Die Erste ihrer Art

Auf 77 Männer an der Spitze des US-Finanzministeriums folgte: Janet Yellen. Dort führt sie nun eine progressive Revolution an – einmal mehr.

Von Fabio Canetg, 07.06.2021

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Lange wurde sie unterschätzt. Heute ist Janet Yellen die mächtigste Ministerin der Welt (Bild von 2017). Luisa Dörr

«‹Nur eine Sekunde›, unterbrach mich Janet, ‹ich bin am Denken.›»

So beginnt 1963 ein Interview mit der 17-jährigen Janet Yellen in einer New Yorker Schüler­zeitung. Sie ist damals Jahrgangs­beste ihrer Schule; der Tradition entsprechend soll die Chef­redaktorin deshalb ein Gespräch mit ihr führen. Bloss: Diese Chefredaktorin, das ist ebenfalls Janet Yellen.

Soll sich Yellen also selbst interviewen? Für sie keine Frage: ja!

Das Selbstgespräch zeichnet das Bild einer etwas streberhaften, intelligenten und witzigen Schülerin, die kokett erklärt, dass sie «Essays schreibe, die keiner liest». Frage­stellerin Yellen beschreibt ihr Gegenüber als «vielseitig, attraktiv und talentiert», worauf die befragte Yellen kritisch entgegnet: «Du hast dir deine Stelle zu Kopf steigen lassen!» Auf die Erkundigung, was sie für Kurse besuche, beginnt die Gymnasiastin in selbst­ironischer Überheblichkeit zu buchstabieren: «Endlich dimensionale Vektor­räume. E-N-D- ...»

Washington D. C., 2021

Es herrscht Frühlings­erwachen in der amerikanischen Hauptstadt. Donald Trump ist weg, der rechte Populismus zurückgedrängt, und die letzten Reste an konservativem Mief aus den 1990er-Jahren beseitigt. Die politisch wichtigste Stadt der Welt blüht neu auf, frische Gedanken entfalten sich.

Und mittendrin ist die einstige Muster­schülerin: Janet Yellen.

An der Seite von Präsident Joe Biden macht sie sich auf, die USA auf Vordermann zu bringen. Als Finanz­ministerin ist sie eine der wichtigsten Personen im Kabinett – und eine der einfluss­reichsten auf der ganzen Welt.

Täglich jongliert Yellen mit Milliarden von Dollars. Sie feilt an globalen Steuer­standards, damit Firmen einen fairen Anteil zum öffentlichen Haushalt beitragen. Sie sorgt dafür, dass der Staat etwas gegen die wachsende Ungleichheit unternimmt. Und sie spannt den riesigen US-Finanz­markt ein, damit dieser endlich die Klima­wende unterstützt.

Wie es dazu kam, dass Janet Yellen mit 74 Jahren die progressive Revolution in der US-Wirtschafts­politik anführt: Diese Geschichte für sich ist bereits bemerkens­wert. Lange stand die brillante Akademikerin im Schatten von Männern. Sie wurde übergangen, unterschätzt und belächelt. Und doch setzt sie jetzt als United States Secretary of the Treasury grosse Dinge in Bewegung.

Doch Yellens Biografie erzählt noch viel mehr. Sie verdeutlicht, wie sich das wirtschafts­politische Denken in den Vereinigten Staaten – und mit ihm eine ganze Debatten­kultur – über die Jahre fundamental verändert hat.

Providence, 1970

Die Brown University ist eine erstklassige Adresse. Hier, in Providence im Bundesstaat Rhode Island, legt Yellen den Grundstein für ihre Karriere. Sie schliesst mit Bestnote in Ökonomie ab und doktoriert bei James Tobin, einem späteren Nobelpreisträger.

Yellen ist intelligent und bewunderns­wert, sagen Weggefährten. Das bestätigen auch ihre Vorlesungs­notizen. Nach ihrem Abschluss vertrauen mehrere Jahrgänge an der Brown University lieber auf die «Yellen Notes» als auf die eigenen Mitschriften, so präzise und vollständig sind die Aufzeichnungen der jungen Ausnahmekönnerin.

Ausserhalb der Universität muss Yellen aber schnell merken, dass die Welt nicht auf sie gewartet hat. Zwar forscht die Arbeits­markt­ökonomin nach ihrer Zeit an der Brown University bei einigen der höchst­angesehenen Forschungs­institute der Welt, darunter sechs Jahre an der Harvard University und 14 Jahre an der University of California in Berkeley.

Doch Yellen muss sich lange mit zweitklassigen Positionen begnügen. Ein Grund dafür ist, dass sie ihrem Ehemann George Akerlof – sie heiraten 1978, als Yellen 32 Jahre alt ist – den Vortritt lässt und mit ihm dorthin zieht, wo er eine interessante Stelle bekommt: nach London, nach San Francisco. Für Akerlof zahlt sich das aus: Er wird Professor und später Nobelpreis­träger.

Yellens Karriere nimmt dagegen erst später richtig Fahrt auf, als Präsident Bill Clinton 1994 auf sie aufmerksam wird. Da ist sie bereits 48 Jahre alt. Clinton nominiert Yellen für den Gouverneurs­rat des Federal Reserve (Fed), das Führungs­gremium der US-Zentral­bank in Washington. Die Mitglieder des Fed-Gouverneurs­rats bestimmen gemeinsam mit den Vertretern der regionalen Fed-Niederlassungen die Geldpolitik der Vereinigten Staaten.

Washington D. C., 1994

So packt Yellen ihre Koffer, ihren Ehemann und Sohn Robert und zieht in die US-Hauptstadt. Das angelsächsische Wirtschafts­modell, mit der Betonung auf freien Märkten und minimalen Staats­eingriffen, ist zu dieser Zeit auf seinem Höhepunkt. Mit dem Ende des Kalten Kriegs wird auch gleich das Ende der Geschichte ausgerufen – es gibt scheinbar keinen Grund mehr, in der Wirtschafts­politik über richtig und falsch zu diskutieren.

Diese Überheblichkeit ist nichts für Yellen. Zwar bekommt sie einen schicken Arbeits­platz mit Aussicht auf das Lincoln-Memorial; nur 900 Meter entfernt vom Weissen Haus. Doch statt in die teuren Nobel­restaurants zu gehen, wie es sich für Beamte ihrer Stufe geziemt, isst Yellen ihr Mittagessen in der Cafeteria des Fed. Und das ganz bewusst: Sie will mit Mitarbeiterinnen ins Gespräch kommen. Damals ist das unerhört: Washington hat noch nie eine Gouverneurin gesehen, die das informelle Gespräch mit jungen Ökonomen sucht. Doch die Akademikerin mag Debatten. Wer ihr gegenübersitzt, ist nicht wichtig. Was Yellen interessiert, sind überzeugende Gedankengänge.

Diese Art gefällt nicht allen, vor allem nicht dem damaligen Vorsitzenden des Fed, Alan Greenspan. Kein Fan eines offenen Meinungs­austauschs, umhüllt er sich lieber mit einer mysteriösen Aura. Diese Geheimnis­krämerei stellt Yellen offen infrage: 1996 will sie in einer legendären Sitzung von Greenspan wissen, welche Inflations­rate das Fed eigentlich anstrebe. Der «Maestro» weicht aus und erklärt die Diskussion für beendet.

Doch Yellen lässt nicht locker. Im selben Jahr plädiert sie an einer weiteren Sitzung des Gouverneurs­rats dafür, «ehrlich» mit dem Kongress zu sprechen. Üblich war bis kurz zuvor, dass das Fed nicht einmal bekannt gibt, welchen Zinssatz es anstrebt – der Markt musste das selbst heraus­finden. Aussage­kräftige Medien­mitteilungen und Presse­konferenzen gab es in jener Zeit auch noch nicht, und Fed-Chef Greenspan sagte Sätze wie: «Wenn ich übermässig deutlich wirke, haben Sie mich wahrscheinlich missverstanden

Yellen kann sich nicht sofort durchsetzen. Doch nach und nach verändert sich die Mentalität im Fed. Sämtliche Chefs nach Greenspan erkennen die Meinungs­vielfalt als Vorteil. An Sitzungen sprechen die Vorsitzenden heute nicht mehr zuerst, wie Greenspan, sondern zuletzt, weil sie die ungefilterten Ansichten der anderen Mitglieder hören wollen.

Und auch gegen aussen versuchen Zentral­banken heute, verständlicher zu kommunizieren. Seit 2011 erklärt das Fed seine Politik in regelmässigen Medien­konferenzen, an denen es mittlerweile sogar die Zins­prognosen einzelner Entscheidungs­trägerinnen veröffentlicht. Und 2012 bekennt sich die US-Zentralbank schliesslich zu einem verbindlichen Inflations­ziel – 16 Jahre nachdem Yellen dies im Gouverneurs­rat erstmals gefordert hat.

Denn die Geldpolitik, so sehen Zentral­banken auf Rat von Ökonominnen wie Yellen irgendwann ein, wird wirkungs­voller, wenn die Leute sie verstehen.

Bevor dies aber eintritt, wechselt Yellen den Job. Sie geht ins Weisse Haus.

San Francisco, 2004

Präsident Bill Clinton übergibt der Demokratin 1997 den Vorsitz in seinem Wirtschafts­rat, dem Council of Economic Advisers. Yellen wird in dieser Rolle zur wichtigsten wirtschafts­politischen Beraterin des Präsidenten.

Doch schon nach zwei Jahren legt sie auch dieses Amt wieder nieder. Offiziell aus familiären Gründen: Ihr Ehemann müsse auf seine Professur in Berkeley zurück­kehren, die er seit dem gemeinsamen Umzug nach Washington ruhen liess. Andere Quellen sagen, dass ihr der Job zu politisch ist. Es folgen einige ruhige Jahre, in denen Yellen an der University of California lehrt.

Sie gibt dort Kurse in Makro­ökonomie. Doch die Studierenden hören von ihr nicht den markt­gläubigen Mainstream. «Gibt es Voll­beschäftigung in einer kapitalistischen Markt­wirtschaft ohne regelmässige Eingriffe des Staats?», fragt sie 1999 in einer Rede an der Yale University. Die Antwort darauf gibt sie – wie einst als Schülerin – gleich selbst: «Bestimmt nicht!»

Bald redet Yellen auch in der Politik wieder mit. 2004 wird sie Präsidentin der regionalen Fed-Niederlassung in San Francisco. Wenn beim Federal Reserve fortan über Geldpolitik entschieden wird, sitzt sie mit am Tisch.

Für die Wirtschafts­politik sind es angenehme, aber trügerische Zeiten. Denn die Häuser­preise steigen in den USA wie verrückt. Manche Ökonomen warnen lautstark vor dem Crash und machen sich damit einen Namen – etwa Nouriel Roubini, der ein umstrittenes Papier veröffentlicht mit dem Titel: «Wieso die Zentral­banken Blasen zum Platzen bringen sollten».

Solche Warnungen stellen den Konsens unter Zentral­bankern infrage, wonach die Geldpolitik die Aktien- und Häuser­preise ignorieren sollte. Geprägt ist diese Doktrin von Alan Greenspan, der noch immer Fed-Vorsitzender ist.

Auch Yellen schliesst sich diesem Konsens an. Gleichwohl warnt sie intern beim Fed vor den Risiken auf dem Immobilien­markt – sie nennt diesen den «600-Pfund-Gorilla im Raum». Doch sie ist zu wenig laut: Yellen und die US-Zentral­bank unterschätzen, was sich im Finanz­system zusammen­gebraut hat. Und sie müssen 2008 mit ansehen, wie die Welt­wirtschaft nach der geplatzten Immobilien­blase in die tiefste Krise seit den 1930er-Jahren stürzt.

Washington D. C., 2013

Das Ereignis markiert eine Zäsur. In den USA beginnt eine Ära staatlicher Interventionen: Die Regierung von Präsident Barack Obama verschärft die Finanz­regulierung und legt ein Stützungs­programm über 800 Milliarden Dollar auf. Auch das Fed, bei dem Ben Bernanke inzwischen das Sagen hat, öffnet die Schleusen und pumpt Billionen von Dollar in den Finanzmarkt.

Ein Szenario wird Realität, das eine ganze Generation von Ökonomen, die in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren an den wichtigen amerikanischen Wirtschafts­fakultäten ausgebildet wurden, bisher nur in Lehrbüchern beschrieben und in Modellen erforscht haben: Wenn in der Privat­wirtschaft plötzlich gar nichts mehr funktioniert, muss der Staat das Heft in die Hand nehmen – und sich in Ausgaben stürzen, ohne Rücksicht auf Verluste.

Auch Janet Yellen spricht sich in dieser Zeit dafür aus, «alle Register zu ziehen» – allerdings mit einem mulmigen Gefühl, was die Staats­finanzen angeht, und wohl noch ohne zu ahnen, dass diese Summen nur Peanuts sein sollten im Vergleich zu dem, was ein gutes Jahrzehnt später noch folgen würde.

In den Folgejahren rappelt sich die US-Wirtschaft auf. Und Yellen gewinnt an Einfluss: Sie steht bereit, als eine Nachfolgerin für den zurück­tretenden Fed-Chef Bernanke gesucht wird. Präsident Obama hat jedoch schon jemand anderen ins Auge gefasst: Larry Summers, ein Urgestein der amerikanischen Ökonomen­szene. Er hat zuvor als Wirtschafts­berater von Obama gedient und als Finanz­minister unter Clinton. Summers scheint gesetzt für den Job.

Doch Summers wird eine sexistische Aussage zum Verhängnis, die er 2005 gemacht hat. Er behauptete damals, dass es in mathematischen und natur­wissenschaftlichen Fächern mehr Männer als Frauen gebe, weil zwischen den Geschlechtern «angeborene» Unterschiede bestünden. Mehrere einfluss­reiche Senatoren laufen in der Folge Sturm gegen die Nominierung von Summers. Im Kongress zirkuliert ein Schreiben, das Obama auffordert, Yellen vorzuschlagen.

Noch vor wenigen Jahren wäre ein solches Aufbegehren gegen einen «alten weissen Mann» kaum vorstellbar gewesen. Noch als Wirtschafts­beraterin von Bill Clinton hatte sich Yellen misogyne Sprüche anhören müssen: Als sie an einer Presse­konferenz eine Studie über Lohndiskriminierung vorstellte, bemerkte ein Reporter, Frauen seien eben «Untertanen von uns Männern».

Was früher als Scherz noch toleriert wurde, findet nun niemand mehr lustig. Und so bleibt Obama nichts anderes übrig, als Yellen statt Summers zur nächsten Fed-Chefin zu machen – diese ruhige und bedächtige, fast schon lächerlich langsam sprechende Person, die nur selten im Rampen­licht stand und stets zurück­haltend blieb, wenn sie nichts zu sagen hat.

«Allein wegen ihrer Fähigkeiten» sei sie an die Spitze gekommen, sollte ein ehemaliger Mitarbeiter später über Yellen sagen – nicht, weil sie sich öffentlichkeits­wirksam in Szene gesetzt hatte. Das sagt viel über Yellen aus, die im Gespräch fast jeden überzeugen kann. Und es ist Ausdruck einer neuen Kultur. Figuren wie Ronald Reagan, Alan Greenspan und Larry Summers profitierten in Wirtschafts­debatten immer auch von ihrem Charisma. Nun erhält statt eines Alphatiers eine harte, aber bescheidene Arbeiterin den Gouverneurs­posten – nachdem das Federal Reserve in seiner 100-jährigen Geschichte ausschliesslich von Männern geführt worden ist.

Washington D. C., 2015

Als Yellen ihre neue Stelle antritt, pumpt die US-Zentral­bank noch immer mehrere Milliarden Dollar pro Monat in die Finanz­märkte. Als Arbeits­markt­ökonomin hat sie damit aber keine Probleme.

Und als boden­ständige Person kann sie die Politik des Fed gut erklären. Statt technisch zu argumentieren, wie viele Zentral­banker vor ihr, erzählt Yellen in einer ihrer ersten Reden die Geschichten von Dorine, Jermaine und Vicki – dreier Menschen, wie es sie in den USA damals zu Tausenden gibt: Leute, die wegen der Finanz­krise den Job verloren oder an Einkommen eingebüsst haben. «Diese Geschichten erinnern uns daran, dass hinter den Zahlen echte Menschen stecken», sagt Yellen und kündigt an, dass sie die Zinsen vorerst weiter bei null lassen will, damit die Arbeitslosigkeit weiter sinkt.

Sie setzt damit die «Lower for longer»-Politik ihres Vorgängers Bernanke fort. Beide lassen sich dabei von einer immer grösseren Forschungsliteratur leiten, die zu einer solchen Politik rät. Auch dieser Ansatz sollte Schule machen: 2020 wird das Fed unter Führung von Yellens Nachfolger formell ankündigen, sich stärker an den Arbeitslosen­zahlen zu orientieren und die Zinsen erst wieder anzuheben, wenn Vollbeschäftigung herrscht.

Genau dies – die Zinsen anheben – tut Yellen zwei Jahre nach Amts­antritt allerdings doch. Die Massnahme ist gut begründet: Die Arbeitslosigkeit liegt unter fünf Prozent, gleichzeitig beginnt die Teuerung leicht zu steigen.

Trotzdem kosten sie die Zins­anhebungen ab 2016 wahrscheinlich den Job. Denn zur fast gleichen Zeit wird ein selbst ernannter Freund tiefer Zinsen ins US-Präsidenten­amt gewählt: Donald Trump. Und der Präsident darf den Fed-Vorsitzenden nach Ablauf der Amtszeit ohne Angabe von Gründen ersetzen.

Yellen rechnet nicht mit einer Wiederwahl. Zwar lädt Trump die amtierende Fed-Gouverneurin zu einem Gespräch ein. Doch das sei mehr eine Höflichkeits­geste gewesen als ein echtes Job-Interview, so Yellen später.

So setzt Trump 2018 Jerome Powell als neuen Fed-Vorsitzenden ein. Damit wird zum ersten Mal seit 1979 ein amtierender Fed-Chef nicht für eine zweite Amtszeit vorgeschlagen (wobei damals George William Miller das Fed verliess, weil Präsident Jimmy Carter ihn zum Finanz­minister ernannte). Trump entlässt Yellen also faktisch – und das ohne Begründung.

Entsprechend gross sind die Solidaritäts­bekundungen. An ihrem letzten Arbeits­tag lanciert die New Yorker Fed-Niederlassung den Hashtag #PopYourCollar, in Anlehnung an Yellens Marken­zeichen: den Stehkragen. Zahlreiche Fed-Mitarbeitende veröffentlichen Selfies in hochgestelltem Kragen, um sich bei Yellen zu bedanken. Und auch ihr Nachfolger Powell, der nicht bekannt ist für ausgefallenes Verhalten, schlägt bei seiner Antritts­rede den Veston­kragen hoch. Als Yellen das bemerkt, lacht sie herzhaft auf.

Washington D. C., 2021

Yellens Entlassung schmälert ihr Ansehen nicht: Sie hat beim Fed fast alles modernisiert, was es zu modernisieren gab. Sowohl bei den Demokraten als auch bei den Republikanern zollt man ihr dafür Respekt. Yellen gilt als progressive, aber zugleich extrem seriöse Ökonomin, die die Standes­regeln der Zunft sehr ernst nimmt und genau weiss, wie weit sie gehen kann.

So ist es nichts als folgerichtig, dass Joe Biden sie 2020 nach gewonnener Präsidentschafts­wahl in sein Kabinett holt. Die beiden Persönlichkeiten sind sich vom Alter, von ihrer Erfahrung und dem politischen Profil her sehr ähnlich. Und beide wissen: Jetzt oder nie muss ein Ruck durch Amerika gehen.

Klotzen, nicht kleckern ist deshalb angesagt. Ausgaben über 1,9 Billionen Dollar hat die Biden-Administration bereits beschlossen, um der Wirtschaft in der Pandemie wieder Schwung zu verleihen – mehr als doppelt so viel wie die Obama-Administration nach der Finanz­krise. Und das ist erst der Anfang: Biden hat weitere 2 Billionen Dollar für die Infrastruktur vorgesehen und will über zehn Jahre 1 Billion Dollar für Bildung und Gesundheit ausgeben.

Janet Yellen trägt die Verantwortung für diese Ausgaben. Als Nachfolgerin von 77 männlichen Finanz­ministern ist sie für das Budget der Vereinigten Staaten zuständig. Sie agiert dabei ganz auf der Linie der Forschung. Diese empfiehlt seit langem, dass der Staat grosszügig Geld ausgeben sollte, wenn die Zinsen bei null liegen und die Wirtschaft in einer tiefen Krise steckt.

«Es gibt viele Familien, die zurzeit am Limit sind», sagt Yellen. «Unser Programm wird ihnen helfen.» Dass diese Politik Mehrheiten findet, ist auch ihr Verdienst. Doch es zeugt auch vom politischen Wandel in Washington, wo das wirtschafts­politische Mantra der 1990er-Jahre – Fiskal­diziplin! – nicht mehr den wichtigsten Stellen­wert hat. Das zeigt sich nicht nur im Kongress, sondern auch bei Institutionen wie dem Internationalen Währungs­fonds, der seine Büros nur drei Blocks entfernt vom Fed und vom Weissen Haus hat.

Yellen wäre aber nicht Yellen, wenn sie nicht hartnäckig auf den wunden Punkt hinweisen würde: Die USA können nicht jedes Jahr so viel Geld ausgeben. Um das Staats­defizit nach der Krise in den Griff zu bekommen, will sie die Steuern erhöhen – nicht nur im Inland, sondern weltweit.

Ihr Vorschlag: eine globale Mindest­steuer auf Unter­nehmens­gewinne. Damit würde der internationale Steuer­wettbewerb abgeschwächt, amerikanische Firmen würden ihre Gewinne vermehrt wieder zu Hause versteuern, und in den Staats­kassen wäre mehr Geld für Infrastruktur, Bildung und Forschung. «Die Firmen müssen sich ihrer Verantwortung stellen», sagt Yellen. Trumps Steuer­senkungen für Unter­nehmen und reiche Privat­leute bezeichnete sie bereits vor ihrer Zeit als Finanz­ministerin als «unnötig und unangebracht». Anfang Juni gelingt ihr ein erster Durch­bruch. Bei ihrem Treffen in London einigen sich die Finanz­minister der sieben führenden Industrie­länder (G-7-Staaten) auf einen Mindest­­steuer­satz von 15 Prozent für multi­­nationale Konzerne und eine neue Steuer auf digitale Dienstleistungen.

Ein dritter Schwerpunkt der neuen Administration ist der Klima­wandel. Dazu hat sich Yellen bereits 1997 geäussert, als sie noch im Sold von Präsident Clinton stand. «Wenn wir uns dumm anstellen, kostet es [eine Reduktion des CO2-Ausstosses] viel», sagte sie damals. «Wenn wir uns schlau anstellen, könnte es längerfristig einen Nutzen bringen.» Heute steht nicht mehr zur Debatte, ob es sich lohnt, die Treibhausgas­emissionen zu reduzieren. Sondern wer das Geld für den ökologischen Umbau bereitstellt.

Yellen möchte dazu in einem ersten Schritt eruieren, welche Finanz­risiken sich aus dem Klima­wandel ergeben. Das sei eine komplizierte Sache, weil noch nicht genau absehbar. Es wäre aber «komplett falsch», deshalb nichts zu unternehmen, so Yellen. Das heisst im Klartext: Die Finanz­ministerin wird die Banken wohl zu einer grüneren Anlage­politik verpflichten. Auf den Finanzplatz kommen also neue Regulierungen zu, wenn der Kongress mitmacht. Mit der demokratischen Mehrheit sind die Chancen dafür intakt.

Brooklyn, 1963

«Eine kleine Gestalt sass gebeugt über einem Schreibtisch, der willkürlich mit Büchern und Bleistiften übersät war. In einem Metallkorb und auf dem Boden lagen zerkleinerte Kugeln aus unachtsam weggeworfenem Papier.»

So beschreibt sich Janet Yellen im Selbst­interview, in der Schüler­zeitung der Fort Hamilton High School.

Die Gymnasiastin, die in ihrer Freizeit Klavier spielt und ins Theater geht (aber nicht an den Broadway!), hat seither einen weiten Weg zurückgelegt. Mit offenen Augen für den gesellschaftlichen Wandel und mit dem Glück, am Ende genau die richtige Person am richtigen Ort zu sein. Vor allem aber mit einem unerschütterlichen Vertrauen in die Kraft des besseren Arguments.

«Ich bin am Denken», sagte sie 1963. Schon damals war klar: Wenn sie damit fertig ist, sollte man ihr gut zuhören.

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