Auf lange Sicht

Mein Haus ist mein Schloss

Die Schweizer Landbevölkerung sagte nicht unbedingt Nein zum CO₂-Gesetz, weil sie so extrem anders denkt als die Städter, wie jetzt wieder gern und oft geschrieben wird. Sondern vor allem, weil sie anders lebt.

Von Olivia Kühni (Text, Datenanalyse) und Marie-José Kolly (Datenanalyse, Grafiken), 21.06.2021

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Die Ergebnisse waren eindeutig, und letzte Woche war es überall zu lesen: «Das Land» sagte tendenziell Nein zum CO2-Gesetz, die Städte sagten Ja. Sofort zeigte man sich besorgt über den angeblich immer tiefer werdenden Stadt-Land-Graben. Einmal mehr wurde eifrig die Erzählung der «arroganten Städter» und der «liberalen Elite» beschworen, die das Land eben nicht mehr verstünden. (Wann sie es je verstanden, weiss niemand.)

Tatsächlich gibt es Themen, bei denen ein solcher Graben besteht – vor allem, wenn es um Sicherheit (Waffen, Law & Order), Landwirtschaft, Verkehrspolitik oder Migration geht. Doch der Graben ist ein sehr kleiner, und er ist ziemlich unklar befestigt, was angesichts der Kleinräumigkeit, Vielfalt und zunehmenden Urbanisierung der Schweiz nicht erstaunt.

Die beliebte Erzählung von den Mentalitäts­unterschieden – hier die abgehobenen Städterinnen, dort die rückwärtsgewandte Landbevölkerung – ist gerade in der dicht besiedelten Schweiz zu banal, als dass man sie allzu oft beschwören sollte.

Lebt in Liestal und Frauenfeld die «liberale Elite»?

Bei den Ergebnissen zum CO2-Gesetz müsste aufmerksame Beobachterinnen vor allem stutzig machen, dass auch viele sehr kleine Städte Ja dazu sagten – und dass diese oft nur wenige Busminuten von Gemeinden wegliegen, in denen die Vorlage scheiterte. Lebt in Liestal (56,2 Prozent Ja), Sissach (52,6 Prozent Ja) oder Frauenfeld (52,0 Prozent) etwa tatsächlich die «arrogante liberale Elite»? Und ein paar Velominuten entfernt hausen die Hillbillys?

Versteht man in Wil (50,1 Prozent Ja) die Dringlichkeit der Klimakrise, im benachbarten Uzwil (39,6 Prozent) aber haben sie leider von allem nichts mitbekommen?

Oder anders gefragt: Wenn es vielleicht doch nicht einfach Mentalitäts­unterschiede oder Befindlichkeiten sind – was genau ist es, das Menschen so wenige Kilometer entfernt teilweise deutlich anders stimmen liess?

Diese Frage ist selbstverständlich eine hochkomplexe, und es wäre vermessen, sie hier bis ins letzte Detail beantworten zu wollen. Verschiedene Wissenschaftler und Forschungsinstitute sind zurzeit daran, sie zu untersuchen. Aber einige Hinweise auf mögliche Zusammenhänge gibt es. Und um sich denen auf anschauliche Art zu nähern, bietet sich eine Gegend an, in der sich die Bruchlinien sehr gut zeigen: meine Heimat im tiefen Aargau.

Drei Gemeinden im Aargau

Ich wuchs in Schöftland auf, einer ländlichen Gemeinde, die dank ihrer Geschichte (eine potente Mühle, ein Steinbruch, Textilindustrie) und strategisch hervorragenden Lage (Basel, Bern, Zürich und Luzern sind gut zu erreichen) sehr lebendig, hübsch und finanziell solide ist. Sie ist auch ein lokales Zentrum: Die Leute von den umliegenden Hügeln und Tälern kommen hierher zur Schule, ins Kino oder zum Einkaufen.

Fährt man von hier nur 22 Minuten mit der Lokalbahn (zu Stosszeiten jede Viertelstunde), erreicht man die Kantonshauptstadt Aarau mit ihrer Bilderbuch-Altstadt, den Gymnasien, Konzertlokalen und der zunehmend bildungsbürgerlichen Bevölkerung. (Die Häuserpreise gleichen sich langsam, aber stetig denen der Region Zürich an.)

Fährt man statt nach Aarau mit dem Postauto seitwärts ins Ruedertal, wähnt man sich nach nur 10 Minuten im Emmental: sattgrüne, langgezogene Hügel, darauf verstreut Höfe, Weiden und Weiler. Mitten im Ort Schlossrued steht das namensgebende Schloss Rued. Dass dort im 19. Jahrhundert eine der ersten Vorkämpferinnen für das Frauenstimmrecht lebte, erfuhr ich in der Schule nie. Dafür kannte ich die Landbeiz mit Brunnen, weil wir dort auf Ausritten jeweils die Pferde tränkten.

Jedenfalls: Aarau, Schöftland und Schlossrued. Alle drei Gemeinden liegen – eben, die Schweiz ist ein kleinräumiges Land – in einem Umkreis von nur rund 20 Autominuten voneinander entfernt. Das Bundesamt für Statistik führt sie als städtisch (Aarau), intermediär (Schöftland) und ländlich (Schlossrued). Es sind die drei Gemeindegruppen, die beim CO2-Gesetz jeweils so unterschiedlich stimmten.

Und tatsächlich, meine Heimat hielt sich an den landesweiten Trend.

Städtische Gemeinden sagten eher Ja

Stimmenanteil

Beispiel im AargauAarauSchöftlandSchlossrued0 50 100 % Ganze SchweizKernstadtIntermediärLändlich0 50 100 %

Eine vierte, schweizweite Kategorie ist der «übrige städtische Raum». Dort stimmten 48,9 Prozent für das Gesetz. Quelle: Bundesamt für Statistik

Aarau sagte mit 65,1 Prozent deutlich Ja zum CO2-Gesetz, Schöftland (mit 37,7 Prozent Ja-Stimmen) und Schlossrued (mit 27,5 Prozent Ja-Stimmen) Nein. Dasselbe Muster wie im ganzen Land also, nur wie gewohnt im Aargau in der Ablehnung noch um ein paar Prozentpunkte deutlicher. Auch wenn man sich andere Gemeinden in der weiteren Region anschaut, ist das Bild auf den ersten Blick klar: Städte und Städtchen wie Olten, Zofingen oder Langenthal (im Westen) sowie Lenzburg, Brugg und Bremgarten (im Osten) sagten alle Ja; Baden sowieso. Und die jeweiligen Gemeinden rundherum meist Nein.

Die interessantere Frage ist nur, wieso. Und die kurze Antwort: nicht oder zumindest nicht nur, weil die Menschen hier zwingend extrem anders denken als ein paar Kilometer weiter. Sondern vor allem auch, weil sie anders leben.

Mein Bauer, mein Auto, mein Haus

Die Gründe dafür, warum es in der einen Gemeinde ein Ja gibt und in der anderen ein Nein, sind wie gesagt vielfältig. Wenn man sich aber einiges an Variablen anschaut – Bildung, Einkommen, Landwirtschaftsflächen, Wohnungen, Autos et cetera –, gibt es ein paar Zusammenhänge, die auffallen.

1. Wo starke Bauern, da viel Nein
Es haben andere schon früh und sehr anschaulich darauf hingewiesen: In Gemeinden mit viel Landwirtschaft haben die Bauern wegen der beiden gleichzeitig vorliegenden Agrarinitiativen stark mobilisiert. Das sollte eigentlich nicht überraschen: Kaum eine Lobby ist so professionell, gut organisiert und schlagkräftig wie die der Bauern. Und die Leute, die sie an die Urne brachten, schickten das CO2-Gesetz offenbar gleich mit bachab: Wo der Nein-Anteil hoch war, gab es vielerorts eine historisch hohe Stimmbeteiligung.

Genau das ist auch in meinem einstigen Nachbardorf Schlossrued passiert. Bei der Abstimmung zum Energiegesetz (2020) beispielsweise gingen hier wie oft nur knapp 50 Prozent der Stimmbürgerinnen an die Urne. Diesmal waren es satte 64 Prozent. In Schöftland hingegen, wo die landwirtschaftliche Nutzfläche noch ein Viertel von der Schlossrueds beträgt (120 Hektaren gegenüber 460 Hektaren), stimmten damals 52 Prozent und diesmal 59 Prozent ab. In den richtig wichtigen Bauerngemeinden im südöstlichen Teil des Aargaus, dem Freiamt, gingen diesmal teilweise weit über 70 Prozent an die Urne.

Im Einzelfall macht das nicht viele Stimmen aus. In der Masse aber schon: 37 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz leben ausserhalb der Agglomeration von kleinen oder grösseren Städten. Also in Gemeinden, die wie Schöftland oder noch ländlicher sind. Und der Anteil mit Schweizer Pass ist hier oft höher als in urbanen Gebieten.

2. Mein Auto
Einer der offensichtlichsten Faktoren, der den Ja-Anteil beeinflusst hat, ist der Motorisierungsgrad einer Gemeinde, also die Anzahl Autos pro 1000 Einwohner. Im Fall unser drei Beispielgemeinden zeigt sich der Zusammenhang fast wie aus dem Lehrbuch: in Aarau stehen auf 1000 Einwohnerinnen 485 Autos, in Schöftland 647 und in Schlossrued 740 – pro 100 Autos mehr gab es also jeweils 6 beziehungsweise 10 Prozentpunkte weniger Ja-Stimmen.

Ein Blick auf das ganze Land bestätigt eine mittlere Korrelation: Wo die Bürger viele Autos besitzen, sank auch der Anteil Ja-Stimmen.

Je mehr Autos in einer Gemeinde stehen, desto weniger wollten ihre Einwohner vom CO₂-Gesetz wissen

04080 Ja-Stimmen-Anteil05001000 Personenwagen pro 1000 Einwohnerinnen

Der Korrelationskoeffizient (Spearman): –0,38. Stand: Personenwagen im Jahr 2020. Die zwölf Gemeinden, in denen mehr Autos stehen, als Menschen leben, sind in der Grafik nicht sichtbar (Bannwil, Wachseldorn, Montagny-près-Yverdon, Risch, Schönengrund, Bioley-Orjulaz, Rebévelier, Romanel-sur-Morges, Brione sopra Minusio, Teuffenthal, Aclens, Manno). Quelle: Bundesamt für Statistik (Abstimmungsresultat; Bestand der Strassenfahrzeuge nach Gemeinde; Kennzahlen der Gemeinden).

Das bedeutet auch: Die SVP traf mit ihrer Kampagne «Autofahren nur für Reiche?» offenbar mitten ins Schwarze. Auch der erste Treffer beim Googeln («CO₂-Gesetz») führt auf einen Werbelink zu ihrer Kampagnenseite, mitsamt dem Kurztext: «Der Warentransport und etliche Dienstleistungen werden damit verteuert. Es ist der schlechteste Moment, die Mobilität zu verteuern.» (Direkt darunter kommt Myclimate mit, nun ja: «Unterstützen Sie Klimaschutzprojekte und Klimabildungsarbeit».)

Dass der Benzinpreis schon jetzt stärker schwankt, als ihn die CO2-Abgabe erhöht hätte, überzeugte als Gegenargument offenbar nicht – ebenso wenig wie die Tatsache, dass es vor allem Benzinanbieter und Autoverkäufer waren, die als sogenanntes Wirtschaftskomitee zusammen mit der SVP gegen das Gesetz antraten. Also eine Gruppe mit extrem starken Eigeninteressen, die sonst nicht dafür bekannt ist, sich besonders für niedrige Benzinpreise einzusetzen.

Die Sorge um unter anderem den Benzinpreis spiegelte auch die Nachwahlbefragung der Tamedia. Dort äusserten sich die Befragten weniger zu Wertefragen als vor allem zum eigenen Portemonnaie: Die Nein-Stimmenden stützten zu fast 40 Prozent die Aussage, das Gesetz gehe «zu Lasten des Mittelstandes, der die Kosten zu tragen hat». Dass dieses angeblich ein «links-grünes Umverteilungsprojekt» sei, störte hingegen nur 21 Prozent.

Es ging also hier – zumindest auch – um das vermeintliche Loch im Portemonnaie. Was dabei noch fast schwerer wiegt als das Auto, ist natürlich: das Haus.

3. Mein Haus
Alle die Städtchen und Städte mit einem Ja-Votum zum CO2-Gesetz haben – so verschieden sie sein mögen – eines gemeinsam: Viel weniger Menschen als im Schweizer Durchschnitt leben in einem eigenen Haus.

Der Anteil der Menschen, die Wohneigentum besitzen, die Wohneigentums­quote, liegt landesweit bei rund 38 Prozent. Dieser Durchschnittswert aber verschleiert ein Muster: In den Städten liegt die Wohneigentumsquote teilweise deutlich darunter, in den Landgemeinden deutlich darüber. Hier gibt es tatsächlich einen Graben.

Im oben zitierten Wil SG beispielsweise liegt die Wohneigentumsquote (kumuliert über die Jahre 2015 bis 2019) bei 31 Prozent – im direkt benachbarten Uzwil SG hingegen bei 49 Prozent.

Die Daten zeigen auch hier landesweit eine mittlere Korrelation: Wo die Wohneigentumsquote hoch ist, legten die Bürgerinnen eher ein Nein ein.

Da, wo Menschen Häuser besitzen, stimmten sie eher gegen das CO₂-Gesetz

04080 Ja-Stimmen-Anteil050100 Wohneigentumsquote in Prozent

Der Korrelationskoeffizient (Spearman): –0,38. Stand: Wohneigentumsquote im Jahr 2000. Quelle: Bundesamt für Statistik (Abstimmungsresultat; Wohneigentumsquote).

Auch meine drei porträtierten Heimatgemeinden passen wiederum ins Muster: die Wohneigentumsquote betrug in Aarau 27,2 Prozent, in Schöftland 49,8 Prozent und in Schlossrued 67 Prozent. Auch diese Zahlen stammen aus dem Jahr 2000, das letzte Mal, als das Bundesamt für Statistik die Quote landesweit auch für kleinere Gemeinden berechnete.

Der Zusammenhang mit dem Wohneigentum ist einfach zu erklären. Eine der wichtigsten Massnahmen, die das CO2-Gesetz vorgesehen hätte, ist: ab 2023 eine feste Obergrenze für CO2-Emissionen von Öl- und Gasheizungen in Altbauten. Dieser erlaubte Wert wäre danach schrittweise gesunken, bis auf null im Jahr 2043. Neubauten hätten ab sofort gar keine Heizungen mit fossilen Brennstoffen mehr einbauen dürfen. Das sind sinnvolle Massnahmen, weil fossile Heizungen und schlechte Isolation für ein Viertel der landesweiten CO2-Emissionen verantwortlich sind. Doch für Haus­besitzerinnen hätte das bedeutet, ihre Häuser dämmen und Heizungen ersetzen zu lassen: Kosten, die für eine Familie schnell 50’000 bis 100’000 Franken betragen. (Hier ein Rechenbeispiel.)

Natürlich sparen Hausbesitzer so langfristig Heizkosten und investieren in den Wert ihres Hauses. Ausserdem sprachen die Kantone schon jetzt Fördergelder für solche Umbauten, und der neue Klimafonds hätte dafür auch Geld reserviert.

Doch erstens bleibt trotzdem ein substanzieller Betrag, den die Eigentümerinnen auf einen Schlag über ihre Hypothek selber hätten schultern müssen. Zweitens ist unklar, ob sie von den Staatstöpfen überhaupt wussten: Im äusserst dicht bepackten Gesetz stand er parallel neben allerlei anderen Geldflüssen. Und weder die eine noch die andere Pro-Kampagne gingen prominent darauf ein.

Anders auch hier wieder die Gegenkampagne, die den Finger direkt auf den wunden Punkt legte. Sie streute in ihr Video alles von Frauenquote bis Flüchtlinge, mit Schlenker über Corona. Doch die Bildsprache war glasklar und eindeutig: ein gealterter Familienvater, der in seinem Haus friert.

Und jetzt?

Das knappe Nein zum Rundum-CO2-Gesetz ist nicht Endstation, sondern Etappe. In mehreren Kantonen und Städten laufen Programme, Reformen, Vorstösse.

Und viele Befürworterinnen des CO2-Gesetzes haben offenbar durchaus verstanden, warum man an der Urne scheiterte: Ausgerechnet im Aargau diskutierte der Grosse Rat nur zwei Tage nach der Abstimmung über eine Klimaschutz-Initiative der Grünen, die unter anderem Hausbesitzern den Ersatz von Ölheizungen mit mehr Fördergeldern erleichtern will. Eine Allianz aus Grünen, SP, GLP und Mitte beauftragte nun den Regierungsrat damit, sofort einen entsprechenden Gegenvorschlag auszuarbeiten.

Noch im April hatte eine Mehrheit dagegen votiert.

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