Der Schandfleck
Mit der Abstimmung über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus steht in der Schweiz ein Grundsatzentscheid an. Ein Ja zu diesem Gesetz wäre eine Zäsur.
Von Daniel Binswanger, 05.06.2021
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Wir müssen reden. Noch einmal. Obwohl die Meinungsbildung schon weit fortgeschritten ist, obwohl an dieser Stelle bereits die Rede war von dem bizarren, juristisch unsauberen, weitgehend überflüssigen Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT), das der Gesinnungsjustiz Tür und Tor öffnen würde. Es ist ein Schandfleck in der Geschichte der eidgenössischen Räte, dass dieses Gesetz mit seiner unpräzisen, nicht auf Gewaltverbrechen eingeschränkten, alles und nichts einschliessenden Terrorismusdefinition überhaupt durchs Schweizer Parlament gekommen ist. Es ist ein Schandfleck, dass dieses Gesetz nicht nur vom Bundesrat befürwortet, sondern auch von den bürgerlichen Parteien mehrheitlich portiert wird. Von Leuten gar, die sich freisinnig nennen.
Es scheint einen Zusammenhang zu geben zwischen der Rationalität von Regierungshandeln und der Neigung zu autoritären Entgleisungen: Ein politisches System, das weiss, was es tut, muss ohne Not weder seinen Rechtsstaat ritzen noch seinem Sicherheitsapparat eine Carte blanche erteilen. Ein vernünftig regiertes Land, das seine wirtschaftspolitischen Vorteile wahrzunehmen weiss, das imstande ist, für sozialen Ausgleich, gesellschaftliche Integration und offene demokratische Debatten zu sorgen – ein solches Land ist gegen polizeistaatliche Anwandlungen gefeit.
Es ist wohl kein Zufall, dass wir gerade jetzt über das PMT abstimmen. Offensichtlich sind wir nicht gefeit.
Natürlich ist die Schweiz auch heute eine prosperierende Volkswirtschaft, deren direktdemokratische Institutionen ein einmaliges Mass an Partizipation erlauben und in der Regel zu breit abgestützten, vernünftigen Entscheidungen führen. Doch überall erweist sich in jüngster Zeit, dass unsere politische Handlungsfähigkeit an immer engere Grenzen stösst: Die Pandemiebilanz ist allerbestenfalls medioker. Die Europapolitik ist in einer völligen Sackgasse (Rahmenabkommen). Die immer extremer werdende Polarisierung verunmöglicht es, nötige Reformen zu vollziehen (Altersvorsorge). Der Schweizer Klimapolitik droht der definitive Absturz, nicht zuletzt aufgrund der politischen Hebel, über die Autoimporteure und Erdöllobbyisten verfügen (CO2-Gesetz). Das Kollegialsystem der Schweizer Landesregierung ist nicht mehr die Grundlage für Stabilität, sondern ein Darkroom der politischen Überlebenskämpfe.
Und jetzt das PMT: Die politische Regression führt zu polizeistaatlichem Übersteuern.
Natürlich versuchen die Befürworter des PMT, so zu tun, als sei diese Gesetzesvorlage helvetischer Courant normal, aber diese Behauptung ist nicht weniger realitätsfern als die sonstige Propaganda.
Ist es je vorgekommen, dass mehr als 60 akademische Rechtsexpertinnen öffentlich gewarnt haben, eine bundesrätliche Vorlage sei «problematisch mit Blick auf die Bundesverfassung und internationale Menschenrechtsabkommen»? Ist es je vorgekommen, dass ein so breiter Expertenkonsens herrscht, die Annahme eines neuen Bundesgesetzes «würde unseren Rechtsstaat aushöhlen»? Zugegeben: Neuerdings sind wir das Land, das mitten in einer tödlichen Pandemie per Kommissionsantrag den epidemiologischen Fachexperten den Mund verbieten will. Ist das also doch der Courant normal? Der neue?
Und wann ist es je vorgekommen, dass gegen eine Vorlage von so zahlreichen prominenten Juristen (Dick Marty, Paolo Bernasconi, Niccolò Raselli) Stimmrechtsbeschwerde eingereicht wird wegen behördlicher Desinformation? Der neue Courant normal? Behörden, die nicht einmal mehr korrekte Abstimmungsbüchlein verfassen?
Es gibt noch einen weiteren gesetzmässigen Zusammenhang, der uns beunruhigen sollte: Repressionsmöglichkeiten, die im Gesetz stehen, werden auch genutzt. Das Argument, man könne den Schweizer Polizeibehörden ohne Bedenken gesinnungspolizeiliche Kompetenzen verleihen, weil sie diese ganz gewiss nie missbrauchen würden, ist eine reine Schutzbehauptung. Wer schnell ins Visier kommen dürfte, ist ebenfalls schon klar: die Klimajugend.
In seiner Stimmrechtsbeschwerde bringt es Alt-Bundesrichter Raselli sehr treffend auf den Begriff: «Die Entkoppelung des ‹Terrorismus› von schweren Straftaten ermöglicht die Verfolgung politischer Opposition, politischer Bewegungen und von Medien. Man denke etwa an Klima-Aktivisten und -Aktivistinnen, die mit Blick auf ihre politischen Zielsetzungen mit Furcht und Schrecken argumentieren.»
Wie tritt die Justizministerin diesen sehr plausiblen Befürchtungen entgegen? Interessanterweise gar nicht. Ihr grosses Anliegen scheint es im Gegenteil zu sein, vorzuführen, wie sie die Bundesanwaltschaft autorisiert, mit schwerem repressivem Geschütz auf Öko-Aktivistinnen loszugehen. Dies geschieht, obwohl der Gesamtbundesrat im aktuellen Fall der Lausanner Klimaaktivisten von einer Strafverfolgung absehen wollte, explizit mit Verweis auf das Recht auf Meinungsfreiheit.
Ist das einfach nur haarsträubend ungeschickt von Karin Keller-Sutter? Oder will sie schon heute an die konservativen Wählersegmente das Signal aussenden, man werde bei der Klimajugend demnächst ganz andere Saiten aufziehen – zum Beispiel ein nicht autorisiertes Öko-Camp auf dem Bundesplatz als Terrorakt behandeln? Eine Reihe von rechtsbürgerlichen Parlamentariern hätte dagegen vermutlich keine grossen Einwände.
Wer wissen will, wie schnell und zuverlässig Umweltaktivistinnen ins Visier von Massnahmen gegen den islamistischen Terror geraten, braucht im Übrigen nur ins Ausland zu schauen. Nehmen wir zum Beispiel Frankreich: Es dauerte genau 13 Tage.
Am 13. November 2015 wurde Paris von den horrenden Terroranschlägen gegen das Bataclan-Theater und weitere Orte getroffen, die 130 Menschenleben forderten. Die französische Regierung verhängte sofort den Ausnahmezustand über das Land, der es den Sicherheitskräften insbesondere erlaubt, Verdächtige unter Hausarrest zu stellen und nach freiem Ermessen Hausdurchsuchungen vorzunehmen.
Am 26. November wurden 24 Klimaaktivisten unter Hausarrest gestellt. Sie standen im Verdacht, aus Anlass der Pariser Klimakonferenz Demonstrationen zu organisieren, obwohl aufgrund des Ausnahmezustands Demonstrationen nicht bewilligt waren. Schwer bewaffnete Überfallkommandos stürmten deshalb Studenten-WGs und legten die Bewohnerinnen in Handschellen. Das französische Gesetz machte im Ausnahmezustand keinen Unterschied zwischen Massnahmen gegen mutmassliche Jihadisten und Massnahmen gegen mutmassliche Klimademonstrantinnen. Die Sicherheitskräfte auch nicht.
Die USA sind ebenfalls instruktiv. Der Patriot Act, der im Oktober 2001 erlassen wurde, um effiziente Mittel gegen den Al-Qaida-Terror zur Hand zu geben, fand rasch auch seine Anwendung gegen die sogenannte «grüne Gefahr». Die Terrorismusdefinition des Patriot Act ist zwar im Vergleich zum PMT sehr eng gefasst, da sie nur auf Strafakte angewendet werden kann, die «menschliches Leben in Gefahr bringen». Gegen radikale Ökoaktivisten, die mit Brandstiftung gegen Pelzfarmen und Tierversuchslaboratorien vorgingen, wurde der Patriot Act aber trotzdem angewendet – obwohl die Aktivistinnen darauf achteten, dass es bei ihren Brandstiftungen «nur» zu Sachbeschädigungen, aber nicht zu Verletzten oder gar Todesopfern kam.
Die Qualifizierung als «terroristisch» führt in den USA dazu, dass auch vergleichsweise geringe Vergehen mit sehr grossen Ressourcen verfolgt und mit extrem hohen Gefängnisstrafen geahndet werden können. Die Strafverfolgungsbehörden lassen sich nicht lange bitten. Weshalb auch sollten sie diese Chance nicht ergreifen?
Die Annahme des PMT würde an den Tag legen, wie tief die Systemkrise der Schweizer Politik inzwischen geworden ist. Das Nein-Lager wird stärker, aber es sieht ganz so aus, als könnte es für eine Mehrheit nicht mehr reichen. Die helvetische Demokratie verwandelt sich immer mehr in einen grossen Sanierungsfall. Autoritäre Regression wäre die schlechteste aller Antworten.
Illustration: Alex Solman