Lachen ist fröhlich, Schreien ist wütend, Weinen ist traurig

Sara Jonah Utopia ist Autistin und schreibt in einem Buch über ihr Leben. Unsere Autorin hat Sara getroffen – in der Hoffnung, dadurch auch mehr über ihre eigene Tochter zu erfahren.

Von Marah Rikli (Text) und Annick Ramp (Bilder), 22.06.2021

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«Ich glaube, verliebt zu sein ist etwas, was bei mir ziemlich normal funktioniert. Die Beziehung nachher, das ist das Schwierige»: Sara Jonah Utopia.

Sara* ist 17 Jahre alt. Sara ist Autistin. Sara malt wunder­schöne Bilder in Türkis und steht auf Frauen. Sara redet viel. Sara wünscht sich mehr Zusammen­sein und weniger Einsamkeit. Sara mag Demos und Aktivismus. Sara hat ein Plüschtier, das überallhin mitkommt. Sara lebte lange zu Hause, dann in verschiedenen Wohngruppen. Sara hat vor wenigen Monaten ein Buch heraus­gebracht über das Leben im Spektrum, also mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Sara ist genderqueer – daher verwende ich keine binären Personal­pronomen.

Zu den Namen

* Sara schreibt unter dem Pseudonym Sara Jonah Utopia. Der Name von Ronja, der Tochter der Autorin, wurde geändert.

Ich begegne Sara das erste Mal auf Facebook, noch bevor die Text­sammlung «Wie es sich lebt» erscheint. Sara postet einen Text, wie es sich anfühlt, autistisch zu sein. Ich rolle über die Timeline, stosse auf Posts über Saras Leben, über Therapie­sitzungen und Freundschaften. Auf Fotos von Plüsch­tieren, Bett­decken, Bahn­gleisen und immer wieder: dem Himmel. Können autistische Menschen so reflektiert schreiben?, frage ich mich. Sogleich schäme ich mich für diesen Gedanken. Bin ich doch sonst so darauf bedacht, Menschen nicht in Schub­laden zu stecken.

Ein Buch, um die eigene Stimme zu nutzen

Meine Tochter reisst mich aus meinen Gedanken, schlägt auf mein Handy. Sie sagt: «baba bibi». Das heisst «fertig Handy». Sie will jetzt spielen. Sie zeigt mir ihre Gebärden für «kochen» und «backen» und holt ihre Pikto­gramme, mit denen wir nun ihren Tag aufstellen sollen, aus ihrem Zimmer. Klare Strukturen sind für Ronja* ein Muss, sonst wird sie nervös, und dann schreit sie, wird traurig oder aggressiv.

Ronja kann mit ihren sieben Jahren etwa zehn Wörter sprechen. Atypischer Autismus ist ein möglicher Grund für ihre Sprach­entwicklungs­störung. Sie ist jedoch noch zu klein für eine abschliessende Diagnose, ergaben Abklärungen. Genauso gut – das steht in den Berichten der Entwicklungs­pädiatrie und -psychiatrie, der Neurologie und der Genetik – ist ein seltener Gendefekt oder eine andere Erkrankung möglich.

Auch deshalb folge ich Sara weiter auf Facebook. Ich will mehr über diesen Menschen erfahren, der ebenso wenig «der Norm» entspricht (was auch immer «die Norm» bedeuten mag) wie mein Kind, wie viele andere Kinder: Über 1,7 Millionen Menschen in der Schweiz haben eine Beeinträchtigung – 52’000 davon sind Kinder. 10 bis 20 Prozent aller Kinder haben eine diagnostizierte psychische Beeinträchtigung. Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind eine davon.

Man sagt oft, Autist:innen würden in ihrer eigenen Welt leben. Doch das stimmt nicht. Wir leben auf der genau gleichen Welt wie ihr alle auch. Wir nehmen sie bloss anders wahr.

Aus «Wie es sich lebt».

Sara hat das Buch geschrieben, um die Stimme zu nutzen, die er:sie habe, erzählt mir Sara bei unserem ersten Treffen. Damit sich andere Betroffene nicht so alleine fühlten. Und weil das Schreiben wohl das Einzige sei, was Sara wirklich gut könne. Wir sitzen auf einer Parkbank. Es ist ein sonniger Frühlingstag, der Wind ist noch kühl. Sara fällt es schwer, Blick­kontakt zu halten, und schaut oft zu Boden. Trotzdem wirkt Sara selbst­bewusst und überhaupt nicht «abwesend», so wie ich es von autistischen Kindern aus der Schule meiner Tochter kenne. Im Gegenteil – Sara ist enorm präsent.

Sara, wie geht es dir?
Eigentlich nicht so gut im Moment. Alles war gerade zu viel. Ich suche einen neuen Wohnort. Mein Buch ist erschienen. Ich trete bald meine Ausbildung als Buchhändler:in an.

Ich gratuliere!
Danke. Doch das sind grosse Heraus­forderungen für mich. Und manchmal kann ich das alles kaum mehr verarbeiten. Man sagt dem auch «Overload». Dann muss ich stundenlang etwas in Türkis malen, damit ich mich beruhige und es nicht zu einem Zusammen­bruch, also einem Melt- oder Shutdown, kommt.

War das schon als Kind so?
Damals war ich sehr schnell überreizt, konnte keine Kompromisse machen. Kleinste Sachen warfen mich aus der Bahn: Wenn meine Mutter beispiels­weise zum Mittagessen Reis ankündigte und es Nudeln gab, begann ich zu schreien oder Sachen rumzuschmeissen. Damals dachte man, ich sei einfach ein schwieriges Kind.

Weil du dir den:die Bilderbuchautist:in gerne aus der Bibliothek ausleihen kannst. Und weil auch ich nicht weiss, wie es all den anderen Menschen geht, mit welchen ich nichts mehr teile als eine auf ein Blatt gekritzelte Diagnose.

Aus «Wie es sich lebt».

«Autismus-Spektrum-Störungen sind häufiger, als man lange angenommen hat», schreibt mir Edith Vogt. Sie ist Psychologin bei der Fachstelle Autismus der Kinder- und Jugend­psychiatrie der Psychiatrischen Universitäts­klinik Zürich (PUK) und Mitgründerin einer Anlaufstelle, die Beratung für Menschen mit ADHS und ASS und deren Umfeld anbietet. «In Fachkreisen ist man sich einig: Etwa 1 von 100 Menschen ist davon betroffen.»

Eine Diagnostik könne in vielen Fällen Gewissheit schaffen. «Diese Gewissheit ist oft der erste Schritt zu einer spezifischen und somit tatsächlich hilfreichen Unter­stützung für Kind und Familie», so Vogt. Doch die Fachstelle, wo Edith Vogt Kinder und Jugendliche abklärt, ist bereits auf Monate hinaus ausgebucht, die Kinder- und Jugend­psychiatrien sind überbelegt, Spezialist:innen bis zu einem Jahr ausgebucht. «Ein unhaltbarer Zustand in unserem Gesundheits­system», findet die Psychologin.

Auch Saras Diagnose kam spät: mit 14 Jahren.

Angespannt seufzend zog ich das Blatt mit den Einträgen der vergangenen Schulwoche unter einem hohen Stapel dicker Bücher hervor. Entgegen all meiner Hoffnungen war die Seite noch immer zerknittert. Noch immer lesbar war die Schrift der negativen Einträge, zahlreiche, immer wieder. «Unaufmerksam», «wirkt abwesend», «kein Blickkontakt, schaut aus dem Fenster». Manchmal hatte ich das Gefühl, sie wollten das einfach nicht verstehen. Dass ich das alles gar nicht extra mache.

Aus «Wie es sich lebt».

Magst du etwas über deine Schulzeit erzählen?
Es war immer schwierig, schon im Kinder­garten. In der Primar­schule lief ich irgendwie so mit. Der Übertritt in die Oberstufe war dann zu viel für mich. Irgendwann hatte ich einen Zusammen­bruch, blieb einfach zu Hause und wollte nicht mehr aufstehen.

Was war denn so schwierig für dich?
Anschluss zu finden – wobei, das fiel mir schon immer schwer. Und dann dieses riesige Schulhaus, eine neue Klasse. Ich konnte vieles nicht nachvollziehen: Es gab zum Beispiel diese Weisung, dass die Schüler:innen das Zimmer verlassen dürfen, wenn die Lehrperson 15 Minuten nach Unterrichts­beginn noch nicht anwesend ist. Ich hielt es nicht aus, wenn nach 10 Minuten schon alle loszogen. Regeln, das sind doch Regeln. Oder versprochen ist versprochen! Wenn mir zum Beispiel jemand sagte: «Ich melde mich noch bei dir, versprochen», fragte ich mehrmals nach. Oder das mit der Ironie. Warum sagt man Sachen, wenn man sie nicht so meint? Das verstehe ich nicht.

Du sagst also nur Dinge, die du so meinst?
Heute kann ich das besser abwägen. Als Kind war ich so tätsch use, ehrlich. Für meine Eltern waren das teilweise peinliche Situationen. Irgendwann sagte mir meine Mutter: «Weisst du, man muss nicht immer die Wahrheit sagen.» Und dann habe ich angefangen zu lügen. Und das war dann auch nicht gut. Damals war ich sehr durch­einander.

Ich erzähle von meinen eigenen Schulerfahrungen als Kind. Unser Austausch wird vertrauter. Sara scheint eine gesunde Distanz zum Erlebten zu haben, erzählt reflektiert und überlegt, erkennt psychologische Zusammen­hänge besser als manche Erwachsene.

Oft spät erkannt

«Die Autismus-Spektrum-Störung oder das Asperger-Syndrom ist eine angeborene, von klein auf bestehende besondere Art, die Welt, Informationen und Begegnungen zu erfassen», schreibt Maria Asperger Felder, Kinder- und Jugend­psychiaterin. Ihr Vater Hans gilt als der Erst­beschreiber des Asperger-Syndroms in den 1940er-Jahren. ASS-Menschen verstehen die sozialen Regeln nicht und verhalten sich dadurch sozial unangepasst. «Der Algorithmus für das Soziale fehle», so habe es ein Mann im Spektrum ihr gegenüber schon ausgedrückt. «Doch daneben gibt es auch viel Positives», so die Spezialistin. «Man kann sich auf diese Menschen verlassen, sie sind ehrlich, halten sich an Regeln und sind oft ausgesprochen liebenswert.»

Asperger Felder erklärt weiter: «Da das Persönlichkeits­bild von ASS oder Asperger nicht so bekannt ist, wird es häufig relativ spät erkannt. Damit vergeht viel Zeit, die genützt werden müsste.» Denn je länger keine entsprechende Therapie erfolge, desto eher könnten auch Zweit­erkrankungen auftreten: eine Depression oder ein Trauma oder eine ausgeprägte Erschöpfung bis hin zum Burn-out.

Sara, was passierte, nachdem du es nicht mehr geschafft hattest, in der Oberstufe in die Klasse zurück­zukehren?
Eine Zeit lang besuchte ich dann eine Schule für Hörbehinderte, da so schnell keine andere Lösung gefunden wurde.

Und wie ging es in dieser Schule?
Es wurden auch hier Dinge von mir erwartet, die ich nicht leisten konnte. Zum Beispiel wäre Blick­kontakt halten wichtig gewesen, um von den Lippen abzulesen, und Mimik und Gestik. Und über Mittag hatte ich keine Rückzugs­möglichkeiten. Ich entwickelte eine Zwangs­störung und eine Depression. In der Klinik wurde ich dann mit Medikamenten behandelt und setzte mich in der Therapie intensiv mit mir auseinander. Die Diagnose ASS kam dann aber trotzdem erst später durch eine Abklärung, die mein Gotti initiierte.

War die Diagnose eine Erleichterung für dich?
Am Anfang wehrte ich mich eher dagegen, doch dann hatte mein Leidens­druck endlich einen Namen, das hat mich selbst entlastet. Für meine Mutter war es eine Erleichterung. Das Coolste an der Diagnose ist, dass ich jetzt spezifische Therapien machen kann. Und: Ich bin mir jetzt mehr bewusst, wie ich funktioniere, kann es anderen besser erklären. Zum Beispiel, dass für mich alle Geräusche gleich laut sind oder ich fixe Bezugs­personen, verbindliche Abmachungen brauche.

Der Moment, in welchem ich damit begonnen habe,
meinen Autismus in den meisten Fällen eine Behinderung zu nennen.
Weil mein Autismus mich teilweise an Dingen hindert oder mich in gewissen Situationen behindert, mir Sachen verunmöglicht oder erschwert.

Aus «Wie es sich lebt».

Plötzlich erscheinen auch mir die Geräusche – hier unter diesem Baum, auf dieser Bank – lauter als sonst. Das Tram, das oben auf der Strasse fährt und rattert. Das hupende Auto. Das Kind, das schreit, und das Zwitschern der Vögel. Das Klimpern der Tastatur meines Laptops, auf dem ich unser Gespräch festhalte. Normaler­weise muss ich mich aktiv konzentrieren, um die Welt um mich bewusst wahrzunehmen. Sara muss sich aktiv konzentrieren, um meine Worte aus den anderen Geräuschen herauszufiltern.

Eifersucht, was ist das?

Einen Moment sind wir einfach still. Das Gespräch geht mir nahe. Gerne würde ich Sara in den Arm nehmen, doch das wäre nicht professionell, und viele Menschen mit Autismus mögen keine Berührungen. Ich möchte nichts riskieren. Stattdessen schreibe ich eine Nachricht an meinen Mann: «Wie gehts mit Ronja?» – «Alles gut, wir sind auf dem Spielplatz – zum Glück alleine.»

Sara nimmt das Gespräch von sich aus wieder auf: «Kinder sind so brutal. Man merkt schnell, wenn man anders ist. Ich musste vieles erst lernen, was für die Neuro­typischen normal ist.»

Was denn zum Beispiel?
Den Blickkontakt zu halten. Eine Lehrperson sagte mir immer wieder: «Du hörst mir gar nicht zu! Schau mich an, wenn ich mit dir rede!» Oder Emotionen in den Gesichtern zu lesen.

Du siehst also nicht, wenn ich fröhlich bin?
Lachen ist fröhlich, Schreien ist wütend, Weinen ist traurig. Aber wie man vor Glück weinen kann, das bringt mich extrem durcheinander. Jemand fragte mich mal: «Hast du nicht gemerkt, dass ich traurig bin?» Und ich so: «Aber du hast ja gelacht.» Und dann kam: «Ja schon, aber nicht wirklich.» Damit kann ich nicht umgehen. Mir muss man direkt sagen, wie es einem geht.

Wie ist das mit deinen eigenen Emotionen? Kannst du die jeweils einordnen?
Positive und negative Gefühle kann ich unter­scheiden, doch es gibt ja vieles dazwischen. Glücklich, das weiss ich, wie es sich anfühlt. Aber Eifersucht, was ist das?

Und wie ist das mit Liebe?
Ich glaube, verliebt zu sein ist etwas, was bei mir ziemlich normal funktioniert. Die Beziehung nachher, das ist das Schwierige.

Was ist denn für dich so schwierig daran?
In Beziehungen, egal ob in platonischen oder romantischen, muss oft Rücksicht auf mich genommen werden. Ich brauche vor und nach sozialen Inter­aktionen Pausen, um mich auf neue vorzubereiten oder davon zu erholen. Auch kann man sich mit mir nicht überall treffen, oft ist es mir zu laut. Jemanden zu finden, die:der sich darauf einlassen kann, mir die Nähe, aber auch den Abstand gibt, den ich benötige, ist unglaublich schwierig. Das Einschätzen der Beziehung ist für mich auch schwer. Ich merke, wenn ich verliebt bin, kann aber die Signale eines Gegen­übers nicht lesen.

Deine Pronomen sind «they/them». Du bezeichnest dich als non-binär, kannst dich also keinem Geschlecht zuweisen.
«Non-binär» ist einfach die Bezeichnung, die mir am ehesten entspricht. Es ist schwierig zu erklären. Es fühlte sich jedoch falsch an, mich «Frau» oder «Mann» zu nennen. Irgendwann habe ich von Menschen gelesen, die nicht in diese Mann/Frau-Norm passen, und konnte mich damit sehr identifizieren.

In der Gesamtbevölkerung können sich nach Schätzungen 0,6 Prozent nicht dem Geschlecht zuordnen, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Bei Menschen mit ASS (und ADHS) kommt eine sogenannte Geschlechts­dysphorie häufiger vor.

Autismus-Fachfrau Vogt schreibt auf meine Frage, warum dies so sei: «Immer wieder höre ich in Abklärungen, dass sich Betroffene ‹wie von einem anderen Planeten› vorkommen. Vielleicht mag es für einzelne junge Menschen mit ASS schwierig sein, für sich herauszufinden, ob es einfach das Gefühl ist, ‹wie von einem anderen Planeten zu sein› – also zur ganzen Spezies Mensch nicht richtig dazuzugehören –, oder ob es sich tatsächlich vor allem auf die Nicht­zugehörigkeit zum zugewiesenen Geschlecht bezieht.»

Ich schreibe weitere Fachpersonen an, doch keine kann oder möchte mir dazu Auskunft geben. Zu unerforscht sei das Gebiet. Dabei wünschten sich auch Eltern mehr Antworten darauf.

Ob mein Kind Ronja sich als Mädchen oder Junge oder einfach als Mensch fühlt? Ob sie dieses Bewusstsein über ihr Geschlecht oder ihre Existenz je entwickeln wird? Bis zu diesem Gespräch mit Sara habe ich mir diese Frage nie gestellt.

Sara, was meinst denn du, warum so viele Menschen im Spektrum ein Gender­thema aufweisen?
Ich finde das auch spannend, habe viel darüber gelesen, im Internet recherchiert. Ich kam zu keinem endgültigen Schluss und sagte mir irgendwann: «Hey, muss ich es wirklich wissen? Es ist jetzt einfach so.» Viele Artikel zum Thema, die ich gefunden habe, bergen doch grosse Gefahren. Wenn zum Beispiel «trans» mit Autismus in Verbindung gebracht wird, heisst das irgendwie, «trans» sei eine Krankheit. Ich bin eigentlich immer froh, wenn ich etwas begründen kann, doch gewisse Dinge muss man einfach lassen. Ich bin ein extremes «Wieso-warum-Kind». Mein Bruder sagt mir oft: «Jetzt nimm es doch einfach mal so, wie es ist.» In gewissen Situationen hat er recht.

Es ist einsam so. Einsamer als bei der Familie oben, die ich oft bis spät abends lachen höre. Einsamer als ich es mir wünsche. Ich wünsche mir mehr Zusammensein. Kein Wunsch, wie man ihn von einem:r 17-jährigen Autisten:in erwartet.

Aus «Wie es sich lebt».

Der Kontakt zu Sara bleibt auch über den Interview­termin hinaus bestehen. Mehrmals pro Woche schreiben wir uns. Ich schicke Sara Fotos von meiner Tochter, Sara schickt mir Bilder von Velotouren.

Ein paar Wochen später dann das Fotoshooting für diesen Artikel: Wir verbringen nochmals einen Nachmittag, lachen zusammen. Ein paarmal habe ich Tränen in den Augen, weil alles so gut läuft. Immer wieder gehen wir den Tagesplan durch. Sara und ich vereinbaren, dass ich Sara im Abbrechen unterstütze, wenn ich wahrnehme, dass es zu viel und zu anstrengend wird. Sara sagt: «Du spürst mich irgendwie gut, ich merke es dann sonst zu spät – erst am Abend, wenn der Meltdown kommt.» Als das Shooting vorbei ist, setzen wir uns auf eine Treppe und atmen tief durch.

Was wünschst du dir eigentlich für die Zukunft, Sara?
Ich wünsche mir, ich könnte mehr ankommen. An einem Ort mit gleichgesinnten Menschen, bei mir selber. Ruhiger werden. Ich bin immer so brutal unruhig. Du kannst dir das so vorstellen: Es gibt doch diese Multimedia­geschäfte mit ganz vielen Bildschirmen an den Wänden, und auf jedem Bildschirm läuft ein anderer Film und Musik dazu. So ist mein Leben.

Verstehe ich durch Sara meine eigenen Kinder besser? Saras Offenheit und Stärke machen mir Mut. Auch für Ronjas Zukunft – und sie bestärken mich in meiner Überzeugung, dass Diversität unsere Welt bereichert und nicht belastet. Ich wünsche mir für Sara, sich zu verbünden – mit den vielen anderen Menschen, die nicht in eine Schublade passen.

Wir beschliessen, Freund:innen zu werden. An der Tram­haltestelle verabschieden wir uns. Ohne Umarmung. Und ich sage: «Danke für diese Begegnung, Sara. Ich lerne so viel von dir.»

Zur Autorin

Marah Rikli ist Geschäftsführerin einer Buch­handlung, freie Autorin und Mutter zweier Kinder. Sie ist Kolumnistin für das Lehrpersonen­magazin «Rundgang». Dort schreibt sie über das Leben mit ihrer beeinträchtigten Tochter. Sie publiziert regelmässig Artikel für den Mamablog des «Tages-Anzeigers» und veröffentlichte Beiträge in der «SonntagsZeitung», in «Wir Eltern» und der «Aargauer Zeitung». Ihre Schwerpunkte: Inklusion, Feminismus und Erziehung.

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