Am Gericht

Die Sündenböcke von Moria

Sechs Afghanen sind laut griechischen Gerichten Schuld am Brand des Lagers für Geflüchtete. Die Verfahren waren höchst fragwürdig, und zwar nicht nur deshalb, weil der wichtigste Zeuge spurlos verschwunden ist.

Von William Stern, 30.06.2021

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Am 8. September 2020 brannte das Geflüchteten­lager Moria auf Lesbos ab. Moria war zu diesem Zeitpunkt längst zum Synonym der gescheiterten Migrations­politik der Europäischen Union geworden. Im Lager, das ursprünglich für knapp 3000 Personen errichtet worden war, drängten sich im Sommer 2020 über 20’000 Geflüchtete. Zum Zeitpunkt des Brandes im Herbst waren es noch immer 12’000 Menschen. Infolge der Covid-Pandemie wurde es abgeschottet: Quarantäne­zonen wurden eingerichtet, Ausgangs­sperren eingeführt.

Eine Woche nach dem Brand verhaftete die griechische Polizei sechs junge Afghanen – für den griechischen Migrations­minister Notis Mitarachi war schon da klar, dass es sich bei den Festgenommenen um die gesuchten Brand­stifter handelt. Bei Menschen­rechts­organisationen und Rechts­expertinnen löste dies tiefe Besorgnis aus: Die Vorverurteilung durch ein Regierungs­mitglied, so die Befürchtung, deute darauf hin, dass sich das Verfahren verpolitisieren würde – kein gutes Vorzeichen für eine unabhängige Urteils­findung.

Ohne grosse mediale Resonanz verurteilte das Jugend­gericht auf Lesbos im März dieses Jahres zwei der sechs Angeklagten zu fünf Jahren Haft. Das Urteil wurde angefochten. Mitte Juni standen nun die anderen vier Beschuldigten in Chios vor Gericht. Was sich im Gerichts­saal genau abgespielt hat, wissen nur die unmittelbaren Verfahrensbeteiligten.

Ort: District Court Chios
Zeit: 11. Juni 2021, 9 Uhr Lokalzeit
Fall-Nr.: A.B.M. A2020/2059
Thema: Brandstiftung, Gefährdung des Lebens, Zerstörung von Privat­eigentum, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung

Am 11. Juni fanden sich im Gerichts­saal des District Court in Chios folgende Personen ein: die vier Angeklagten, drei Richter, vier Geschworene, zwei Verteidigerinnen, vier Polizisten, eine Handvoll Zivil­polizisten und insgesamt mehr als ein Dutzend Zeuginnen und Zeugen.

Die wichtigste Person fehlte.

Zeuge D. war nicht mehr auffindbar. Zwei Wochen nach dem Brand hatte der Afghane die Insel verlassen, trotz Reise­beschränkung wegen Covid. Gemäss Verteidigung mit einem positiven Asyl­bescheid in der Tasche. Mittlerweile, so die Vermutung, befindet sich D. in Deutschland. D. war die einzige Person, die die vier Angeklagten identifiziert hatte. In einem schriftlichen Statement, das er bei der Polizei gemacht hatte, gab er an, gesehen zu haben, wie seine afghanischen Landsleute das Feuer im Camp legten.

Die Verhandlung auf der Insel Chios konnte von der Republik nicht verfolgt werden. Eine Live­übertragung, wie sie in der Pandemie mancherorts üblich ist, fand nicht statt. Mehr noch: In einem kurzfristigen Entscheid verwehrte das Gericht den vor Ort anwesenden Journalistinnen den Zutritt zum Gerichts­saal. Die Begründung: Die griechischen Corona-Beschränkungen erlaubten maximal fünfzehn Personen im Raum. Cafés und Restaurants waren zu diesem Zeitpunkt bereits wieder geöffnet, die Tourismus­saison nahm in Griechenland langsam Fahrt auf.

Prozessbeobachter unerwünscht

Einer der wichtigsten Grundsätze des Prozess­rechts ist das Öffentlichkeits­prinzip. Urteile müssen der Öffentlichkeit zugänglich sein, damit sie bekannt werden und nachvollzogen werden können. Werden Urteile im Geheimen gefällt, so liegt der Verdacht der Kabinetts­justiz nahe. Ausnahmen bilden das Jugend­strafrecht sowie Fälle, bei denen begründete Annahmen für eine Verletzung der Intim­sphäre der beteiligten Personen vorliegen.

Auf dieses Prinzip stützt sich die Bericht­erstattung von Journalisten aus den Gerichts­sälen, aber auch die Arbeit von sogenannten Prozess­beobachterinnen. Annina Mullis ist eine von ihnen. Die Berner Anwältin arbeitet in diesen Wochen als unabhängige Rechts­beraterin auf den griechischen Inseln. Mit einem Mandat der Demokratischen Juristinnen und Juristen Schweiz (DJS) und der European Association of Lawyers for Democracy and World Human Rights (ELDH) hätte sie den Prozess gegen die vier Afghanen verfolgen sollen.

Angemeldet war die Bernerin mit einem kombinierten Bestätigungs­schreiben der DJS und der ELDH, das die Verteidigung beim Gericht eingereicht hatte. Mullis erzählt, wie sie und andere Prozess­beobachter bereits bei der Ankunft auf Chios gezielt von der Polizei kontrolliert worden seien. Kurz vor Prozess­beginn erfuhren sie dann, dass sie nicht in den Gerichts­saal eingelassen würden. Stattdessen verfolgten die angereisten Beobachte­rinnen den Prozess vor den Toren des Gerichts.

Drinnen verteidigte Natasha Dailiani, Anwältin beim Legal Centre Lesvos, zusammen mit einer Kollegin die vier Angeklagten. Das Verfahren, sagt sie nach dem Prozess im Gespräch mit der Republik, sei in derart vielen Punkten unfair gewesen, sie wisse gar nicht, wo anfangen. «Es ist Usus, dass die Verteidigung den Haupt­belastungs­zeugen befragen kann. Dass sich das Gericht zufrieden­gibt mit einem schriftlichen Statement des Zeugen, das erst noch voller Ungereimtheiten ist, ist eine grobe Missachtung der Verfahrens­regeln.» Auch sei die Anklage den Beschuldigten nicht in ihrer Sprache vorgelegen.

Und zu schlechter Letzt, so Dailiani, seien drei der vier Angeklagten ohnehin vor dem falschen Gericht gestanden: «Sie waren minderjährig und hätten deshalb vor ein Jugend­gericht gehört.» Auch eine Woche nach der Verhandlung schwingt in der Stimme der Anwältin hörbar Empörung und Unverständnis mit.

Kriminalisierung an Europas Grenzen

Ein Hauptbelastungs­zeuge, der nicht vor Gericht erscheint, ein Prozess, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, Angeklagte, bei denen zumindest grosse Zweifel bestehen, dass sie überhaupt dem Erwachsenen­strafrecht unterstehen: Was ist da los?

Die deutsche Migrations­forscherin Valeria Hänsel, die den Prozess ebenfalls vor Ort verfolgte, ist überzeugt: «Wir hatten es mit einem politischen Verfahren zu tun. Die griechische Justiz hatte kein Interesse daran, den Fall wirklich aufzuklären. Es ging bloss darum, Sünden­böcke für den Brand im Lager Moria zu präsentieren.» Hänsel, die zum Thema Grenz­regime in der Ägäis promoviert, sagt, in den letzten Jahren habe man in Griechenland eine zunehmende Kriminalisierung von Geflüchteten beobachten können.

Das lässt sich auch empirisch belegen. Eine Forschungs­gruppe der Universität Göttingen, der auch Hänsel angehört, untersuchte 48 Fälle von Schleuser­prozessen in Griechenland. Hänsels Befund: «Alle 48 Angeklagten wurden verurteilt, im Schnitt wurden 48 Jahre Haftstrafe ausgesprochen. Die Dauer der Verfahren belief sich auf durch­schnittlich 27 Minuten.»

In weniger als einer halben Stunde langjährige Haftstrafen aussprechen: Das tönt nach einer Massen­abfertigung, die man in einem autoritären Regime ohne unabhängige Justiz erwarten würde. Griechenland jedoch ist Mitglied der EU und hat die Europäische Menschen­rechts­konvention (EMRK) unterzeichnet. Die EMRK garantiert unter Artikel 6 das Recht auf ein faires Verfahren.

Doch was sich in Griechenland abspielt, spottet nach Ansicht vieler Beobachterinnen dieser verbrieften Garantien. Menschen­rechts­organisationen, Journalistinnen und Bürger­rechtler werfen den griechischen Behörden seit längerem systematische Rechts­­verletzungen im Umgang mit Geflüchteten vor: willkürliche Festnahmen, Polizei­gewalt, unüblich lange Untersuchungs­haft. Und die Covid-Pandemie, sagt Hänsel, habe es den Behörden noch einmal erleichtert, autoritäre Massnahmen gegenüber Geflüchteten zu legitimieren.

Drei Tage nach dem Prozess sitzt die Berner Anwältin Mullis in einem Café in Chios beim Mittagessen. Am Telefon erklärt sie Sinn und Zweck der Prozess­beobachtung: «Es geht um die Einhaltung von rechtlichen Standards. Wenn ich als Verteidigerin am Gericht bin, achte ich natürlich auch auf Verfahrens­rechte, aber ich bin nicht neutral, weil ich immer die Interessen meiner Mandantinnen vertrete.» Als Prozess­beobachterin hingegen könne sie den Verfahrens­ablauf aus einer fachlichen, nicht involvierten Perspektive bewerten.

Statt die Verhandlung im Gerichtssaal zu verfolgen, teilte Prozess­beobachterin Mullis die Informationen, die sie in den Gerichts­pausen vom Verteidigungs­team und von den Zeuginnen erhielt, via Twitter. «Bei der Prozess­beobachtung geht es auch darum, eine Öffentlichkeit herzustellen», sagt Mullis. Eine Justiz, die im Geheimen befragt, beratschlagt und urteilt, sei eine Gefahr für die Demokratie und anfällig für Macht­missbrauch. «Das Konzept des öffentlichen Straf­verfahrens basiert darauf, dass sich das Gericht gegenüber der Bevölkerung verantworten muss.» Nach dem Ende der Verhandlung verfasst Mullis üblicher­weise einen Prozess­bericht zuhanden ihrer Auftraggeber.

«Ein vernichtendes Urteil, das leider so zu erwarten war»

Über den Nutzen ihrer Anwesenheit macht sich die Juristin keine Illusionen: «Ich mache seit 2012 regelmässig Prozess­beobachtungen, ich war in Griechenland, in der Türkei und in Ungarn. In der Türkei etwa wurde ich noch nie ausgeschlossen, aber ich hatte nie wirklich den Eindruck, dass es die Richter gross kümmert, dass ich im Saal sitze.»

Aber auch wenn die Anwesenheit von Prozess­beobachterinnen Richter kaltlassen mag: Für Angeklagte kann sie einen Unterschied machen. «Gerade bei politisch motivierten Verfahren, bei denen die Angeklagten einer instrumentalisierten Justiz ausgeliefert sind, erleben sie die Anwesenheit von Prozess­beobachterinnen oft als unter­stützend», sagt Mullis.

Ob die Anwesenheit von Mullis und anderen Prozess­beobachtern am Verlauf und am Ausgang des Verfahrens gegen die vier mutmasslichen Brand­stifter von Moria etwas geändert hätte, ist Spekulation.

Nach mehr als zehn Stunden Verhandlung entschied die Jury (drei Richter, vier Geschworene) am Tag darauf einstimmig: Die vier Angeklagten sind schuldig zu sprechen wegen Brand­stiftung, Gefährdung von Menschen­leben und Zerstörung von Privat­eigentum. Die Anträge der Verteidigung auf mildernde Umstände wurden allesamt abgelehnt. Das Strafmass: zehn Jahre Haft. «Ein vernichtendes Verdikt», sagt Migrations­forscherin Hänsel am Telefon, «aber eines, das leider so zu erwarten war.»

War es ein fairer Prozess, Frau Mullis?

«Nach allem was wir wissen: nein», sagt die Prozess­beobachterin. «Gestützt auf die Aussagen der Verteidigerinnen und auf die vor dem Gerichts­gebäude gesammelten Eindrücke, muss ich zum Schluss kommen, dass der Prozess nicht den Vorgaben eines fairen Verfahrens entsprach.» Im Zentrum von Mullis’ Kritik stehen vor allem drei Punkte. «Erstens: dass die haupt­belastende Aussage nur schriftlich vorlag. Zweitens: die mit der Abwesenheit des Zeugen einher­gehende Verletzung des Frage­rechts. Und drittens: der faktische Ausschluss der Öffentlichkeit.»

Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt.

Illustration: Till Lauer

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