziert. Der Iran stimmte dafür, hat sie aber nie ratifiziert. Die Türkei hat sogar dagegen gestimmt.

«Für die Türkei und den Iran sind die Dämme willkommene Möglichkeiten, um ihren politischen Einfluss auf den Irak zu erhöhen», sagt Ercan Ayboğa, Umwelt­ingenieur und Referent für die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen. Als Aktivist hat er sich jahrelang gegen den Bau des Ilisu-Staudamms in Hasankeyf in der Türkei eingesetzt. Der Damm am Tigris wurde 2020 fertiggestellt, fasst mehr als zehn Milliarden Kubik­meter Wasser und gibt der Türkei Kontrolle über das gesamte Wasser, das nach Nordost-Syrien und in den Irak fliesst.

Ein Picknick am Ufer des Diyala, wo der Fluss noch Wasser führt.

«Bis 2003 hatte die Türkei kaum Möglichkeiten, Druck auf den Irak auszuüben, auch weil sie kein Öl hatte», sagt Ayboğa. «Danach hat sie versucht, durch Investitionen Abhängigkeiten zu schaffen. Wasser spielt dabei eine besondere Rolle, weil der Irak sehr vom Wasser des Euphrat und des Tigris abhängig ist. Ohne das Wasser gibt es kein Trink­wasser und auch keine Land­wirtschaft.»

Gerade für die Türkei sei das Wasser auch ein dankbares Mittel im Kampf gegen oppositionelle Kurden in der Region. «Der Irak hat binational mit der Türkei verhandelt, um Wasser­durchflüsse langfristig zu sichern, und dafür andere Sachen geopfert: Sie lassen türkische Unternehmen investieren, und der Irak kommt der Türkei in der Kurdistan-Politik entgegen. Das heisst, sie schweigen, wenn die Türkei die PKK bombardiert und nebenbei noch Zivilisten in Dörfern tötet.»

Viele Irakerinnen sind wütend. Auf die Türkei, auf den Iran, vor allem aber auf die eigene Regierung. «Wir fühlen uns verraten», sagt der einstige Gross­grund­besitzer Salar. «Was bringen Uno-Konventionen, wenn sie niemand umsetzt?», fragt der Wissenschaftler Sarhat aus Kalar.

Bis die mesopotamischen Sümpfe trocken sind

Der einzig gangbare Weg, um die Freigabe des Wassers durch den Iran und die Türkei zu erzwingen, sei es, das Thema vor den Uno-Sicherheits­rat zu bringen, sagt Sarhat. Doch dazu könne sich die Regierung in Bagdad nicht durchringen: Zu gross sei die Macht der proiranischen Milizen; zu abhängig sei sie von der Türkei – ökonomisch und militärisch. «Und wenn es schon nicht klappt, die Zuflüsse aus den Nachbar­staaten offen zu halten, dann brauchen wir wenigstens im Irak ein effizientes und einheitliches Wasser­management.» Doch die Regierenden der kurdischen Autonomie­region in Arbil würden mit der massenhaften Vergabe von Bau­genehmigungen für Kiesminen die verbleibenden Flüsse endgültig zerstören.

Stattdessen setze man im Nordirak auf ganz andere Lösungen, sagt Akram Ahmed Rasul. Er ist ein viel beschäftigter Mann mit dickem Schnauzer und lakonischem Ausdruck. In seinem Büro in Arbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomie­region, sitzt er hinter einem schweren Holz­schreibtisch, auf dem sich stapelweise Papier türmt. Davor stehen Leder­sofas wie in einer Präsidenten­suite. An den Wänden hängen gerahmte Bilder: Mosul-Damm, Dukan-Damm, Darbandikhan-Damm.

Ahmed Rasul kritisiert die Staudämme im Iran – und ist selbst verantwortlich für die vielen Stauseen in der kurdischen Autonomie­region im Nordirak.

Rasul ist der General­direktor der Direktion für Staudämme und Wasser­speicher der kurdischen Autonomie­region – der Mann, der mit der Aufgabe betraut ist, das Wasser­problem im Nordirak zu lösen. «Ich bin hilflos», sagt er. «Die Politiker in Bagdad sind Marionetten des Regimes in Teheran. Und Teheran und Ankara haben uns den Wasser­krieg erklärt.»

Seit mehr als zehn Jahren versucht er das Wasser­problem in den Griff zu bekommen. Seine Taktik: die gleiche wie in der Türkei oder im Iran. Um das Wasser in der kurdischen Autonomie­region zu halten, werden eigene Dämme gebaut. Schon im Jahr 2014 erklärte das Ministerium für Land­wirtschaft und Wasser­­ressourcen, dass der Bau von Staudämmen ein strategisches Ziel sei, «um die Probleme des Klima­wandels und den Bau von fluss­aufwärts gelegenen Staudämmen anzugehen». Man werde deshalb 245 Stau­dämme auf dem Territorium der kurdischen Autonomie­region bauen, hiess es damals.

Zur Autonomen Region Kurdistan im Nordirak

Die 24 bis 27 Millionen Kurden, die sich als «grösstes Volk ohne Land» bezeichnen, sind heute in fünf Ländern beheimatet: In der Türkei leben rund 13 Millionen, im Irak etwa 4 Millionen, im Iran 5,7 Millionen, in Syrien ungefähr 1 Million und in Armenien etwa 400’000 Kurdinnen. Im Irak anerkennt die Verfassung von 2005 die kurdischen Gebiete als autonome Region mit weitreichenden exekutiven und legislativen Rechten an. So verfügt die Autonome Region Kurdistan über ein Regional­parlament, eine Regional­regierung und mit den Peshmerga über eigene Streitkräfte. Trotzdem handelt es sich nicht um einen eigenständigen Staat im völkerrechtlichen Sinne. Ende 2017 hat das oberste irakische Bundesgericht ein Referendum über die Unabhängigkeit der Region für verfassungswidrig erklärt.

«Wenn wir das Budget haben, können wir sie alle in zehn Jahren fertigstellen», sagt Rasul. «Inzwischen sind 14 Stau­dämme fertig, 17 sind im Bau, darunter 4 grosse Stau­dämme, 40 sind bereits geplant und 17 wegen fehlender Mittel auf Eis gelegt.» Er klingt so, als sei er tatsächlich davon überzeugt, dass noch mehr Dämme das Problem lösen würden.

Ali Alkharki kann nur lachen, wenn er so etwas hört. «Wenn sie im Nordirak Dämme bauen, heisst das nur, dass sich das Problem verschiebt und die mesopotamischen Sümpfe im Südirak austrocknen und die Menschen weiter strom­abwärts verdursten.» Er steht in Sulaymaniya, einer Stadt in der kurdischen Autonomie­region, am Fenster im dritten Stock einer Tabak­fabrik, die in den letzten Jahren zu einem Kultur­zentrum umgebaut wurde.

Vor ihm auf dem Tisch liegt eine Landkarte, auf die er alle Dämme und Tal­sperren in der Region eingezeichnet hat. Ali Alkharki ist Teil einer Kampagne, die sich #SavetheTigris nennt. Fragt man ihn, wer den Kampf der Dämme gewinnen werde, ist seine Antwort klar: niemand. «Der Wasser­kreislauf funktioniert wie unser Körper­kreislauf. Wenn sich da überall Thrombosen bilden, dann wird der Körper nicht mehr durch­blutet und stirbt.»

Wenn alle auf Staudämme setzen, trocknet letztlich alles aus, warnen Wasseraktivisten in der nordirakischen Stadt Sulaymaniya.

2020 ist Alkharki von Bagdad nach Sulaymaniya geflohen. 2019 hatte der Wasser­aktivist in der sogenannten Dezember-Revolution in Bagdad demonstriert, als sich die irakische Jugend gegen die Regierung auflehnte. Er war daraufhin von iranischen Milizen, die seit 2014 mehr und mehr Einfluss in Bagdad gewinnen, entführt und gefoltert worden.

Er sagt, entscheidend sei zu verstehen, wie eng die sozialen Unruhen und die Wasser­krise miteinander verflochten seien. «Wenn ich junge Aktivistinnen im Irak ausbilde, überrasche ich sie immer gerne, indem ich sage, dass die Proteste in Bagdad und Basra durch Wasser verursacht wurden», sagt Alkharki. Die meisten würden dann den Kopf schütteln und sagen: «Nein, die Leute protestieren gegen die Regierung und gegen Korruption.»

Doch in Wirklichkeit sei beides nicht voneinander zu trennen, sagt Alkharki: «Wenn wir nicht genug Wasser haben, verlieren wir land­wirtschaftliche Flächen: Bauern, Fahrer, Verkäuferinnen verlieren ihre Jobs. Und unser Staat wird immer mehr Geld für Importe ausgeben müssen. Es gibt Armut und Unsicherheit. Und das treibt die Menschen auf die Strasse.»

Deutlich wurde das in Basra im Süden des Irak, wo im Sommer 2018 Proteste ausbrachen, als 120’000 Menschen aus der Region in Kranken­häuser eingeliefert werden mussten, weil sie aufgrund von Wasser­knappheit verschmutztes Wasser getrunken hatten. Wasser­knappheit ist zunehmend ein Auslöser für soziale Unruhen: Die Proteste ab Oktober 2019 in Bagdad könnten nur das jüngste Beispiel dafür sein, wie die Umwelt­zerstörung die Iraker, insbesondere die irakische Jugend, dazu bringt, den Status quo infrage zu stellen.

Schluss mit Monster­dämmen

Charles Iceland, Projektleiter am World Resources Institute, welches das Online-Tool «Water, Peace and Security» mitentwickelt hat, das Wasser­konflikte vorher­sagen soll, sagte in einem Interview mit der Deutschen Welle: «Kriege werden selten nur wegen des Wassers geführt. Vielmehr sehen wir das als Bedrohungs­multiplikator. Es gibt also ein Problem im Hinter­grund. Wenn es andere Probleme gibt, die zu Instabilität führen, wie zum Beispiel Konflikte zwischen ethnischen Gruppen oder etwas anderes, was Gewalt auslöst, so hat die Wasser­knappheit eine Gesellschaft meist destabilisiert, sodass sie weniger fähig ist, Probleme einvernehmlich zu lösen.»

Für die meisten Menschen im Irak ist deshalb klar, dass die Lösung nur eine vielschichtige sein kann: Die Welt­gemeinschaft muss die Türkei und den Iran dazu drängen, die Uno-Konvention einzuhalten; die Regierungen in Bagdad und Arbil müssen endlich gewillt sein, die Wasser­problematik anzugehen. Und vor allem muss der Bau von Monster­dämmen ein Ende haben.

«Über Tausende Jahre galt die Region hier wegen des Euphrat und des Tigris als die Wiege der Zivilisation», sagt Abdulmutalib Sarhat, der Dozent für Wasser­ressourcen­management in Kalar. «Ich will nicht zu der Generation gehören, bei der die Zivilisation endet.»

Zu den Autoren

Bartholomäus von Laffert ist Teil des Selbstlaut-Kollektivs, Daniela Sala ist freischaffende Multimedia­journalistin im FADA-Kollektiv in Italien. Für die Republik schrieben sie zuletzt über die Luftüberwachungs­taktik der europäischen Grenzschutzagentur Frontex.

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