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In drei der spannendsten Romane dieser Saison spielt Identitäts­politik eine Rolle. Weit klüger und humor­voller als im Gross­teil der hitzigen Debatte.

Von Miriam Zeh, 01.06.2021

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Einige der meistbeachteten Romane dieses Frühjahrs handeln von Rassismus, Sexismus und Sichtbarkeit, vom Schwarz-, mixed-race- und Queer-Sein. Diese Schlagworte entstammen postkolonialen und feministischen Theorien. Doch dürften sie mittler­weile auch einer breiteren Öffentlichkeit schon mal unter­gekommen sein. Denn wenn medien­wirksam über die sogenannte Identitäts­politik gezankt wird, sind theoretische Begriffe nicht weit. Und auch die Autorinnen besagter Bücher sind es nicht.

Die promovierte Kultur­wissenschaftlerin Mithu Sanyal, die nun den Roman «Identitti» vorgelegt hat, arbeitet als Journalistin und Literatur­kritikerin. Hengameh Yaghoobifarah («Ministerium der Träume») schreibt scharf­züngige Kolumnen bei der linken TAZ und ist Redaktorin beim feministischen «Missy Magazine». Und Sharon Dodua Otoo («Adas Raum») schrieb schon lange vor ihrem literarischen Durch­bruch für Zeitungen und Magazine über Haut­farbe, Herkunft und Geschlecht. Das merkt man.

Die autobiografisch gefärbten Debüt­romane von Sanyal, Yaghoobifarah und Otoo setzen die journalistischen Kommentare und Artikel der drei Autorinnen fort. Ihre fiktiven Welten zeigen mal viel­stimmig, mal plakativ, was es bedeutet, wenn die Bedürfnisse derjenigen im Mittel­punkt stehen, die aus einer Mehrheits­perspektive anders sind oder aussehen.

Wer zählt zur Gesellschaft, und wem hören wir zu? Wie füllen sich Begriffe wie Diskriminierung oder Herrschaft mit Leben? Und was können Romane dazu beitragen?

Mithu Sanyal, Hengameh Yaghoobifarah und Sharon Dodua Otoo zeigen: so einiges! In ihren Geschichten geht die Diskussion um Identitäts­politik weiter, und zwar differenzierter, erkenntnis­fördernder und humor­voller als in den endlosen Polemiken und Meinungs­stücken. Die Autorinnen bringen Empathie, Kritik und literarischen Anspruch zusammen – mit einer Selbst­ironie, die anderswo aufs Schmerzlichste fehlt.

Mithu Sanyal – oder: Identifikation steht im Weg

Als Nivedita die erste Vorlesung bei Saraswati, Düsseldorfs berühmter Professorin für Intercultural Studies und postkoloniale Theorie besucht, fällt es der 23-jährigen Studentin wie Schuppen von den Augen: Ihr Alltag, ihre Liebes­beziehungen, ja ihre gesamte Biografie ist von rassistischen Strukturen geprägt.

Wohltuender Humor: Mithu Sanyal. Mareike Foecking

Nirgendwo gehört sie, die Tochter einer Polin und eines Inders, dazu. Kaum wird sie gesehen, mitgemeint oder, wie Saraswati es ausdrückt: repräsentiert – erst recht nicht im universitären Kontext. Diese Erfahrung unterscheidet Nivedita grund­legend von ihrer weissen, im bildungs­bürgerlichen Haushalt aufgewachsenen Mitbewohnerin Charlotte.

Deshalb schickt Saraswati, die charismatische woman of color, alle weissen Studierenden aus ihrem Seminar. Sie konzentriert sich auf junge Menschen wie Nivedita und schart sie um sich.

Saraswati schenkte Nivedita ein Vokabular und eine Sprache für ihr Leben. Und nicht nur ihr. Im Kreis der von Saraswati ausgewählten Studierenden kommunizieren sie in einem fantastischen akademischen Abkürzungs­code miteinander, in dem ein Wort ganze gewaltige Gedanken­konzepte ersetzen konnte: desi, happa, subaltern. Imagined communities, critical race theory, Intersektionalität. Und alle nickten wissend, und bei jedem dieser Worte, zwei Silben, drei Silben, ein paar Zungen­bewegungen nur, entstand ein ungeheuerliches, nie gekanntes Gefühl von Gemeinsamkeit, auch wenn die meisten nur eine vage Vorstellung davon hatten, was eine imagined community sein sollte.

Aus: Mithu Sanyal, «Identitti».

In den postkolonialen Begriffen glaubt Nivedita ihre Heimat zu finden. Sie füllt die Theorie mit Bedeutung, macht sie zu ihrer Identität.

Umso grösser die Enttäuschung, als mit viel medialem Getöse Saraswatis tatsächliche Hautfarbe enthüllt wird: Die Star­professorin, stellt sich heraus, ist in Wirklichkeit weiss, entstammt einer urdeutschen Zahnarzt­familie aus Karlsruhe. Im Glauben, mit der falschen Hautfarbe geboren zu sein, hat sich Sarah Vera Thielmann einer Hormon­behandlung unterzogen, ihren Hautton verändert und ihr Gesicht. So ist Saraswati entstanden, die sich nun im Shitstorm von Studierenden und Presse als «postracial» rechtfertigt. Schliesslich erläutern ihre eigenen Theorie-Bestseller «Decolonize Your Soul» und «Excorcize Race(ism)», dass race nur ein Konstrukt ist, ein Macht­gefälle, das allein aufrecht­erhalten wird durch menschliches Tun («doing race»).

Muss es einen wundern, dass Nivedita sich trotzdem verraten fühlt?

In «Identitti» beschreibt Mithu Sanyal den Kampf um Begriffe, die an Gefühle und Kränkungen geknüpft sind. Für Nivedita ist race nicht bloss ein Wort. Es ist die Erinnerung daran, von Kindern der indischen Community in Birmingham als Kokosnuss verlacht zu werden und in Deutschland keine Chancen auf die Haupt­rolle im Schul­musical zu haben. Die war ihren weissen Mitschülerinnen mit zarten, nach oben gewölbten Augen­brauen vorbehalten. Nach Saraswatis Seminar malt sich Nivedita ihre dichten dunklen manchmal mit Kajal zu einer Monobraue zusammen, wie Frida Kahlo. So geht empowerment!

Es ist das zutiefst identifikatorische Verständnis von Theorie, das Sanyals Haupt­figur antreibt und den Roman in Fahrt hält. Auch formal ist einiges los: Nivedita erinnert sich an Saraswatis Vorlesungen, äussert sich in Blog­beiträgen und sucht schliesslich den Dialog mit ihrer gefallenen Koryphäe.

Für jede dieser Textsorten findet Sanyal die passende Geschwindigkeit und einen wohltuenden Humor, selbst in erbittert geführten Debatten.

«Du weisst, dass es ganz schön rassistisch von dir ist, dass meine Hautfarbe einen Unterschied für dich macht», sagte Saraswati genüsslich, als koste sie den Geschmack jedes Wortes so aus wie Nivedita jeden Bissen ihres exzellenten Omeletts. Nivedita erstarrte. […]

«Das tut deine Hautfarbe nicht … ich meine … das täte sie nicht …», rang sie nach Worten. «Ich will sagen, sie hätte keinen Unterschied gemacht, als ich dich kennengelernt habe, aber …»

«Aber was? Jetzt kennen wir uns so gut, dass du dir ein bisschen Rassismus erlauben kannst?», fragte Saraswati amüsiert.

Aus: Mithu Sanyal, «Identitti».

Sanyal führt den Diskurs nicht allein mit fiktionalen Mitteln fort. Die reale Welt bricht an vielen Stellen ein in den Roman. Zahlreiche Texte und Diskussionen sind am Ende des Buches als Inspirationen, Bezüge und Empfehlungen angeführt. Auch Saraswati spielt an auf reale Vorbilder, von der «Übermutter der postkolonialen Theorie» Gayatri Chakravorty Spivak über die Autorin Audre Lorde bis hin zur 2015 ebenfalls als weiss enttarnten Professorin Rachel Doležal.

Reale, reichweiten­starke Twitter-Nutzerinnen schrieben sogar ein Stück weit am Text mit, indem sie den fiktiven Fall Saraswatis kommentierten. Das ist nur folgerichtig, denn fast nirgendwo wird leidenschaftlicher über Identitäts­politik gestritten als beim babyblauen Kurz­nachrichten­dienst.

In «Identitti» trieft der Diskurs lustvoll aus allen Poren, und damit steht der Roman in einer literarischen Tradition.

Schon im letzten Drittel des 20. Jahr­hunderts sind – zuerst in Frankreich, dann in Europa und den USA – sogenannte Theorie­romane rund um akademische Popstars wie Roland Barthes, Jacques Lacan oder Julia Kristeva entstanden. Weil die postkoloniale Theorie, Queer- und Genderstudies noch stärker auf zwischen­menschliche Macht­verhältnisse fokussieren, scheinen sie nun zur Bearbeitung in Roman­form noch besser geeignet.

Doch Mithu Sanyal gelingt weit mehr. Sie entlarvt in «Identitti» ein zentrales Paradox identitäts­politischen Denkens: Obwohl damit Ungleich­behandlung aufgrund von Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht langfristig überwunden werden soll, stehen die emotional aufgeladenen Identitäts­merkmale zunächst überdeutlich im Vordergrund:

Das Wunderbare an Saraswatis Seminaren war gewesen, dass sie Nivedita nicht nur realer, sondern auch indischer gemacht haben.

Aus: Mithu Sanyal, «Identitti».

Dass die Schwindel­professorin dabei auf ihr touristisches Indien­verständnis zurückgreift, spielte für den Effekt keine Rolle – bis der Identitäts­schwindel aufflog. Nivedita verlässt sich auf ihr Gefühl, auf ihre Identifikation mit der Theorie, und vielleicht ist gerade das die falsche Richtung. Denn die Grenzen der Sprache sind nicht immer die Grenzen von Körper und Identität.

Hengameh Yaghoobifarah – oder: Körper brauchen keine Wörter

Nasrin Behzadi hat eines schon als Kind gelernt: Der Polizei ist nicht zu trauen. Also ist sie skeptisch, als durchaus wohlmeinende Polizisten ihr die Nachricht vom Tod ihrer Schwester überbringen. Mitglieder eines kriminellen arabischen Clans sollen Nushins Auto sabotiert haben – aus Eifersucht, wie die Polizei ermittelt haben will. «In diesen Kulturen fühlen sich die Männer ja schnell in ihrer Ehre verletzt», weiss Kriminal­kommissarin Kowalewski. Nasrin hält das vorurteils­beladene Gerede vom Ehren­mord sofort für Blödsinn.

Konservativer Erzählstil: Hengameh Yaghoobifarah. Tarek Mawad

Mit 7 Jahren floh sie mit ihrer jüngeren Schwester und der Mutter aus Teheran. Bâbâ sollte nachkommen, doch das iranische Regime lässt ihn töten. Seine Witwe wird den Verlust des Ehemanns nie verkraften. Sie schuftet Doppel­schichten als Schneiderin, schafft es mit ihren beiden Töchtern Anfang der 1980er-Jahre aus dem Asylbewerber­heim in eine eigene kleine Wohnung in Lübeck. Doch Nasrin und Nushin, genannt Nas und Nush, wachsen ohne Zärtlichkeit auf, geparkt vor dem Fernseher und in ständiger Wachsamkeit vor den Back­pfeifen der Mutter, vor ihren festen Kniffen in den Oberarm.

Seit ihrer Kindheit leidet Nushin deshalb an Depressionen. War ihr Autounfall also Suizid?

Ihre ältere Schwester Nasrin – mittlerweile Mitte 40, Türsteherin in Berlin und maskulin auftretende Lesbe – beginnt eigene Recherchen. Das wühlt die Familie weiter auf. Mutter und Tochter werfen sich aufgestaute Vorwürfe um die Ohren. Ausserdem bereitet Nasrin ihre Nichte, die 14-jährige Parvin, Sorgen. Sie soll nach dem Tod ihrer Mutter bei Nasrin aufwachsen, besagt das Testament. Das bringt den Alltag der selbst­destruktiven Einzel­gängerin gehörig durcheinander.

Hengameh Yaghoobifarahs Roman «Ministerium der Träume» entpuppt sich als spannender, aber recht konservativ erzählter Detektiv­roman, der nach und nach Hinweise auf Nushins tatsächliche Todes­ursache aufblättert. Obwohl Yaghoobifarah den Text mit Anglizismen und popkulturellen Referenzen aus der Gegenwart versetzt, erinnert er an realistische Erzähl­weisen aus dem 19. Jahr­hundert, die alte weisse Männer wie Adalbert Stifter oder Theodor Fontane geprägt haben.

Doch äussert sich in Yaghoobifarahs Roman­welt Wissen nicht nur in der Sprache; es gibt auch ein Körper­wissen. In den Figuren greift bereits eine Erkenntnis, lange bevor sie sie benennen können, ja sogar bevor es überhaupt Wörter dafür gibt. So kommt Nasrin in ihren Ermittlungen, während deren sie übrigens nicht eine Sekunde lang überlegt, sich an die Polizei zu wenden, einer national­sozialistischen Unter­grund­organisation auf die Schliche.

Viele Jahre bevor auch die deutsche Öffentlichkeit über den NSU diskutiert, spüren die Behzadi-Schwestern eine wachsende Bedrohung. Als 1991 im sächsischen Hoyerswerda die ersten Neonazis gegen geflüchtete und ausländische Arbeiter ausholen, lesen die Teenager das als Anschläge auf alle Migrantinnen, auch auf sich und ihre Clique.

Nationalismus war die billigste Droge, sie kostete nur ein paar Leben, die in diesem Land ohnehin nie von Wert gewesen waren, sie machte schnell high, doch der Kater danach war ein verdammter Abfuck, vor allem für jene, die nüchtern blieben. Nachdem beim Anschlag in Mölln drei Leute ums Leben kamen, erreichte die Düsterheit auch bei uns, 30 Kilometer weiter, eine neue Dimension. Die Stimmung war gekippt.

Aus: Hengameh Yaghoobifarah, «Ministerium der Träume».

Yaghoobifarahs Ich-Erzählerin hat nie eine Universität besucht, wahr­scheinlich auch nie eine theoretische Abhandlung gelesen. Trotzdem sind Schlag­wörter aus dem Diskurs in ihre Lebens­wirklichkeit diffundiert. Als keine von Nasrins Kolleginnen ihr nach dem Tod der Schwester in die Augen schauen kann, bezeichnet sie sich als «Butch Medusa» mit dem paralysierenden Blick. «Wir waren auf Adorno hängen­geblieben, aber eben nicht konsequent genug», kommentiert sie rückblickend ihre muslimisch geprägte Jugend­clique, in der reichlich Alkohol gebechert, aber Schweine­fleisch nicht angerührt wurde.

In einer Welt, die in ihrem Kern haram war, konnte kein Leben halal sein, behaupteten wir.

Aus: Hengameh Yaghoobifarah, «Ministerium der Träume».

Manche aktuellen identitäts­politischen Konzepte über Klasse und Geschlecht sind den Figuren, die sie beschreiben sollen, längst bewusst. Eine nachgereichte Bezeichnung hat für sie keinen Mehrwert. So ist ihre türkische Jugend­liebe Filiz im Gegensatz zu Nasrin in die nord­deutsche Provinz zurück­gekehrt, geläutert von einer verunglückten Ehe in Antalya. Als die beiden sich wiedersehen und erneut eine zartfühlende Liebes­geschichte beginnt, arbeitet Filiz in einem Lübecker Platten­laden.

Von der woken Berliner Szene ist Filiz’ Lebens­alltag weit entfernt. Als Nasrin ihr erzählt, wo sie arbeitet, fragt Filiz: «Was ist denn eine Kwierebar?» Worauf Nasrin ihr nicht nur Queerness erklärt, sondern auch Filiz’ eigenes Begehren. Deren ungerührte Reaktion:

«Weisst du, Nas, es gibt uns nicht nur in Berlin. Und auch nicht nur im fortschrittlichen Almanya. Wir kennen vielleicht nicht alle Labels, die ihr euch verpasst, aber wir existieren schon lange bevor es eine Sprache für uns gibt.»

Aus: Hengameh Yaghoobifarah, «Ministerium der Träume».

Wo Sanyals Studentin Nivedita die post­kolonialen Begrifflichkeiten braucht, um sich selbst zu erkennen, ist Filiz die Fluidität ihrer Geschlechts­identität längst bewusst. Für sie muss kein Fach­begriff definiert werden, sie lebt ihn bereits.

Hengameh Yaghoobifarah hat mit «Ministerium der Träume» einen post­theoretischen Roman geschrieben: Identitäts­politik ist hier längst in die Praxis übergegangen – nicht was die gesamt­deutsche Gesellschaft, sondern die Lebens­realität ihrer migrantischen und post­migrantischen Figuren betrifft. Hier ist im Kleinen eine Utopie möglich, wo Gerechtigkeit im Ganzen noch auf sich warten lässt.

Sharon Dodua Otoo – oder: Dinge wissen mehr

Sharon Dodua Otoo reicht solche Subjektivität noch lange nicht. Sie erzählt in ihrem Debüt­roman «Adas Raum» die Geschichten nicht von einer, sondern gleich von vier Frauen mit dem Namen Ada.

Die erste verliert Mitte des 15. Jahr­hunderts im west­afrikanischen Küsten­ort Totope ein Kind. Es ist schon ihr zweites Baby, das nur wenige Tage überlebt. Irgend­etwas stimmt nicht mit Ada, da ist sich das Dorf sicher. Eine Nachbarin verprügelt die trauernde Mutter deshalb mit einem Reisig­besen. Und auf einmal beginnt nun dieser Besen zu erzählen: davon, wie er sein Bestes gibt, um Ada nicht wirklich zu verletzen. Aus robusten Palm­wedeln geformt, kann er zwar die Schläge nicht aufhalten und auch nicht zu den Frauen sprechen. Aber er hat ein Bewusst­sein, und dieses wird in wandelbarer dinglicher Existenz die Jahr­hunderte überdauern.

Magisch-realistische Elemente: Sharon Dodua Otoo. Johanna Ghebray

Otoo schafft also eine Erzähl­instanz, die man in Ermangelung eines weniger pathetischen Wortes den Weltgeist nennen könnte.

Der zweiten Ada des Romans, der berühmten Ada Lovelace, begegnet diese mythisch anmutende Erzähl­instanz 1848 in London – diesmal als Türklopfer. Als solcher beobachtet der Weltgeist, wie die beiden Männer im Leben von Ada Lovelace den Intellekt jener Frau nicht anerkennen wollen, die heute als erste Programmiererin der Welt gilt (und die derzeit auch bei Martina Clavadetscher als literarische Figur auftritt).

Liebhaber Charles Dickens beurteilt Adas Berechnungen für eine «analytische Maschine», die tatsächlich eine systematische Verarbeitung von Informationen und damit die Grund­idee der Informatik enthält, als marginal. Und ihr Ehemann schickt die rhetorisch Überlegene gern kurzerhand aus dem Zimmer.

Wie ihre ghanaische Namens­verwandte aus dem 15. Jahr­hundert stirbt auch diese Ada schliesslich durch die Hand eines Mannes – und ebenso wird es der dritten Ada ergehen. Guilherme heisst der Täter im 15., William im 19. und Waldemar im 20. Jahr­hundert. Es sind Namen, Motive von Mutterschaft und Schmerz sowie ein Armband mit 33 Perlen, die alle Adas miteinander verbinden.

Die Ada des 20. Jahr­hunderts arbeitet 1945 als Zwangs­prostituierte in der sogenannten Sonder­baracke im Konzentrations­lager Mittelbau-Dora, dem Lager­bordell. Aus dem Türklopfer ist in dieser Geschichte «Adas Raum» geworden. Und dieser Raum kündigt nun die finale Erkenntnis aus dem jahrhunderte­langen Leiden der Adas an:

Die Zeit war jedenfalls gekommen, um Ada daran zu erinnern, dass alle Wesen – vergangene, gegenwärtige und zukünftige – in Verbindung miteinander sind, dass wir es immer waren und immer sein werden. Die Botschaft kann erdrückend sein, wenn mensch meint, sie zum ersten Mal zu hören. Wir wollten Ada damit nicht überrumpeln. Wir wissen ja, dass sie am Ende ihres Lebens zunächst immer eine Runde Abstand braucht.

Aus: Sharon Dodua Otoo, «Adas Raum».

Die Ada der Gegenwart schliesslich, der der zweite Teil des Buches gehört, soll also endlich auch die wieder­kehrende Protagonistin verstehen. Sie soll begreifen, was der Geist («Als Lufthauch kann ich weder gesehen noch angefasst werden») und «die Gott» (als weibliche Entität, materialisiert in Form einer Brise) bei ihren diversen Zwie­gesprächen für sie vorgesehen haben. Die Möglichkeit zur Erkenntnis verdanken die Menschen also über­sinnlichen Instanzen.

Solch eine Sichtweise ist in der abend­ländischen Philosophie aus der Mode gekommen, ebenso wie Otoos magisch-realistische Erzähl­elemente in der deutsch­sprachigen Gegenwarts­literatur ziemlich alleine dastehen.

So mag es für Leserinnen hierzulande ungewöhnlich, vielleicht sogar naiv anmuten, wenn der Weltgeist verkündet: «Nie wieder möchte ich ein KZ-Zimmer sein.» Und ein für hiesige Leser ungewohnter Kniff ist es auch, wenn die Geschichte von Ada Nummer vier, einer jungen schwarzen Frau mit ghanaischer Kindheit, aus der Perspektive ihres britischen Ausweis­dokuments erzählt wird. Otoo lässt die Dinge sprechen. In ihrem Siegertext 2016 beim Ingeborg-Bachmann-Preis war die Erzähl­instanz: ein Frühstücksei. Nun verrät der Debüt­roman: Auch das ist nur eine weitere Inkarnation des Weltgeists.

Auf dem britischen Pass jedenfalls liegt für die schwangere Ada grosse Hoffnung. Sie will in Berlin eine Wohnung finden und Informatik studieren. Doch die Vermieterinnen sehen in ihr weder eine Europäerin noch eine vertrauens­würdige, weil zahlungs­kräftige Mieterin.

In diesem Teil des Romans tritt am deutlichsten das anti­rassistische Engagement von Sharon Dodua Otoo hervor.

In Ghana wurde Ada schleichend zur Frau und bekam es kaum mit. In Deutschland wurde Ada schlagartig zur Schwarzen und spürte es sofort.

Aus: Sharon Dodua Otoo, «Adas Raum».

Zugleich fügen sich hier einige Enden der dichten Erzähl­fetzen zusammen. In einem Ausstellungs­katalog entdeckt Ada das Armband wieder, mit dem Ada 600 Jahre zuvor für ihre Fruchtbarkeit gebetet hatte – und das dann, von britischen Kolonial­männern geraubt, nach Europa und schliesslich in die Hände des SS-Obersturmbann­führers Helmut Wilhelm gelangt ist. Über die Geschichte der vier Adas wird die Provenienz, die Herkunft dieses rituellen Artefakts, erzählt. Doch nicht in Ada reift diese Erkenntnis, das Wissen steckt im Ding und dem alles umgebenden Ganzen, sei das nun Weltgeist oder Gott.

So sind die postkoloniale Theorie und die Provenienz­forschung, die seit einigen Jahren anhand der Herkunft von Kunst­gegenständen die globale Kolonial- und Gewalt­geschichte aufarbeiten, in diesem Roman nur Krücken für das letzte Stück des Gedanken­gangs. Sharon Dodua Otoo erschliesst in ihrem Roman ein Wissen, das sie als in den Dingen selbst liegend begreift. Dafür schlüpft sie in Perspektiven fernab der eigenen Wahr­nehmung. Ein wenig von dieser Flexibilität und Empathie wäre sicher auch im überhitzten identitäts­politischen Diskurs hilfreich.

Wo so entscheidend ist, wer spricht, wird fiktionales Erzählen zur notwendigen Lockerungs­übung. Aus welcher Position auch immer der nächste Beitrag zur Identitäts­politik kommt: vorher Mithu Sanyal, Hengameh Yaghoobifarah oder Sharon Dodua Otoo zu lesen, könnte der Sache guttun. Ihre Romane sind ein Gewinn für die Identitäts­politik und für die Literatur.

Zu den Büchern

Mithu M. Sanyal: «Identitti». Roman. Hanser, München 2021. 432 Seiten, ca. 31 Franken.

Sharon Dodua Otoo: «Adas Raum». Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 320 Seiten, ca. 31 Franken.

Hengameh Yaghoobifarah: «Ministerium der Träume». Roman. Aufbau, Berlin 2021. 384 Seiten, ca. 31 Franken.

Zur Autorin

Miriam Zeh ist freie Literatur­kritikerin und Moderatorin, unter anderem beim Deutschland­funk. Sie arbeitete als Literatur­wissenschaftlerin in Frankfurt und Mainz, ist Mitherausgeberin der Zeitschrift «POP. Kultur und Kritik» und präsentiert beim multimedialen Projekt «Books up!» Literatur für junge Leute auf Instagram.

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