«In der Schweiz herrscht immer noch ein gewisser Grund­egoismus»

Die Totalrevision des CO2-Gesetzes ist für Klimaforscher Thomas Stocker ein kleiner Schritt, aber immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Ein Gespräch über Machbar­keiten, fehlende Visionen und eine vielleicht verpasste grosse Chance.

Von Elia Blülle (Text) und Pipaluk Minder (Bilder), 01.06.2021

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Der renommierteste Klimaforscher der Schweiz: Thomas Stocker, Leiter der Abteilung für Klima- und Umweltphysik an der Uni Bern.

Herr Stocker, am 13. Juni stimmen wir über die Revision des CO2-Gesetzes ab. Was würde ein Ja bedeuten?
Mit der Totalrevision des CO2-Gesetzes würden zwei Tabus gebrochen, die jahrelang als unantastbar galten. Erstens würden erstmals fossile Treib­stoffe mit einer bescheidenen Abgabe belastet; und zweitens: ein Lenkungs­beitrag auf Flug­tickets. Das wäre ein erster, pragmatischer – wenn auch sehr kleiner – Schritt hin zu mehr Klima­schutz; insofern wäre es der Anfang einer neuen Ära.

Die Schweiz will bis 2030 ihre Emissionen gegenüber 1990 halbieren. Kann ihr das mit dem neuen Gesetz gelingen?
Das weiss ich nicht, ich bin aber optimistisch. Sicher ist, dass wir alle paar Jahre beurteilen müssen, wie sich unsere Emissionen entwickeln: ob die neuen Mass­nahmen greifen oder nicht. Sollten wir zum Beispiel 2028 feststellen, dass das Gesetz überhaupt nichts bewirkt hat, etwa die Flug­kilometer weiterhin stark zunehmen, dann müssten das Parlament und der Bundesrat Anpassungen vornehmen.

Werden wir also von nun an alle zwei bis drei Jahre über die Schweizer Klima­politik streiten?
Nicht in dieser hohen Frequenz. Aber die Klima­erhitzung bleibt ohnehin ein Dauer­thema. Auch bei einer Annahme des neuen CO2-Gesetzes geht die Krise nicht einfach vorbei.

Zur Person

Thomas Stocker hat an der ETH Zürich Umwelt­physik studiert und 1987 mit dem Doktorat abgeschlossen. 1993 wurde er als Professor an das Physikalische Institut der Universität Bern berufen, wo er seither die Abteilung für Klima- und Umwelt­physik leitet. Seine Forschung umfasst die Entwicklung von vereinfachten Klima­modellen zur Simulation vergangener und künftiger Klima­änderungen sowie die Bestimmung der Konzentration der Treibhaus­gase der Atmosphäre anhand von Eisbohr­kernen aus der Antarktis. Diese Rekonstruktionen erstrecken sich über die letzten 800’000 Jahre. Nach zehn Jahren Engagement im Weltklima­rat der Uno wurde Stocker im September 2008 zum Co-Vorsitzenden der «Arbeitsgruppe I» für die Periode 2008 bis 2015 gewählt. Der Bericht, der unter seinem Vorsitz im September 2013 von allen Ländern verabschiedet wurde, bildet die wissenschaftliche Grund­lage für das Klima­abkommen von Paris.

Dann geht das Gesetz also zu wenig weit?
Sehen Sie, das Ziel des Pariser Abkommens ist es, die fortschreitende Erhitzung einzudämmen, sodass es zu keinen gefährlichen Auswirkungen kommt. Das bedeutet, den Temperatur­anstieg seit dem Ende der vorindustriellen Zeit global deutlich unter 2 Grad zu begrenzen. Wir Klima­forscher sagen, noch vernünftiger wäre die Begrenzung unter 1,5 Grad Celsius: Jedes halbe Grad mehr verschlimmert die Auswirkungen. Aber dieses Ziel dürften wir angesichts der gegen­wärtigen globalen Emissions­entwicklung kaum erreichen können.

Mehr noch: Gemäss den Tamedia-Umfragen lehnen 46 Prozent der Schweizer Stimm­bürger das CO2-Gesetz ab. Es könnte also scheitern.
In der Schweiz herrscht immer noch ein gewisser Grund­egoismus. Man will sich nichts vorschreiben lassen und schaut zuerst für sich selber. Die Macher der Gegen­kampagne verstehen es gut, diese Empfindungen abzuholen und zu verstärken. Sie hängen überall Plakate auf mit Slogans wie «Fliegen nur für Reiche», behaupten in Talk­shows fälschlicher­weise, dass wir als Land gar nichts bewirken können oder dass die Schweiz bereits eine Vorreiterin im Klima­schutz sei. Die Dauer­beschallung mit Unwahr­heiten zeigt Wirkung.

Die Schweiz soll keine Vorreiterin sein? Bei den Pro-Kopf-Emissionen sieht die Bilanz im inter­nationalen Vergleich doch gar nicht so schlecht aus.
Wenn wir uns die Daten genau anschauen und hinzurechnen, wie viel Treibhaus­gase wir durch Dienst­leistungen und Konsum im Ausland verursachen – zum Beispiel durch Importe –, dann sieht unsere Bilanz miserabel aus: Die Schweiz rangiert mit ihrem CO2-Fuss­abdruck ganz hinten im globalen Emissions­ranking. Das Problem an der jetzigen Debatte: Nur die inländischen Emissionen sind vom Pariser Klima­abkommen betroffen, deshalb spielen diese grauen Emissionen auch für die schweizerische Gesetz­gebung keine Rolle. Nehmen wir den Klima­schutz aber ernst, sollten wir letztlich immer wieder das Gesamt­bild betrachten.

Bleiben wir beim Gesamt­bild: Die Gegen­kampagne sagt, der jährliche CO2-Ausstoss der Schweiz entspreche den Emissionen eines halben Tages in China. Ob die Schweiz ihren Verbrauch um 20, 50 oder 80 Prozent senke, habe deshalb auf das Welt­klima kaum eine Auswirkung.
Ich bezahle durch­schnittlich 70’000 Franken Steuern pro Jahr und trage so etwa 0,01 Promille zum Steuer­aufkommen des Kantons Bern bei. Oder um beim Vergleich zu bleiben: Ich finanziere weniger als vier Minuten der kantonalen Ausgaben pro Jahr. Ein Tropfen auf den heissen Stein. Wieso bezahle ich das? Bin ich doof? Ich bezahle, weil alle bezahlen müssen und weil es zahllose Aufgaben gibt, die mein Fach­wissen und meine Kompetenzen übersteigen. Wir delegieren diese Aufgaben an ein Gemein­wesen und finanzieren es alle zusammen. Bei der Reduktion von CO2 verhält es sich genau gleich: Mit dem Pariser Klima­abkommen hat sich die Welt­gemeinschaft ein Ziel gesetzt, und jetzt müssen alle ihren Teil dazu beitragen – auch wir. Nur so funktioniert es.

Im Moment sieht es aber nicht danach aus, als würde zum Beispiel China seinen Teil dazu beitragen.
Die westlichen Länder haben seit der Industrialisierung über 50 Prozent aller Emissionen zu verantworten und profitierten davon stark. Wir stehen jetzt in der Haupt­pflicht, unsere Emissionen zu senken – und zwar rasch. Mit der perfiden China-Masche zeigt man auf ein anderes Land und schiebt so die unmittelbare Verantwortung ab.

Die Gegner sagen aber auch, dass man mit einem Schweizer Franken im preisgünstigen Ausland viel mehr CO2 reduzieren könnte als mit teuren Mass­nahmen im Inland. Das ist doch ein legitimes Argument.
Ja, aber keine kluge Überlegung. Wir wissen nicht, was mit dem im Ausland investierten Franken passiert – ausser man baut ein sehr aufwendiges und teures Monitoring auf. Ausserdem stecke ich das Geld doch lieber in die Schweizer Wirtschaft. Hier bewirkt es unmittelbar weniger, aber der investierte Franken weist über die Zeit kumulativ eine bei weitem bessere Bilanz auf: Wir machen unsere Infra­struktur klima­freundlich, es entstehen neue Arbeits­plätze, Menschen verdienen damit ihren Lohn und bezahlen hier Steuern. Nichts von dem können wir mit CO2-Kompensation im Ausland realisieren. Diese Gesamt­rechnung geht leider immer vergessen.

Im Ausland können wir CO2 vor allem mit dem Handel von Zertifikaten und der damit verbundenen Kompensation reduzieren. Umwelt­schützer sprechen von einem modernen Ablass­handel.
Natürlich haben Zertifikate den Beigeschmack von Ablass­handel. Sie sind aber eine Ergänzung zu anderen Instrumenten, allerdings nur für eine beschränkte Dauer.

Wo liegen die Limiten?
Zertifikate können nützliche Projekte im Ausland befeuern, das zu überprüfen ist wiederum aufwendig. Ausserdem bräuchte es eine globale Organisation, die den Preis festlegte. Wir verfügen über ein globales CO2-Budget, das mit jedem Jahr schrumpft, weil die Emissionen stetig zunehmen. Entsprechend diesem Tempo müssten auch die Zertifikate verteuert werden. Doch das passiert im Moment nicht. Die Preise sind viel zu niedrig. Und sobald die Emissions­reduktionen im Ausland teurer würden als die Investitionen im Inland, müssten wir auch bei uns die Emissionen schnell senken. Das würde dann wirklich teuer.

Die SVP und die Erdölwirtschaft argumentieren, es brauche das neue Gesetz auch deshalb nicht, weil dank neuer Technologien Autos und Heizungen schon bald mit Wasser­stoff laufen würden.
Grundsätzlich sollten wir neuen Technologien gegenüber immer offen sein. Es wird eine Vielzahl davon brauchen, die wir aber alle zuerst noch entwickeln und optimieren müssen. Die Organisationen und die Politiker hinter dem Referendum gegen das CO2-Gesetz haben sich bisher aber nicht damit hervorgetan, solche Anstrengungen ernsthaft zu fördern. Deshalb empfinde ich es als unehrlich, im Abstimmungs­kampf plötzlich den Wasser­stoff als Wunder­technologie aus dem Hut zu zaubern. Verschwiegen wird insbesondere auch die enorme Ineffizienz dieser Technologie: Wasser­stoff benötigt etwa fünfmal mehr Strom als eine Elektrobatterie.

Vor zwanzig Jahren verkaufte die Erdöl­wirtschaft fossile Energie­träger wie Diesel und Erdgas als die Lösung aller Probleme.
Genau. Das ist dieselbe Strategie. Wasserstoff klingt sauber und ist ein attraktives Label. Man muss die Technologie unbedingt erforschen und verbessern. Aber die Klima­krise wird sie nicht lösen.

Die Schweizer Klima­forschung hat einen ausgezeichneten Ruf. Wie die Umfragen zeigen, gelingt es ihr offensichtlich aber kaum, hinreichend viele Schweizerinnen von mehr Klima­schutz zu überzeugen. Wieso?
Wir müssen persönliche Befindlichkeiten sehr ernst nehmen. Deshalb tingle ich seit Jahren durchs ganze Land, ich gebe Vorträge, schildere unsere Resultate und gehe eingehend auf alle Fragen ein, die mir gestellt werden. Wenn jemand an der Wirksamkeit und Notwendigkeit des neuen CO2-Gesetzes zweifelt, können wir aber nicht mehr tun, als die Fakten zu erklären.

Die da wären?
Der Normalbürger wird vom Gesetz wegen der Rück­verteilung der Abgaben finanziell profitieren. Personen und Firmen, die sich hingegen für einen grossen Fuss­abdruck entscheiden – zum Beispiel zweimal pro Jahr inter­kontinental fliegen und grosse Autos fahren –, müssten drauflegen: Wer die Umwelt belastet und die Atmosphäre als Lager­platz für seine Abfälle benützt, muss eine Gebühr bezahlen. Die Treibhausgas­emissionen bekommen endlich ein Preisschild.

Vorträge halten, Fragen beantworten, Fakten erklären: Thomas Stocker ist immer unterwegs für den Klimaschutz.

Das ist die rationale Erklärung. Damit überzeugen Sie aber jene Menschen nicht, die staatliche Massnahmen ideologisch ablehnen. Wie gewinne ich meinen Nachbarn für mehr Klima­schutz, der sich bei jeder ökologischen Gesetz­gebung gleich im Sozialismus wähnt? Haben Sie da ein Rezept?
Ich höre genau zu, lasse die Person ausreden und frage mich, was die Argumente sind. Dann hake ich nach: Auf welcher Informations­quelle basiert Ihre Information? Wieso genau können bei einer Annahme des Gesetzes nur noch Reiche fliegen? Wieso bewirkt die Schweiz mit einer Senkung ihrer Emissionen nichts? Warum sollten wir auf Massnahmen im Inland verzichten? Warum funktioniert ein Klimafonds nicht? Wieso wollen wir auf Innovation verzichten? Ich versuche eine fakten­basierte Debatte zu lancieren und suche in der Tiefe jene Miss­verständnisse, die sich hinter solchen Meinungen und Schlag­worten verstecken. Die Aller­meisten kann ich aber nicht umstimmen: Meine Erfolgs­quote ist extrem niedrig.

Sie sprechen sich gemeinsam mit über hundert Wissenschaft­lerinnen für das CO2-Gesetz aus, aber auch für die Trinkwasser­initiative stehen Sie öffentlich ein. Sind Sie Wissenschaftler oder Aktivist?
Wir sind Wissenschaftler, aber wir sind auch Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Es gibt zahlreiche historische Beispiele, bei denen wissenschaftliche Informationen eine fakten­orientierte Debatte erst ermöglicht haben: beim Tabak­konsum, beim Ozonloch, bei der Belastung durch Blei und Schwefel in der Atmosphäre. Die Gegen­kampagne streut bei der Abstimmung zum CO2-Gesetz bewusst falsche Informationen. In dieser Kakofonie sind wir eine unbequeme Stimme, die wir laut erheben müssen. Das ist unsere Verantwortung.

Ihr amerikanischer Kollege Michael Mann schreibt in seinem neuen Buch «The New Climate War», die Erdöl­wirtschaft verhindere mit «Täuschung, Verwirrung und Verzögerung» auch heute noch neue Klimaschutz­massnahmen. Stimmt das?
Absolut! Zweifel sind das effizienteste Mittel, um den politischen Fortschritt zu behindern, und die Erdöl­lobby hat diese über Jahrzehnte gefüttert. Zuerst verneinte sie das Problem. Als das nicht mehr verfing, säte sie Skepsis an der wissenschaft­lichen Evidenz, dann stellte sie die Integrität einzelner Klima­forscher infrage und das grund­legende Verständnis unseres Klima­systems. Nun streut sie Zweifel an der Effizienz von politischen Instrumenten wie etwa der Lenkungs­abgabe: Der Markt werde es schon richten, man solle das den Spezialisten überlassen. Auf der Website der Gegen­kampagne «Vernünftig bleiben» finden sich alle diese Elemente der Verwirrung und Täuschung. Haben sich die Zweifel einmal eingenistet, wird man unsicher und hält am Status quo fest – und stimmt zum Beispiel gegen ein verschärftes CO2-Gesetz.

Michael Mann kritisiert auf der anderen Seite aber auch die teilweise zu apokalyptischen Erzählungen einiger Umwelt­bewegungen. Er sagt, unfokussierte und diffuse Panik sei kontra­produktiv.
Wir sagen das schon seit zwanzig Jahren. Das war auch der Grund, wieso wir beim Weltklimarat IPCC bewusst auf Dramatik verzichtet haben. Und doch spreche ich heute nicht mehr vom Klima­wandel wie vor fünfzehn Jahren – sondern von der Klimakrise. Wir befinden uns schliesslich auch in einer anderen Situation. Schauen Sie sich die Daten an: Die Emissionen haben sich global nicht stabilisiert, wie man sich das 1997 mit dem Kyoto-Protokoll vorgenommen hat. Gleichzeitig steigen die Temperaturen, Hitze­wellen nehmen zu, die Gletscher schmelzen, und wir werden vermehrt von Dürren betroffen sein, wie wir sie in der Schweiz etwa im Sommer 2018 erlebt haben. Wer da nicht von einer Klima­krise spricht, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.

Der Klimastreik hat den Krisen­begriff in der Schweiz etabliert, sich aber auch rasch politisiert. Die Aktivistinnen fordern einen anti­kapitalis­tischen System­wandel. Schreckt diese Rhetorik nicht genau diejenigen ab, deren Stimmen man für einen mehrheits­fähigen Klima­schutz bräuchte?
Ich finde diese Rhetorik auch nicht zielführend, gestehe der Bewegung aber zu, dass sie dieses Vokabular benützt. Das ist eine authentische junge Gruppe, die ihre Stimme erhebt. Wenn ich bedenke, dass es um ihre Zukunft geht, dann erscheint es mir logisch, dass junge Menschen eine viel radikalere Sprache wählen und auch entsprechende Forderungen stellen. Das ist Teil des demokratischen Prozesses. Das müssen wir aushalten.

Geht es ohne System­wandel?
Ein Systemwandel ist dringend nötig. Wir müssen das fossile System durch ein erneuerbares ersetzen, vom Konsum­system zu einer Kreislauf­wirtschaft wechseln, Ressourcen pflegen, anstatt sie zu verschwenden. Wenn die Politik die richtigen Rahmen­bedingungen setzt, können bestehende Märkte eine enorme Wucht entwickeln. Dafür braucht es aber auch die entsprechenden Infra­strukturen und Kontrollen, und alle Markt­teilnehmer müssten die neuen Standards akzeptieren. Das bedeutet: Es kostet, wenn ich die Meere überfische; es kostet, wenn ich die Atmosphäre als Abfall­kübel für Treibhaus­gase benutze; es kostet, wenn ich den Wald abholze; es kostet, wenn ich durch Fleisch­konsum die Methan­emissionen ankurble. Sind die Preise genügend hoch, werde ich mir zweimal überlegen, ob sich meine klima­schädlichen Aktivitäten wirtschaftlich lohnen – und dann suche ich nach ökologischen und klima­freundlichen Alternativen. Aber der heutige Markt kennt keinen Preis für Klima- und Umwelt­schäden. Stattdessen werden sie von der Gesellschaft getragen oder der nächsten Generation übergeben.

Ein neuer Bericht der Inter­nationalen Energie­agentur fordert, Regierungen weltweit sollen ab 2025 Öl- und Gasheizungen nicht mehr zulassen dürfen und ab 2035 müsse der Verkauf von Autos mit Brennstoff­motoren gänzlich eingestellt werden, sollten die Pariser Klima­ziele nicht erreicht werden. Braucht es Verbote?
Erfreulicher wäre natürlich, wenn es ohne Verbote ginge und sich der Markt von selbst regulierte. Ankündigungen wie jene von Volvo in Schweden, keine Autos mit Verbrennungs­motor mehr herzustellen, können den Markt auch bewegen. Aber nur punktuell und zu langsam. Irgendwann gibt es wohl auch Alternativen zu Kerosin, und wir können synthetische Treib­stoffe global im grossen Stil herstellen. Leider sind die Anreize, in solche Technologien zu investieren, heute aber nur sehr schwach. Und so werden wir bald nicht mehr um Verbote herumkommen.

Die Schweiz spricht aber gar nicht erst über Verbote. Dabei: Würden wir jetzt schon Verbote ankündigen, könnten wir Anreize – und auch Planungs­sicherheit – schaffen.
Das ist eine vorstellbare Möglichkeit. Aber solange das Geld für die Investition in Alter­nativen fehlt, wird es auch mit Verboten schwierig. Darum ist der Klima­fonds so essenziell, wie ihn das neue CO2-Gesetz vorsieht. Obwohl er nie die Geld­summen generieren wird, die notwendig wären für entscheidende und gross­flächige Investitionen in neue Technologien. Stellen Sie sich vor, die Schweiz wäre in der Lage, synthetische Treib­stoffe für Flugzeuge zu entwickeln, herzustellen und marktreif zu verkaufen.

Wir würden profitieren.
Natürlich. Das wäre wie zum Beginn des 20. Jahrhunderts, als wir führend waren in der Herstellung von elektrischen Lokomotiven. Wieso werden wir nicht Markt­führer bei den grünen Technologien? Die Dekarbonisierung ist heute die grösste – wenn nicht sogar die einzige – wirtschaftliche Opportunität für die Schweiz.

In wenigen Monaten sollen die ersten Teile des neuesten Sach­stands­berichts des Weltklima­rats verabschiedet werden, zu dem Sie beigetragen haben. Können Sie schon sagen, was uns erwarten wird?
Der sechste Bericht wird noch detaillierter sein, noch klarere Worte für die Krise wählen. Die durch­schnittliche Temperatur hat seit der vorindustriellen Zeit um 1,2 Grad Celsius zugenommen – und sie war noch nie so hoch in den vergangenen 2000 Jahren wie heute. Der Anstieg des Meeres­spiegels beschleunigt sich. Im fünften Sachstands­bericht, der 2013 und 2014 erschienen ist, konnten wir das noch nicht mit dieser Deutlichkeit ausführen. Der neue Bericht wird mit neuen Daten auch aufzeigen können, wie viele Treibhaus­gase wir noch ausstossen dürfen, wenn wir das angestrebte 1,5-Grad-Ziel oder das 2-Grad-Ziel erreichen wollen. Der Bericht wird auch vertieft auf die Risiken eingehen, Extrem­ereignisse kalkulieren und aufzeigen, wie oft grosse Hitze­wellen, Dürren und andere Umwelt­ereignisse je nach Szenario Mitte und Ende des 21. Jahrhunderts auftreten könnten. Erstmals weist er auch aus, wie der Meeres­spiegel bis zum Jahr 2300 und später anzusteigen droht. Diese Berechnungen werden uns die langfristigen dramatischen Konsequenzen der ungebremsten Klima­erhitzung vor Augen führen.

Wird die Publikation die Debatte verändern?
Ich hoffe schwer, dass Politik und Bevölkerung vor allem die Dringlichkeit für mehr Klima­schutz noch einmal stärker wahrnehmen. Auf der anderen Seite zeigen die Berichte auch noch etwas anderes in grosser Deutlichkeit: Wenn es uns nicht gelingt, bis 2030 auf den Reduktions­pfad zu gelangen, wird es mit jedem Jahr wahr­scheinlicher, dass wir die Ziele von Paris nicht erreichen. Die jährlichen Emissionen steigen aktuell immer noch an.

«Wieso wird die Schweiz nicht Markt­führerin bei den grünen Technologien?»: Thomas Stocker.

Zu etwas weniger Düsterem: Nehmen wir an, eine Zauber­fee würde es Ihnen ermöglichen, drei Artikel in unsere Verfassung zu schreiben: Was würden Sie sich wünschen?
Ich bin ein Urdemokrat und überzeugt, dass Gesetze in Verhandlungs­prozessen entstehen sollten, bei denen sich die Mehrheit auf gemeinsame Nenner einigt.

Also gut, ich stelle die Frage anders: Sie dürfen sich bei der Fee drei Volks­initiativen wünschen, die zur Abstimmung kommen. Welche sind das?
Hätten diese Initiativen denn Chancen durchzukommen?

Daran müssen Sie jetzt noch nicht denken. Träumen Sie!
Also gut. Ich wünschte mir eine Volks­initiative zu einer ökologischen Steuer­reform, die das Einkommen, aber auch den CO2-Ausstoss besteuert. Wohl chancenlos, aber so könnten wir die externen Kosten viel genauer bepreisen, was extrem hilfreich wäre.

Zweitens?
Eine Reform, die für alle unsere Konsum­güter absolute Transparenz bietet bezüglich ihrer jeweiligen Auswirkung auf unsere Ressourcen: die Luft, das Wasser, die Ozeane, die Biodiversität, die Gesundheit.

Drittens?
Eine Initiative zur viel klügeren Gestaltung der Mobilität.

Die Menschen, die von den drastischen Folgen der Klima­erwärmung betroffen sein werden, leben heute mehr­heitlich noch nicht. Ich habe keine Kinder – warum sollte mich ihre Zukunft überhaupt kümmern?
Erstens: Personen, die substanziell von der Klima­erwärmung betroffen sein werden, leben heute bereits unter uns. Zweitens: Natürlich muss uns die Zukunft ungeborenen Lebens interessieren. Genauso könnte man fragen, wieso es Historiker gibt, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen und mit jenen Menschen, die schon längst gestorben sind. Die menschliche Existenz geht über das hinaus, was wir unmittelbar in diesem Moment erleben. Das Desinteresse am Klima­schutz fusst auf der Idee, dass ich das Zentrum der Welt bin und mich nur das kümmern sollte, was mich persönlich in diesem unmittelbaren Moment betrifft. Wenn ich das als Prämisse nehme und sie ins Extrem verschiebe, interessiert mich nicht einmal mehr, was in diesem Raum, meinem Büro, passieren wird, wenn ich in zwei Minuten zur Tür rausgehe. Das kann es ja nicht sein.

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