Wie ein 60 Jahre altes Missverständnis Covid noch gefährlicher machte

Fast die ganze Pandemie über stritten sich Wissenschaft und Gesundheits­behörden über den Weg, wie sich Sars-CoV-2 verbreitet. Tröpfchen? Nein, Aerosole! Dieser klitzekleine Irrtum hatte ungeheure Folgen.

Von Megan Molteni (Text), Bernhard Schmid (Übersetzung) und Philotheus Nisch (Bilder), 15.06.2021

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Am frühen Morgen des 3. April 2020 schleicht Linsey Marr auf Zehen­spitzen zu ihrem Esszimmer­tisch. Dort setzt sie ein Headset auf – und startet die Zoom-App auf ihrem Computer. Der Reihe nach erscheinen auf dem Monitor Dutzende vertrauter Gesichter. Einige andere sind neu, etwa jenes der Sach­verantwortlichen für Covid-19 bei der Weltgesundheits­organisation, Maria Van Kerkhove. Am WHO-Hauptsitz in Genf ist es ein Uhr nachmittags; in Blacksburg, Virginia, wo Marr mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt, hat gerade eben die Morgen­dämmerung eingesetzt.

Marr ist Aerosol-Forscherin am Virginia Polytechnic Institute in Blacksburg – und weltweit eine der wenigen ihres Fachs, die sich auch mit Infektions­krankheiten beschäftigen. Für Marr sieht es ganz danach aus, als könne das neue Corona­virus, das zuerst China und dann Italien heimsuchte, über längere Zeit in der Luft schweben bleiben. Und so Menschen infizieren, die genug davon einatmen. Bei der WHO scheint das zu diesem Zeitpunkt noch nicht angekommen zu sein. Nur wenige Tage zuvor schreibt die Organisation in einem Tweet: «FAKT: #COVID19 ist NICHT aerogen», es wird also nicht durch die Luft übertragen (FACT: #COVID19 is NOT airborne). Das ist der Grund, warum Marr ihr übliches morgendliches Work-out zugunsten dieses Meetings ausfallen liess. Zusammen mit 35 anderen Aerosol-Forschern will sie klar­stellen, dass die WHO gerade daran ist, einen gewaltigen Fehler zu machen.

Die Forscherinnen tragen in der Video­konferenz den WHO-Leuten ihre Argumente vor. Sie beginnen mit einer langen Liste von Super­spreading-Events: Restaurants, Callcenter, Kreuzfahrt­schiffe, die Probe eines Kirchen­chors – alles Vorfälle, bei denen sich Menschen angesteckt haben, obwohl sich die infizierte Person am anderen Ende des Raumes befand. Vorfälle, die im Wider­spruch zu den wesentlichen Sicherheits­richtlinien der WHO stehen: Abstand von ein bis zwei Metern halten, Hände waschen.

Falls sich Sars-CoV-2 nur in grossen Tröpfchen verbreiten würde, die sofort zu Boden fallen – wie es die WHO behauptet –, dann hätten die Einhaltung der Abstands­regel und das Hände­waschen solche Ausbrüche doch verhindert? Infektiöse Luft, argumentieren die Forscherinnen, sei in diesen Fällen als Ansteckungs­weg viel wahrscheinlicher. Die Fachleute der WHO beeindruckt das nicht. Um Covid-19 für aerogen zu erklären, bräuchten sie handfeste Beweise – Beweise, die zusammen­zutragen Monate dauern würde.

Während sich Tag für Tag Tausende anstecken, krank werden, sterben.

An der Video­konferenz wird die Stimmung zunehmend angespannter. Etwa, als die renommierte Atmosphären­physikerin Lidia Morawska, die das Meeting arrangiert hat, zu erklären versucht, welche Distanzen infektiöse Partikel von unterschiedlicher Grösse in der Luft zurück­legen können. Einer der anwesenden WHO-Experten fällt ihr ins Wort, erklärt ihr, dass sie falsch liege. Marr ist empört: «Man kanzelt doch Lidia nicht einfach auf ihrem eigenen physikalischen Fachgebiet ab», sagt sie.

Mehr als zwanzig Jahre lang hatte Morawska einen anderen Zweig der WHO über die gesundheitlichen Folgen von Luft­verschmutzung beraten. Solange es um Russ- und Aschepartikel aus Schorn­steinen und Auspuffen ging, akzeptierte die Organisation die von ihr dargelegten physikalischen Prinzipien bereitwillig – dass Partikel von ganz unterschiedlichen Grössen in der Luft hängen bleiben können. Und jetzt, da es sich um virus­tragende Partikel handelt, scheinen die Experten der WHO zu sagen, dass exakt dieselben physikalischen Gesetz­mässigkeiten plötzlich nicht gelten. Der Begriff «aerogen» betreffe nur Partikel, die kleiner seien als fünf Mikrometer, sagen sie. Und so sitzen die beiden Lager vor ihren Bild­schirmen, gefangen in ihrem spezifischen Fachjargon – und reden aneinander vorbei.

Als die Konferenz zu Ende ist, lehnt sich Marr erschöpft zurück; in ihrem Magen ballt sich ein nur allzu bekannter Frust zu einem Klumpen zusammen. Am liebsten würde sie joggen gehen, ihre Frustration bei jedem Schritt mit den Füssen in den Asphalt rammen.

Daten sammeln, immer alles hinterfragen, keine Ruhe geben: Linsey Marr, Aerosol-Forscherin. Peter Means/Virginia Tech

«Ich hatte das Gefühl, dass die WHO sich längst entschieden hatte. Es hatte nie die Absicht bestanden, ernsthaft auf uns einzugehen», erinnert sie sich. Als Fachfremde war Marr es bereits gewohnt, von Angehörigen des medizinischen Establishments ignoriert zu werden und sich gegen Skepsis und blanke Ablehnung behaupten zu müssen. Diesmal stand aber weit mehr auf dem Spiel als ihr Ego. Der Beginn einer weltweiten Pandemie war der absolut schlechteste Zeitpunkt für einen Streit um Begrifflichkeiten. Der verbale Clash schien ihr aber nur ein Symptom für ein weit gravierenderes Problem: dass sich die globale Gesundheits­politik in dieser Pandemie auf überholte wissenschaftliche Grundlagen stützte. Marr entschloss sich, nicht aufzugeben. Aber zuerst musste sie verstehen, warum die Kommunikation zwischen den Aerosol-Forschern und der WHO so kläglich gescheitert war.

Die falsche Zahl

Genau wie die Atmosphären­physikerin Lidia Morawska hatte auch Linsey Marr viele Jahre auf dem Gebiet der Luft­verschmutzung geforscht. Gegen Ende der Nuller­jahre, als ihr Ältestes in die Kindertages­stätte eintritt, ändern sich ihre Prioritäten. Marr beschäftigt die Welle von triefenden Nasen, Bronchitis und Grippe, die im Winter durch die Klassen­zimmer schwappt – obwohl sich die Betreuerinnen strikte an die Hygiene­vorschriften halten. «Kann es sein, dass sich diese Infektionen über die Luft verbreiten?», fragt sie sich. Sie besorgt sich medizinische Fach­bücher, um sich schlau­zumachen.

Gemäss dem medizinischen Konsens, den sie vorfindet, werden praktisch alle Atemwegs­erkrankungen durch Husten und Niesen übertragen. Wenn eine erkrankte Person hustet, schiessen ihr Bakterien und Viren wie eine Ladung Schrot aus dem Mund. Diese sinken rasch und setzen sich innerhalb eines Explosions­radius von einem bis zwei Metern auf beliebigen Ober­flächen ab. Landen diese Tröpfchen auf einer Nase oder einem Mund (oder einer Hand, die anschliessend ein Gesicht berührt), können sie zu einer Infektion führen.

Nur wenige Krankheiten weichen laut Lehrmeinung von dieser Tröpfchen­regel ab. So ist etwa bekannt, dass Masern und Tuberkulose sich anders übertragen; in ihrem Fall spricht man von «aerogener» oder «luftüber­tragener» Infektion. Diese Krankheits­erreger sind in Aerosolen unterwegs, mikroskopischen Partikeln, die sich stundenlang in der Luft halten und durchaus weite Entfernungen zurück­legen können. Sie können sich allein über die Atmung infizierter Personen verbreiten.

Die Unterscheidung zwischen Tröpfchen- und aerogener Übertragung hat weitreichende Konsequenzen. Zur Bekämpfung von Tröpfchen wird gründliches Hände­waschen mit Seife empfohlen; bei infektiösen Aerosolen ist hingegen die Luft selbst der Feind. Für Kranken­häuser bedeuten Aerosole teure Isolier­stationen und FFP2-Masken für das gesamte medizinische Personal.

Die Lehrbücher, die Marr durchblättert, ziehen eine strikte Grenze zwischen Tröpfchen und Aerosolen, und zwar bei einer Grösse von 5 µm. Ein µm (Mikrometer) ist ein Millionstel eines Meters. Dieser Definition zufolge ist jedes Partikel unter 5 µm Durchmesser ein Aerosol; alles, was grösser ist, gilt als Tröpfchen. Je tiefer sie sich in die Materie gräbt, desto öfter stösst sie auf diese Zahl. Auch für die WHO und die US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) sind 5 µm der Dreh- und Angel­punkt der Unterscheidung.

Es gab bei alledem jedoch ein buchstäblich klitze­kleines Problem.

«Physikalisch betrachtet», weiss Marr, «ist das komplett falsch.» So viel ist ihr jedenfalls klar nach allem, was sie über die Bewegung von Partikeln in der Luft weiss. Die Realität ist nämlich weit weniger geordnet: Auch Partikel, die viel grösser als 5 µm sind, können über längere Zeit schweben und sich wie Aerosole verhalten; entscheidend dafür sind Faktoren wie Temperatur, Luft­feuchtigkeit und -geschwindigkeit. «Immer wieder stiess ich auf diese falsche Zahl, es war beunruhigend», sagt sie. Die Fachwelt hatte wegen dieses Irrtums also eine verzerrte Vorstellung davon, wie Menschen sich infizieren.

Epidemiologen beobachten seit langem, dass die meisten Atemwegs­erreger zur Verbreitung auf engen Kontakt angewiesen sind. Aber auf engem Raum kann viel passieren. Eine erkrankte Person kann jemandem Tröpfchen direkt ins Gesicht husten. Oder aber kleine Aerosole ausstossen, die inhaliert werden. Vielleicht schüttelt sie einer anderen Person auch nur die Hand, mit der diese sich später ins Gesicht fasst. Jeder dieser Mechanismen kann das Virus übertragen. «Genau genommen ist es schwierig zu unterscheiden, welcher Mechanismus letztlich für eine Infektion verantwortlich ist», sagt Marr. Für Infektionen über grössere Entfernungen kommen nur aller­kleinste Partikel infrage. Bei engem Kontakt spielen Partikel jeder Grösse eine Rolle. Und dennoch waren jahrzehnte­lang im Wesentlichen Tröpfchen die Schuldigen.

Elegante Simulationen

Marr entschliesst sich, selbst Daten zu sammeln. Als sie in Tages­stätten und Flugzeugen Luftproben­sammler installiert, findet sie Grippe­viren an Orten, wo sie laut Fach­literatur gar nicht sein dürften – in der Luft, meist in Partikeln, klein genug, um stundenlang in der Schwebe zu bleiben. Und: Marr findet sie in ausreichender Menge, um jemanden zu infizieren.

Man schrieb das Jahr 2011, und diese Nachricht hätte damals durchaus für Aufsehen sorgen sollen. Stattdessen lehnten die grossen medizinischen Fachjournale ihr Manuskript ab. Selbst nach weiteren Experimenten, die ihre These stärken, dass die Grippe durch Aerosole übertragen wird, zeigt sich unter den Fach­zeitschriften einzig das Nischen­journal «Journal of the Royal Society Interface» ihrer Arbeit gegenüber aufgeschlossen. In der von abgeschottetem Denken geprägten akademischen Welt waren Aerosole seit jeher Domäne von Ingenieuren und Physikern. Krankheits­erreger hingegen waren ausschliesslich Sache von Medizinerinnen. Marr war eine der wenigen, die eine Brücke zu schlagen versuchten. «Ich war definitiv eine Aussen­seiterin», sagt sie.

In der Hoffnung, den Widerstand zu überwinden, versuchte sie immer wieder mal die Provenienz der problematischen 5-µm-Grenze zu klären. Ein ums andere Mal jedoch lief sie gegen die Wand. Die medizinische Fach­literatur nahm den Wert als gegeben; über seine Herkunft verlor sie kein Wort. Er war einfach da. Ihrer Bemühungen müde, widmete sie sich schliesslich wieder ihrer Forschungs­arbeit, das Leben ging weiter, und das Geheimnis der 5-µm-Grenze trat in den Hintergrund.

Das änderte sich schlagartig im Dezember 2019, als eine Studie aus dem Labor von Yuguo Li auf ihrem Schreib­tisch landet.

Als Experte für Innenraum­luft an der University of Hongkong hatte Li sich während der ersten Sars-Epidemie 2003 einen Namen gemacht. Seine Arbeit zum Ausbruch in der Hongkonger Hochhaus­siedlung Amoy Gardens lieferte handfeste Hinweise dafür, dass Corona­viren aerogen sein können. Aber auch er hatte Gesundheits­behörden seither nicht davon überzeugen können, dass die gängigen Meinungen zu Infektions­risiken schlicht falsch waren. Also entschloss er sich, selbst Modell­rechnungen anzustellen. Lis elegante Simulationen zeigten, dass beim Husten oder Niesen nicht genügend schwere Tröpfchen entstehen und dass Ziele wie Nasen, Augen oder ein geöffneter Mund schlicht zu klein sind, um für den Grossteil der Infektionen verantwortlich zu sein. Lis Team kam zum Schluss, dass sich Erkältungen, Grippe und andere Atemwegs­erkrankungen, entgegen der Meinung von Gesundheits­behörden, auch mittels Aerosolen verbreiten.

Die Ergebnisse entblössten zudem die etablierte 5-µm-Grenze als Trugschluss. Den strittigen Wert verfolgte Li bis zu einer jahrzehnte­alten Richtlinie der Centers for Disease Control für Kranken­häuser zurück. Marr schlägt in diesem Moment das Herz bis zum Hals. Ein Fachblatt hatte sie um eine Rezension von Lis Arbeit gebeten. Und sie macht keinen Hehl aus ihrem Enthusiasmus. «Diese Arbeit ist von enormer Bedeutung», schreibt sie am 22. Januar 2020, «insofern sie das bestehende Dogma bezüglich der Übertragung von Infektions­krankheiten über Tröpfchen und Aerosole infrage stellt.»

Noch während sie ihre Rezension verfasst, realisiert sich die praktische Bedeutung von Lis Arbeit am anderen Ende des Globus. Die 11-Millionen-Metropole Wuhan wird von der Aussen­welt abgeriegelt in dem verzweifelten Versuch, eine bis dahin noch namenlose Atemwegs­erkrankung im Zaum zu halten. Als die Pandemie rund um die Welt Land um Land zum Stillstand bringt, raten WHO und CDC den Leuten, sich die Hände zu waschen, Oberflächen zu schrubben und auf Abstand zu ihren Mitmenschen zu achten – kein Wort von Masken oder von der Gefahr geschlossener Räume.

Eine erste Spur

Einige Tage nach dem Meeting mit den WHO-Vertreterinnen bekommt Marr eine E-Mail von einem Kollegen, der ebenfalls teilgenommen hatte: Jose-Luis Jimenez, Atmosphären­chemiker an der University of Colorado in Boulder. Er hat sich an der 2-Meter-Richtlinie der WHO festgebissen. Die Empfehlung zum Social Distancing schien auf ein paar Studien aus den 1930er- und 1940er-Jahren zurück­zugehen. Die Autoren sprachen sich darin aber explizit für die Möglichkeit einer aerogenen Übertragung aus. Ein Widerspruch, denn ein Abstand von zwei Metern genügt als Schutz vor aerogener Über­tragung nicht. Das geht doch alles nicht auf, dachte er.

Marr schreibt ihm von ihren Bedenken zur 5-µm-Grenze. Ihr Verdacht: Die beiden Probleme beruhen auf demselben Irrtum. Falls die 2-Meter-Richtlinie tatsächlich auf einer falschen Definition von Tröpfchen beruhte, dann war die 5-µm-Grenze kein obskures Detail. Sie war Kern der falschen Richtlinien von WHO und CDC. Herauszufinden, wo diese herkamen, wurde damit schlagartig zur Priorität. Um hinter ihre Genese zu kommen, brauchten Marr und Jimenez jedoch Hilfe. Hier musste ein Historiker her.

Marr kannte einen an ihrem eigenen Polytechnikum: Tom Ewing, dessen Spezial­gebiet die Geschichte von Tuberkulose und Influenza ist. Dieser schlug vor, eine Doktorandin mit an Bord zu nehmen, von der er wusste, wie gut sie in dieser Art von Forensik war. Das Team ist sich einig. «Das verspricht interessant zu werden», schreibt Marr Jimenez am 13. April 2020 in einer Mail. «Ich denke, wir werden auf ein Kartenhaus stossen.»

Bei der Doktorandin handelt es sich um Katie Randall. Covid hatte ihrer Dissertation gerade einen schweren Schlag versetzt, persönliche Gespräche mit ihren Probanden waren nicht mehr möglich. Also hatte sie mit ihrem Doktor­vater ausgehandelt, sich in diesem Frühjahr um den schriftlichen Teil ihrer Arbeit zu kümmern. Dann jedoch erhielt sie Ewings Mail, in der er ihr Marrs Suche nebst den Spuren schilderte, die ihr Team bis dahin gefunden hatte. Das Ganze nehme sich aus «wie eine vielschichtige archäologische Ausgrabungs­stätte voller Scherben», schrieb er, «aus denen sich womöglich ein Topf ergibt». Das genügte; sie war mit von der Partie.

Randall hatte sich in ihrem Studium intensiv mit Zitations­forschung befasst, einer Art akademischer Detektiv­arbeit. Dabei stehen nicht Blutspuren und lose Fasern im Zentrum, sondern verborgene Verweise auf uralte Studien, Berichte und andere Aufzeichnungen. Sie beginnt dort zu graben, wo Li aufgehört hat – in Veröffentlichungen der WHO und der Centers for Disease Control. Mehr Hinweise kann auch Randall zunächst nicht finden. Sackgasse.

Also versucht sie es mit einem anderen Ansatz. Da die Fachwelt sich darin einig ist, dass Tuberkulose aerogen übertragen wird, füttert sie Such­maschinen mit den Begriffen «5 µm» und «Tuberkulose». Sie scrollt sich bis zum frühesten Dokument zur Tuberkulose­prävention, in dem von der Grösse von Aerosolen die Rede ist. Dieses zitiert ein vergriffenes Buch eines Harvard-Ingenieurs namens William Firth Wells, das 1955 unter dem Titel «Airborne Contagion and Air Hygiene» erschienen war. Eine erste Spur!

In der Zeit vor Covid hätte sie sich das Buch einfach über die Fernleihe kommen lassen; doch da die Universitäten pandemie­bedingt geschlossen waren, ging das nicht. In den Weiten des nach wie vor offenen Internets findet Randall antiquarisch eine Erstausgabe für 500 Dollar – was im Falle eines nicht finanzierten Neben­projekts schlicht nicht drinliegt. Schliesslich stösst einer der Bibliothekare ihrer Universität auf ein digitales Exemplar des gesuchten Titels in Michigan. Randall macht sich sofort an die Arbeit.

In den Worten von Wells’ Manuskript begegnet ihr ein Mann am Ende seiner Laufbahn, der schnell noch über dreiundzwanzig Jahre Forschung in einen Kontext zu bringen versucht. Sie beginnt, seine frühen Arbeiten zu lesen, darunter auch eine der Studien, die von Jimenez erwähnt worden waren. 1934 hatten Wells und seine Gattin Mildred Weeks Wells, eine Ärztin, Luftproben analysiert und so eine Kurve erarbeitet, die die Wirkung von Schwerkraft und Verdunstung auf lungen­gängige Teilchen aufzeigt. Die Berechnungen ermöglichten es, die Zeitspanne vorher­zusagen, mit der ein Partikel einer bestimmten Grösse vom Mund einer Person auf den Boden gelangt. Ihren Angaben zufolge sanken Partikel von über 100 µm Grösse binnen Sekunden. Kleinere Partikel hielten sich hingegen in der Luft. Randall studierte die Kurven. Es schien ihr, als zeichne sich die Tröpfchen-Aerosol-Dichotomie hier erstmals ab – es war aller­dings eine Gabelung, deren Drehpunkt bei 100 Mikro­metern ansetzte und nicht bei 5.

Wells Buch hatte über 400 Seiten, und Randall musste eigentlich eine Dissertation schreiben. Ausserdem half sie ihrer umtriebigen Sechs­jährigen, sich mit dem Fern­kindergarten zurecht­zufinden. So kam sie oft erst spätabends, nachdem alle zu Bett gegangen waren, zum Lesen, machte sich aber detaillierte Notizen über ihre täglichen Fortschritte.

Eines Abends stösst sie auf einige von Wells’ Experimenten in den 1940er-Jahren. Für diese hatte er in Schulen luftdesinfizierende UV-Lampen installiert. In den Klassen­zimmern mit den UV-Lampen erkrankten weniger Kinder an Masern. Er schloss daraus, dass das Masern­virus aerogen sein musste. Randall ist fassungslos. Sie wusste, dass man Masern erst Jahrzehnte später als aerogen übertragene Krankheit erkannt hatte.

Was in aller Welt war da passiert?

Kaninchen und Meerschweinchen

Zur Geschichte der Medizin gehört ein Verständnis dafür, warum gewisse Ideen Fuss fassen und andere nicht. Also versucht Randall, während das Frühjahr zum Sommer wird, Wells durch die Augen seiner Zeitgenossen zu sehen. Dabei stösst sie auf die Schriften von Alexander Langmuir, dem einfluss­reichen Chef-Epidemiologen der Centers for Disease Control. Sie waren eben, 1946, als «Office of National Defense Malaria Control Activities» gegründet worden. 1992 folgte die Umbenennung in CDC.

Wie alle seine Kollegen war Langmuir mit dem Evangelium der persönlichen Reinlichkeit aufgewachsen. Eine Obsession, die das Hände­waschen zum Grundstein US-amerikanischer Gesundheits­politik werden liess. Er schien Wells’ Ideen über die aerogene Übertragung von Krankheiten für einen Rückschritt zu halten, für einen Rückfall in eine überholte, irrationale Angst vor schlechter Luft – die «Miasma»-Theorie, die über Jahrhunderte die zentrale Theorie zur Krankheits­übertragung gewesen war. Langmuir tat daher den erneuten Fokus auf aerogene Übertragung als nicht mehr als «interessante Hypothesen» ab.

Zur gleichen Zeit jedoch machte sich Langmuir zunehmend Gedanken über die Möglichkeit einer Bedrohung durch biologische Waffen. Ihn beunruhigte die Vorstellung, ein Feind könnte amerikanische Städte mit aerogenen Pathogenen besprühen. Im März 1951, nur wenige Monate nach Beginn des Koreakriegs, veröffentlichte Langmuir einen Bericht, in dem er Wells’ Glauben an eine luftübertragene Infektion schmähte, seine Arbeit aber gleichzeitig als grundlegend für das Verständnis der physikalischen Prinzipien aerogener Infektion hervorhob.

Merkwürdig, dachte Randall und setzte ihre Lektüre fort.

Langmuir zitierte in seinem Bericht einige Studien über Gesundheits­gefährdungen in Bergwerken und Fabriken aus den 1940er-Jahren. Diesen zufolge waren die Schleim­häute in Nase und Rachen ausgesprochen effizient beim Ausfiltern von Partikeln über einer Grösse von 5 Mikrometern. Kleinere Partikel dagegen konnten bis in die Lunge vordringen und darin irreparablen Schaden anrichten. Wenn also jemand ein ebenso seltenes wie fieses Pathogen in ein potentes Mittel zur Massen­infektion verwandeln wollte, so schrieb Langmuir, so bräuchte er dieses nur in Form einer Flüssigkeit herzustellen, die sich in Partikel kleiner als 5 µm aerosolieren liesse. Klein genug also, um die wesentlichen Schutz­mechanismen des Körpers zu umgehen. Merkwürdig, in der Tat. Randall macht sich eine Notiz.

Als sie sich einige Tage darauf wieder Wells’ Buch zuwendet, bemerkt sie, dass auch er über diese arbeits­hygienischen Studien geschrieben hatte. Er begann, sich mit der Rolle der Partikel­grösse für die Wahrscheinlichkeit natürlicher Atemwegs­infektionen zu befassen. Dafür entwarf er eine Studie mit Tuberkulose­bakterien. Der Erreger war robust, liess sich fein aerosolieren und sorgte in der Lunge, wenn er es bis dorthin schaffte, für Läsionen. Er setzte Kaninchen seinen Bakterien auf zwei Arten aus: einmal mittels eines feinen Nebels (kleiner als 5 µm) und einmal mittels eines groben Nebels (grösser als 5 µm). Die der «feinen» Behandlung ausgesetzten Tiere erkrankten und wiesen bei der Autopsie durch Läsionen verdickte Lungen auf. Der «grobe» Nebel dagegen schien den Tieren nicht zu schaden.

Tagelang wechselt Randall zwischen Wells und Langmuir, bewegt sich dabei auf der Zeitachse abwechselnd vor und wieder zurück. Als sie zu Langmuirs späteren Arbeiten kommt, bemerkt sie eine Veränderung im Ton. In Artikeln aus den 1980er-Jahren, also gegen Ende seiner Laufbahn, gestand er ein, dass er sich hinsichtlich der aerogenen Über­tragung geirrt hatte und dass sie sehr wohl möglich war.

Wesentlich beigetragen zu Langmuirs Gesinnungs­wandel hatte eine von Wells letzten Studien. In einem Veteranen­krankenhaus in Baltimore hatte Wells die Abluft einer Tuberkulose­station in Käfige mit etwa 150 Meer­schweinchen gepumpt. Monat für Monat erkrankten daraufhin einige der Tiere an Tuberkulose. Die Gesundheits­behörden blieben skeptisch. Dem Experiment mangle es an Kontrollen, klagten sie. Worauf Wells und sein Team weitere 150 Tiere derselben Abluft aussetzten, nur bestrahlten sie diesmal die Luft mit UV-Strahlung, was jegliche Keime abtötet. Diese Meer­schweinchen blieben gesund. Es war der erste unwiderlegbare Beweis dafür, dass eine Human­krankheit wie Tuberkulose luftübertragbar sein konnte – und noch nicht einmal die grossen Tiere aus dem öffentlichen Gesundheits­wesen konnten das ignorieren.

Der Groschen fällt

Veröffentlicht wurden diese bahnbrechenden Ergebnisse 1962; Wells starb im September des folgenden Jahres. Einen Monat später erwähnte Langmuir den verstorbenen Ingenieur in einer Ansprache vor Fachkräften des öffentlichen Gesundheits­wesens. Sie könnten sich bei Wells dafür bedanken, dass er ihre inadäquate Reaktion auf die Tuberkulose­epidemie aufgezeigt habe. Die problematischen Tuberkulose­partikel, so betonte Langmuir – also die, über die man sich Sorgen machen müsste –, seien kleiner als 5 Mikrometer.

Bei Randall fällt der Groschen. Sofort kommt ihr das Dokument mit den Richtlinien zur Tuberkulose­prävention in den Sinn, mit dem ihre Recherche begonnen hatte. Tuberkulose war nämlich ein äusserst seltsamer Erreger, der ausschliesslich eine bestimmte Unter­gruppe von Zellen in den tiefsten Winkeln der Lunge befallen konnte. Die meisten anderen Bazillen sind da weit weniger wählerisch. Sie können Zellen im gesamten Atemtrakt infizieren und in Partikeln jeder Grösse vorkommen.

Laut Randall hatten wohl CDC-Wissenschaftler Wells’ Beobachtungen posthum einfach vermengt. Die Grösse der ansteckenden Tuberkulose­partikel wurde jeden Kontexts beraubt, herausgefischt und 5 µm zur allgemeinen Definition aerogener Übertragung verkündet. Wells’ 100-µm-Schwelle war dabei auf der Strecke geblieben. «Man sieht deutlich», sagt Randall, «hier wurde alles – was respirabel ist, was in der Luft bleibt, was infektiös ist – in dieses platte 5-µm-Phänomen gepackt.»

Im Lauf der Zeit fand dieser Irrtum durch gebets­mühlen­artige Wiederholung Eingang in den medizinischen Kanon. (Wiederholte Bitten um eine Stellung­nahme der CDC zu diesem Beitrag zeitigten keine Reaktion.)

Im Juni 2020 trifft sich Randall per Zoom mit dem Rest des Teams, um von ihrer Entdeckung zu berichten. Marr kann es kaum glauben: Da hatte doch tatsächlich jemand die Nuss geknackt! «Ich hab mir gedacht: ‹Grosser Gott, daher also die 5 Mikrometer?!›» Nach all den Jahren hatte sie endlich die Antwort. Freilich war die Lösung des 5-µm-Rätsels nur der erste Schritt. Wollte man diesen jahrzehnte­alten Mythos aus der Doktrin des öffentlichen Gesundheits­wesens überwinden, mussten zwei der mächtigsten Gesundheits­behörden der Welt nicht nur davon überzeugt werden, dass sie sich irrten, sondern auch davon, wie folgen­schwer dieser Irrtum war.

Während Randall in der Vergangenheit gräbt, arbeiten ihre Mitstreiterinnen eine Kampagne aus. Im Juli gehen Marr und Jimenez an die Öffentlichkeit, setzen ihre Namen unter einen offenen Brief an eine Reihe von Behörden des öffentlichen Gesundheits­wesens, darunter die WHO. Gemeinsam mit 237 weiteren Wissenschaftlern und Ärztinnen erklären sie, dass ohne striktere Empfehlungen für das Masken­tragen und Lüften die aerogene Verbreitung von Sars-CoV-2 selbst die energischsten Bemühungen um Tests, Tracing und Social Distancing untergraben würde.

Die Nachricht macht Schlag­zeilen und tritt eine vehemente Gegen­bewegung los. Prominente Persönlichkeiten des Gesundheits­wesens eilen der WHO zu Hilfe. Auf Twitter entbrennt ein heftiger Streit. Saskia Popescu, eine auf Infektions­prävention spezialisierte Epidemiologin, die heute Professorin für Bioverteidigung an der George Mason University ist, ist eine der wenigen, die sich überhaupt auf die Vorstellung einlassen wollen, dass Menschen sich über kurze Distanzen via Aerosole mit Sars-CoV-2 infizieren können. Dies entspricht nicht der Verwendung des Begriffs «aerogen» im öffentlichen Gesundheits­wesen. «Wir sprechen hier von einem ausgesprochen gewichteten Begriff, der sich darauf auswirkt, wie wir das angehen», sagt sie. «Man wirft damit nicht einfach so um sich.»

Einige Tage später gibt die WHO ein neues Grundsatz­papier heraus, das einräumt, dass Aerosole als Überträger nicht auszuschliessen seien, vor allem in schlecht gelüfteten Räumen. Sie hält jedoch nach wie vor an der Ein-bis-zwei-Meter-Regel fest und rät nur dann zum Tragen von Masken in geschlossenen Räumen, wenn sich dieser Abstand nicht einhalten lässt. Jimenez ist wütend. «Das ist reine Fehl­information und erschwert es den Leuten, sich zu schützen», tweetet er in Bezug auf das Update. «Z. B. 50+ Berichte über Schulen, Büros, die tragbare HEPA-Filter verbieten, weil @CDCgov und @WHO Aerosole herunterspielen.»

Ein Pathogen aus dem Lehrbuch

Während Jimenez und andere in den sozialen Netzwerken die Klingen kreuzen, arbeitete Linsey Marr hinter den Kulissen daran, das Bewusstsein für das Missverständnis um Aerosole zu fördern. Sie wendet sich an Kimberly Prather, eine Atmosphären­chemikerin der University of California in San Diego, auf die einige führende Leute bei den CDC und bei der Covid-Taskforce des Weissen Hauses hören. Im Juli schicken die beiden Frauen einige Fotos an Anthony Fauci, den Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases. Eines davon zeigt die Flugbahn eines in durchschnittlicher Mundhöhe freigesetzten 5-µm-Partikels. Es legte nicht nur mehr als zwei Meter, sondern ein Vielfaches davon zurück. Einige Wochen später gesteht Fauci bei einer Veranstaltung an der Harvard Medical School vor Publikum den Irrtum der 5-µm-Grenze ein – man habe da jahrelang falsch gelegen. «Letztlich haben wir es mit weit mehr Aerosol zu tun als angenommen», sagt er. (Ein Interview für diesen Artikel lehnte Fauci ab.)

Dennoch behält das Tröpfchen­dogma die Oberhand. Anfang Oktober 2020 veröffentlicht Marr mit einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Ärzten in «Science» einen Brief, in dem sie zur Einigung hinsichtlich der Verbreitung infektiöser Partikel auffordern. Als Erstes gelte es, die 5-µm-Schwelle über Bord zu werfen. Erst dann liesse sich der Öffentlichkeit klarer und effektiver Rat erteilen. Noch am selben Tag räumen die CDC in einem Update ihrer Richtlinien ein, dass sich Sars-CoV-2 durch lange in der Luft verbleibende Aerosole ausbreiten kann. Sie heben diese Möglichkeit jedoch nicht ausdrücklich heraus.

Im Winter beginnt auch die WHO öffentlich über Aerosole zu sprechen. Am 1. Dezember spricht sie die Empfehlung aus, in geschlossenen Räumen stets eine Maske zu tragen, wo immer Covid in Ausbreitung begriffen sei. Diese Änderung widerspiegle, sagt Maria Van Kerkhove in einem Interview, die Entschlossenheit der Behörde, ihre Richtlinien anzupassen, wann immer eine Änderung aufgrund wissenschaftlicher Belege angezeigt sei. Ihr zufolge hat die WHO von Anfang an ein Auge auf die aerogene Übertragung gehabt – erst in Kranken­häusern, dann in öffentlichen Räumen wie Bars und Restaurants. «Dass wir uns für gute Belüftung starkmachen, hat seinen Grund darin, dass dieses Virus aerogen sein kann.» Da Mediziner damit jedoch eine ganz spezifische Vorstellung verbänden, so gesteht sie ein, vermeide sie den Begriff und betone stattdessen die Art von Umständen, die die grössten Risiken bergen. Die Frage, ob diese Entscheidung die Reaktion der Gesundheits­behörden beeinträchtigt oder gar Leben gekostet hätte, beantwortet sie mit einem klaren Nein. «Die Leute wissen, was sie tun müssen, um sich zu schützen.»

Allerdings, so räumt sie ein, sei es womöglich doch an der Zeit, die alte Dichotomie von «Tröpfchen» und «aerogen» zu überdenken. Van Kerkhove zufolge plant die WHO noch für 2021 eine formelle Überprüfung der bei der Beschreibung von Übertragungs­arten verwendeten Definitionen.

Yuguo Li, dessen Arbeit Marr so inspiriert hatte, geben diese Schritte in gewisser Weise Anlass zur Hoffnung. «Jede Tragödie lehrt uns etwas», sagt er. Die Lektion, die man jetzt endlich lerne, meint er, sei die, dass Luft­übertragung zwar komplizierter, aber dafür weniger zu fürchten sei als angenommen. Sars-CoV-2 ist wie viele andere Erkrankungen der Atemwege luftübertragend, aber nicht exzessiv. Es ist nicht wie bei Masern, die so ansteckend sind, dass sich 90 Prozent aller anfälligen Personen beim Kontakt mit einem Erkrankten auch infizieren. Erwiesener­massen infiziert das Corona­virus Menschen eher selten über grössere Entfernungen hinweg. Auch selten in gut belüfteten Räumen. Das Virus verbreitet sich am effektivsten in unmittelbarer Nähe einer infizierten Person. Dieser Umstand ist es auch, der Sars-CoV-2 zunächst vordergründig wie einen Tröpfchen­erreger aus dem Lehrbuch ausschauen liess.

Nicht zu wissen, welche Übertragungs­wege genau verantwortlich sind, war bis anhin für die meisten Atemwegs­erkrankungen keine Katastrophe. Die Kosten daraus waren aber alles andere als klein. Allein an Grippe erkranken jährlich Millionen; zwischen 300’000 und 650’000 Menschen weltweit sterben daran jährlich. Und gemäss Epidemiologinnen stehen uns in den nächsten Jahren besonders tödliche Grippe­wellen bevor. Li hofft, dass durch die Anerkennung seiner und Marrs Geschichte – wie ein historischer Fehlschluss die effektive globale Reaktion auf Covid-19 behinderte – gute Belüftung zu einer zentralen Säule öffentlicher Gesundheits­politik wird. Nicht nur um das Ende der gegen­wärtigen Pandemie zu beschleunigen, sondern auch um vor künftigen zu schützen.

Um eine Vorstellung dieser Zukunft zu bekommen, braucht es nur einen Blick in Lis Hörsaal oder ins Fitness­center, in das Marr zum Work-out geht. In den ersten Tagen der Pandemie konnte Li die Verwaltung der Hongkonger Universität davon überzeugen, den grössten Teil ihres Covid-19-Budgets auf die Modernisierung der Belüftung von Gebäuden und Bussen zu verwenden. Statt auf Massen­tests für Studenten zu setzen. Marr ging mit dem Gym-Eigentümer die Pläne für Gebäude und Klima­anlage durch und berechnete die Luftwechsel­rate. Auf ihren Rat hin wurden die Work-out-Stationen ins Freie beziehungs­weise in die Nähe von offenen Türen verlegt. Bis heute hat sich dort noch niemand Covid geholt.

Lis Universität mit ihren 30’000 Studentinnen verzeichnete insgesamt 23 Covid-19-Fälle. Natürlich ist Marrs Fitness­center relativ klein, und die Universität profitierte von der Tatsache, dass asiatische Länder, die 2003 besonders hart von der Sars-Epidemie betroffen waren, die Gefahr einer Übertragung durch Aerosole ziemlich rasch erkannt hatten. Aber rasche lokale Interventionen wie die von Marr und Li können Orte sicherer machen. Und das ist es letztlich, worum es bei Richt­linien für die öffentliche Gesundheit geht: Menschen und Räume sicherer zu machen.

Tränen der Enttäuschung, Tränen der Erleichterung

Am Freitag, 30. April 2021, aktualisierte die WHO in aller Stille eine Seite auf ihrer Website. In einem Abschnitt über die Übertragung des Corona­virus heisst es jetzt, das Virus könne sich sowohl über Aerosole als auch grössere Tröpfchen ausbreiten. Wie die Soziologin Zeynep Tufekci in der «New York Times» schrieb, veröffentlichte man damit die wohl wichtigste Nachricht zur Pandemie ohne Presse­konferenz und grosse Erklärung. Wer nicht darauf geachtet hätte, hätte sie glatt übersehen.

Marr freilich hatte darauf geachtet; auch das Timing entging ihr nicht. Gerade eben hatte das renommierte Fachorgan der British Medical Association «The BMJ» unter dem Titel «Covid-19 Has Redefined Airborne Transmission» einen von ihr, Li und zwei weiteren Aerosol-Forscherinnen verfassten Leitartikel veröffentlicht. Und diesmal hatte sie noch nicht einmal betteln müssen; vielmehr war die Redaktion des Fachblatts auf sie zugekommen. Zuvor hatten Marr und ihr Team die Arbeit über den Ursprung des 5-µm-Irrtums vorab auf einem öffentlichen Preprint-Server eingestellt.

Anfang Mai ziehen die US Centers for Disease Control and Prevention bei ihren Covid-19-Richtlinien nach; das Einatmen von Aerosolen wird gar an die Spitze der Möglichkeiten gestellt, durch die sich das Virus überträgt. Aber auch in diesem Fall nimmt man die Änderung in aller Stille vor, ohne Presse­verlautbarung, ohne Konferenz. Nur, auch das entgeht Marr nicht. Sie fährt an dem Abend los, um ihre Tochter vom Gymnastik­unterricht abzuholen. An einer roten Ampel wartend, seit langem allein mit ihren Gedanken, bricht sie plötzlich in Tränen aus. Nicht dass sie zu schluchzen beginnt, aber sie weint heisse Tränen der Erschöpfung, der Erleichterung und auch des Triumphs. «Endlich», dachte sie, «endlich sind sie auf dem richtigen Weg – und wir haben etwas bewirkt.»

Die Ampel schaltet auf Grün. Sie wischt die Tränen weg. Irgendwann würde sie Zeit haben, das alles so richtig zu verarbeiten. Jetzt musste sie erst mal die Kinder abholen, Abend­essen machen. Sie konnte sich endlich wieder auf so etwas wie ein normales Leben freuen.

Zur Autorin

Megan Molteni ist Wissenschafts­redakteurin bei «STAT News». Sie schreibt beim Magazin «Wired» über Themen wie Biotechnologie, Gesundheits­politik und das Recht auf genetische Privat­sphäre. Dieser Beitrag erschien am 13. Mai 2021 auf «Wired».

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