Humane Ressourcen

Wir haben es gut – aber es ginge besser

Was kann oder muss sich verändern im Bewerbungsprozess und im Umgang mit Stellensuchenden? Wer ist dafür zuständig? «Humane Ressourcen» – letzte Folge.

Von Reto Hunziker (Text) und AHAOK (Illustration), 22.06.2021

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Was antworten Sie auf die Frage: «Wie geht es Ihnen?»

Sagen Sie standard­mässig «gut», oder holen Sie zu einem Exkurs aus? Ich fühle mich jeweils mit meinen Privilegien konfrontiert und gestehe mir ein, dass ich es vergleichs­weise sehr gut habe. Und doch denke ich mir: Es könnte noch besser sein.

Ähnlich verhielte es sich, wenn ich gefragt würde, wie wir in der Schweiz mit Stellen­suchenden umgehen. Ich würde sagen: Unser System ist gut. Aber es ginge noch besser. Konkret könnten alle Beteiligten dazu beitragen, dass der Bewerbungs­prozess gerechter, ehrlicher und menschlicher wird.

1. Arbeitgeber: Runter vom hohen Ross

Das Gefälle zwischen den Unter­nehmen und den Kandidatinnen, die sich bei ihnen bewerben, ist zu gross. Während im HR alles unternommen wird, um den Rekrutierungs­prozess noch einfacher, noch günstiger und berechenbarer zu machen, bleiben die Stellen­suchenden auf der Strecke.

Besser inserieren, Bewerber fairer behandeln, wieder den Menschen hinter der Bewerbung sehen statt nur die Kompetenz – Arbeit­geberinnen können schon mit wenig Mühe einiges zur Verbesserung dieses Ungleich­gewichts beitragen. Manch ein Unternehmen hat bereits kapiert, dass sich nicht nur die Bewerbenden bemühen müssen, und investiert in employer branding, um sich von anderen Wettbewerbern im Arbeits­markt abzuheben. Erfreulicher­weise scheint es auch Gegen­bewegungen zum Trend zu geben, alles zu automatisieren.

Solange die Firmen den Menschen nicht aus dem Fokus verlieren, sind Algorithmen, Chatbots und andere KI-Hilfsmittel womöglich nicht als Gefahr zu betrachten. Wünschenswert wäre aber auf alle Fälle, dass die Unternehmen auch in anderen Belangen der Rekrutierung so innovativ wären, wie sie es im Bereich der maschinellen Vorauswahl sind. Denn wenn Funktionen und Anstellungen flexibler werden, dann muss es doch auch der Rekrutierungs­prozess sein. Glaubt man einzelnen Stimmen, ist die Rekrutierung dabei, sich zu verändern. Erste Schritte seien unternommen, um den Bewerbenden vermehrt auf Augenhöhe zu begegnen. Hoffen wir es; es gibt noch viel zu tun.

2. Politik: Bitte nachhaltiger

Vielleicht ist das der wichtigste Knackpunkt in der Reintegration von Stellen­suchenden: Sie zielt auf den kurzfristigen Erfolg ab. Nicht nur in der Schweiz: «In ganz Europa ist man primär auf Kurz­fristigkeit ausgerichtet», sagt Wirtschafts­wissenschaftler Patrick Arni. So zielen auch 70 bis 80 Prozent der Wirkungs­indikatoren der RAV auf eine kurzfristige Reintegration in den Arbeits­markt ab. Das mag verständlich sein – warum nicht möglichst rasch das Hauptziel erreichen?

Wenn es aber zu schnell geht, hat das auch negative Auswirkungen: Stellensuchende, die vorschnell einen Job annehmen (oder dazu gedrängt werden), haben zwar wieder ein Einkommen, sind aber oft unzufrieden, sodass einige von ihnen über kurz oder lang wieder auf dem RAV landen.

Dass die Kontrolle und die damit verbundene Bestrafung vom selben Amt übernommen wird, verkompliziert dies zusätzlich. International stehen die Sanktionen immer wieder in der Kritik, in der Schweiz ist die Sanktionierungs­quote massgeblich höher als in den Nachbar­ländern. «Etwa ein Sechstel der Stellen­suchenden werden während ihrer Erwerbs­losigkeit mindestens einmal sanktioniert», sagt Patrick Arni.

Ist es nötig, so viele kleinere Strafen auszusprechen? Die Forschung zeigt ein gemischtes Bild: Sanktionen haben zur Folge, dass Stellen­suchende schneller eine Anstellung finden, insofern zeigt das Monitoring Wirkung. Langfristig leidet aber die Stellen­stabilität: Die Stellen­suchenden können sich schnell in der nächsten Arbeits­losigkeit wiederfinden. Auch besetzen sie eher weniger passende Stellen und müssen teilweise negative Lohn­effekte in Kauf nehmen.

Obwohl die Sanktionierung zu einem der Erfolgs­faktoren der RAV gehört – die Kombination aus kurzfristigem Denken und latenter Misstrauens­kultur ist langfristig nicht förderlich. Sinnvoller wäre es, mehr Wert auf die anderen, konstruktiveren Erfolgs­faktoren zu legen, genauer: in die Qualität der Beratung zu investieren, die Personal­beraterinnen beim RAV in ihrem Status als Beraterinnen zu stärken, sie zu spezialisieren, Aus- und Weiterbildungs­standards zu heben sowie Anmelde- und Administrations­verfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen.

Selbst wenn Kontrolle und Beratung auch in anderen Ländern vereint sind, darf man sich grundsätzlich fragen, ob diese Kombination wirklich taugt. Wie gut und gerne lasse ich mich von meinem Kontrolleur beraten? Eine Trennung dieser beiden Funktionen wäre wohl eine Erleichterung für alle Beteiligten. Die RAV-Beratungs­personen könnten sich auf die Beratung konzentrieren, die ohnehin die wichtigste Hilfe für Stellen­suchende darstellt: Eine Studie aus dem Jahr 2013 machte das Beratungs­gespräch als «erfolgs­kritischste Aktivität» der RAV aus. Wichtig ist aber auch, «wie die Personal­beratenden rekrutiert werden und mit welchen Instrumenten und welcher Philosophie (vor allem in Bezug auf die Ziel­orientierung) sie im Tages­geschäft geführt werden». Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine weitere Studie 2016.

Das Fazit einer Untersuchung von 2019: «Gelingt es dem Berater auf Basis einer professionellen Arbeits­beziehung Bewerbungs­kompetenzen zu fördern und Instrumente der Arbeitslosen­versicherung wie arbeits­marktliche Massnahmen oder Zuweisungen gezielt einzusetzen, sind die Erfolgs­chancen für eine nachhaltige Reintegration am besten.»

Die gute Nachricht: Es tut sich etwas. Im März letzten Jahres hat das Seco zwei Feldversuche gestartet. Im einen wird versucht, die Beratungs­qualität zu verbessern, im anderen wird der Beratung mehr Zeit eingeräumt. Wissenschaftliche Resultate sind zwar frühestens Ende 2022 zu erwarten, grob sind sie aber antizipierbar: Beides kommt Stellen­suchenden zugute.

Vorbilder sind Länder wie die Niederlande, Dänemark oder Frankreich, wo Stellen­suchende stärker segmentiert, individualisiert betreut und/oder intensiver beraten werden. Frankreich zum Beispiel hat gemäss Patrick Arni einen ähnlichen Ansatz wie die Schweiz, segmentiert und personalisiert jedoch intensiver. Leicht vermittelbare Stellen­suchende haben wenig Verpflichtungen, viele Freiheiten und können einen Grossteil online über Tutorials und Tools erledigen, bekommen aber auch wenig Beratung. Dann gibt es eine mittlere Gruppe von Stellen­suchenden, die ähnlich behandelt werden wie in der Schweiz die grosse Masse (100 bis 150 Dossiers pro Berater). Und die wenig Qualifizierten werden stärker und individueller unterstützt, beraten und geführt. Und zwar von Beratern, die in ihrem Segment spezialisiert sind.

Eine solche Triagierung und Individualisierung wäre auch hierzulande ein Gewinn. Arni ist zuversichtlich: «Personifizierung ist wirkungsvoll. Das Aufteilen in Segmente ist jedoch eine Heraus­forderung. Mittelfristig wird sich wohl auch die Schweiz dahin bewegen.»

Dass sich Arbeits­bemühungen online besser erfassen, aber genauso gut belegen, sowie Kontroll­gespräche reduziert via Telefon oder Zoom durchführen lassen, haben die letzten Monate gezeigt. Die Hoffnung, dass sich RAV-Berater vermehrt auf das Beraten konzentrieren können, ist intakt.

3. Gesellschaft: Differenzieren, sensibilisieren, enttabuisieren

Niemand ist davor gefeit, selbst einmal einen Job suchen zu müssen. Ob selbst- oder fremd­verschuldet. Über die Person sagt das darum kaum etwas aus. Doch nach wie vor scheint Stellen­suchenden eine Art Stigma anzuhaften. Begriffe wie «langzeit­arbeitslos», «ausgesteuert» wirken ähnlich konnotiert wie «vorbestraft» oder «faul». Aber sehen wir auch die Geschichte dahinter?

Keine Biografie, keinen Lebenslauf gibt es ein zweites Mal. Und deswegen sind auch die Gründe, warum jemand auf Jobsuche ist, vielseitig. Es ist anzunehmen, dass nur die aller­wenigsten freiwillig eine längere Erwerbs­losigkeit in Kauf nehmen. Beseitigen wir also die Vorurteile, Stereotype und impliziten Schuld­zuweisungen. Und sehen wir die Erwerbs­losigkeit als Übergangs­phase an und – nennen Sie mich ruhig naiv – im besten Fall sogar als Chance.

Grundsätzlich könnten wir uns auch überlegen, ob einige Begriffe, die wir verwenden, noch zeitgemäss sind. Wie es derzeit mit dem Ausdruck «arbeitslos» passiert (zu Recht, zumal Stellen­suchende nicht ohne Arbeit sind). Auch das Konzept Arbeitgeber/Arbeitnehmer passt nicht mehr, wenn die Parteien gleich­berechtigt sein sollen. Und schliesslich kann man sich auch fragen, ob die Arbeitsämter ihrer Rolle als Vermittler, die ja so deklariert ist, gerecht werden.

4. Stellensuchende: Mehr Mut, weniger Angst!

Und die Stellen­suchenden? Auch sie können einen kleinen Teil dazu beitragen, dass sich die Bedingungen ändern.

Am ehesten vielleicht: Haben Sie Mut für eigene Gedanken und Überlegungen. Halten Sie sich nicht blind an einen Standard, mit dem Sie gar nichts anfangen können. Argumentieren Sie. Seien Sie initiativ und bleiben Sie up to date. Zügeln Sie Ihre Angst, etwas falsch zu machen. Holen Sie das Beste aus sich heraus, bleiben Sie positiv und schauen Sie nach vorne. Denn alles kommt gut. Oder vielleicht sogar besser.

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