Leben wir in einer Pestizidhölle?
Alle sprechen vom Trinkwasser – dabei sind die Schäden von Pestiziden am Ökosystem viel eindeutiger als deren Gefahren für den Menschen.
Von Daniel Bütler, 31.05.2021
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Viele Schweizerinnen sind verunsichert, seit sie erfahren haben, dass es im Grundwasser mehr Pestizide hat, als gesetzlich vorgeschriebene Grenzwerte zulassen würden. Manche machen sich Sorgen, sie würden schleichend vergiftet. Und gross ist die Ernüchterung, ist doch sauberes Wasser quasi Teil der helvetischen Identität. Jahrzehntelang glaubten wir, wir würden hier – im «Wasserschloss Europas» – qualitativ einzigartiges Wasser geniessen.
Gleich zwei Volksinitiativen wollen das Problem angehen: Die Trinkwasserinitiative verlangt, dass Bauern, die weiterhin Pestizide einsetzen wollen, künftig keine staatlichen Subventionen mehr bekommen. (Zudem verlangt sie einen Verzicht auf Antibiotika und zielt auf einen starken Rückgang des Gülleaustrags.) Die Pestizidinitiative will den Einsatz synthetischer Pestizide komplett verbieten – auch für importierte Produkte. Die Stimmbevölkerung stimmt am 13. Juni darüber ab.
Aber wie zum Teufel ist unser sauberes Alpenland plötzlich zur «Pestizidhölle» geworden?
Beim Trinkwasser liegt der Grund primär in der Neubeurteilung eines einzigen Wirkstoffs: Chlorothalonil. Weil das Fungizid 2019 neu als wahrscheinlich krebserregend eingestuft und verboten wurde, ist unser Grundwasser quasi über Nacht zum Sanierungsfall geworden. Spuren von Chlorothalonil und seinen chemischen Abbauprodukten finden sich verbreitet im Grundwasser. Und zwar über dem – umstrittenen – Grenzwert. (Da sich Pestizide nur sehr langsam abbauen, findet man heute noch Abbaustoffe längst verbotener Wirkstoffe wie Atrazin in Konzentrationen über dem Grenzwert.) Aber auch bevor Chlorothalonil zum öffentlichen Thema wurde, war das Grundwasser nicht so rein, wie es sein sollte.
Wissenschaftlich viel besser dokumentiert und eindeutiger als das Problem von Pestiziden im Trinkwasser sind aber die schädlichen Folgen von Pestiziden für Bäche und Flüsse – die nicht zum Trinken genutzt werden – und die darin lebenden Organismen.
Schauen wir uns daher zuerst die Fliessgewässer an – und dann das Trinkwasser.
In Bächen und Flüssen
Die neueste Studie von Bund und Kantonen, publiziert 2020, fand bei Messungen an 17 repräsentativen Fliessgewässern im Mittelland:
40 verschiedene Pestizide,
verletzte Pestizidgrenzwerte in 14 von 17 Gewässern,
Spitzenwerte, die 100-mal so hoch waren wie der erlaubte Wert.
Belastete Fliessgewässer
Wo 2018 die gemessenen Grenzwerte verletzt wurden und wo nicht
«Verletzt» bedeutet: In mindestens einer Messung und für mindestens ein Pestizid beobachtete man 2018 an dem Standort Grenzwertüberschreitungen. Quelle: Bundesamt für Umwelt; Eawag; Aqua & Gas.
Vereinfacht gesagt gilt: Je kleiner ein Gewässer, umso höher ist die Pestizidbelastung, weil die Wassermenge geringer ist. In Bächen im Landwirtschaftsgebiet findet man oft einen ganzen Cocktail von Pestiziden, verschiedene Substanzen wechseln sich im Laufe des Jahres ab. Am höchsten sind die Konzentrationen im Mittelland, dort in Ackerbaugebieten und dort wiederum in Gemüseanbaugebieten. Auf Grasland werden hingegen kaum Pestizide eingesetzt – Gras muss nicht gegen Pilzbefall, Unkraut oder Insektenschäden geschützt werden.
Weitere Studien von Kantonen, Bund und dem Wasserforschungsinstitut der ETH, der Eawag, zeigten, dass mindestens drei Viertel der Schweizer Gewässer mit Pestiziden in einer Konzentration über dem festgelegten Grenzwert verschmutzt sind – so das Resultat der bisher einzigen grossflächigen landesweiten Analyse von 2012. Schweizweit konnten rund 150 Wirkstoffe nachgewiesen werden, in manchen Einzelgewässern bis 100 davon, wenn man sie über das Jahr verteilt zusammenzählt. In Einzelproben fand man bis zu 65 verschiedene toxische Substanzen. Manche Grenzwert-Überschreitungen durch besonders giftige Insektizide halten monatelang an.
Problematisch sind auch die Belastungsspitzen, wie neuste Messungen der Eawag zeigen, also kurzzeitig hohe Konzentrationen von Giften, etwa nach einem Spritzgang auf einem Acker. Sie können in einem Bach bis zu 170-mal höher liegen als jene bei den Standardmessungen, bei denen eine Probe das Wasser von mehreren Tagen enthält. Diese «Giftspitzen» schädigen Gewässerorganismen in kürzester Zeit.
Viele von uns merken nichts von den unsichtbaren Giften. Unsere Flüsse erscheinen uns sauber, immerhin können wir ja problemlos in Aare, Rhein oder Limmat baden.
Doch für zahlreiche andere Organismen ist die toxische Belastung problematisch. Und hier wird es kritisch: Denn die Gewässerräume – Gewässer inklusive der angrenzenden Landschaft – haben eine kaum zu überschätzende ökologische Funktion. Rund 80 Prozent aller Pflanzen- und Tierarten in der Schweiz kommen hier vor. Und drei Viertel der Fliessgewässer sind kleine Bäche. Ausgerechnet diese sind besonders stark belastet. Und dass die Situation in den letzten Jahren besser geworden wäre, ist laut Gewässerforscherinnen nicht ersichtlich.
Die Eawag hat das Risiko am Beispiel des Bachflohkrebses veranschaulicht: Wie bei anderen wirbellosen Kleintieren besteht ein hohes Risiko, dass Pestizidmischungen diese Art langfristig schädigen. Und der Bachflohkrebs, von der Umweltorganisation Pro Natura zum Tier des Jahres 2021 gewählt, hat eine wichtige ökologische Funktion. Unter anderem, weil er als Indikator für die Sauberkeit eines Gewässers fungiert und am Anfang der Nahrungskette für grössere Tiere steht.
Laut den Forschern der Eawag zeigen Studien, dass die Zahl wirbelloser Tiere wie des Bachflohkrebses abnimmt, wenn der Anteil an Ackerbaugebieten im Umfeld der Gewässer zunimmt.
Verlassen wir für einen Moment die Gewässer. Denn Pestizide wirken auch auf Landlebewesen – dafür sind ja namentlich Insektizide designt worden. Sie erinnern sich vielleicht an das heiss diskutierte Bienensterben, das zu einem Verbot einiger Neonikotinoide führte, einer bestimmten Sorte von Insektengiften. Welche Folgen der Rückgang an Insekten haben kann, untersuchte die Vogelwarte Sempach.
Die Zahl der Brutvögel, die sich von Insekten im Kulturland ernähren, ist seit 1990 um 60 Prozent zurückgegangen. Bei anderen Arten hingegen ist das nicht der Fall – etwa bei jenen, die auf eine breitere Nahrungspalette zurückgreifen oder sich von Insekten im Wald ernähren.
Weniger Insekten auf Kulturland – weniger Vögel
1990 = 100 Prozent des Bestandes
Quelle: Schweizer Brutvogelatlas; Schweizerische Vogelwarte Sempach.
Als mitverantwortlich für diese Entwicklung machen die Forscherinnen der Vogelwarte Sempach den Einsatz von Pestiziden auf den Feldern. Dieser dürfte – neben anderen Faktoren – zu einem Rückgang an Insekten führen. Womit den Insektenfressern des Kulturlands weniger Nahrung zur Verfügung steht.
Apropos Kulturland: Wie Pestizide auf die Böden selbst wirken, ist weitgehend wissenschaftliche terra incognita. Hier hat der Bund nicht einmal Grenzwerte definiert. Was wir gemäss einer neuen Studie des Agrarforschungsinstituts Agroscope wissen: Die Mikroorganismen im Boden nehmen umso mehr ab, je grösser die Pestizidrückstände im Boden sind.
Letztlich wirken Pestizide auf das gesamte Ökosystem. Die quantitativen Auswirkungen auf Flora und Fauna sind bisher erst ansatzweise erforscht, denn die Sache ist nicht ganz trivial. Wissenschaftlicher Konsens ist, dass Pestizide via Wasser, Land und Luft viele tierische und pflanzliche Organismen beeinträchtigen und eine wichtige Rolle für das Artensterben spielen.
Aber welchen Anteil am Artensterben insgesamt haben sie genau? Diese Frage lässt sich kaum beantworten, denn Ökosysteme sind hochkomplex und unterliegen einer Vielzahl von Einflussfaktoren. Pestizide sind nicht das einzige Problem. Einfache Ursache-Wirkungs-Relationen finden sich sehr selten.
Im Grundwasser
Und damit nun endlich zu der am heissesten diskutierten Frage: Wie steht es um die Qualität des Grundwassers? Und, da 80 Prozent unseres Trinkwassers aus dem Grundwasser kommen: Werden wir schleichend vergiftet?
Ähnlich wie bei den Flüssen finden sich auch im Grundwasser über 40 Wirkstoffe. An mehr als der Hälfte der Grundwasser-Messstellen landesweit lassen sich Pestizidabbaustoffe feststellen, in Ackerbaugebieten sogar an 9 von 10 Stellen.
Das Grundwasser ist grossflächig belastet
Pestizidmetaboliten an Messstellen in Quellen, Pumpbrunnen und Beobachtungsrohren, 2019
Quelle: Bundesamt für Umwelt; Grenzwert verletzt: > 0,1 µg/l; belastet: 0,01–0,1 µg/l; keine Abbaustoffe nachgewiesen: ≤ 0,01 µg/l oder < Bestimmungsgrenze.
Das Bild sieht ähnlich aus wie bei den Fliessgewässern: Im ackerbaulich intensiv genutzten Mittelland ist das Wasser am stärksten belastet. Insgesamt fand man an einem Viertel der Messstellen Pestizidabbaustoffe, vor allem von Chlorothalonil, in Konzentrationen, die den Grenzwert überschreiten. Aktuell ist dieser Grenzwert nach einem juristischen Hickhack – und toxikologischen Unsicherheiten – infrage gestellt. Die Konzentrationen von Pestizidwirkstoffen (in der Karte nicht dargestellt) liegen an 2 Prozent der Messstellen über dem Grenzwert.
Wissenschaftlerinnen wie Behörden betonen: Der einzelne Stoff gilt in dieser Konzentration gesundheitlich an sich als unbedenklich, selbst bei einer Grenzwertüberschreitung. Der gesetzliche Grenzwert liegt bei den meisten Pestiziden bei 0,1 Mikrogramm pro Liter Wasser (was 0,1 Millionstel Gramm entspricht), für besonders toxische Substanzen noch tiefer. In den Schutzbestimmungen sind hohe Sicherheitsmargen eingebaut. Die Dosen müssten je nach Stoff 10- oder 100-mal so hoch sein wie erlaubt, bis eine gesundheitliche Gefahr wahrscheinlich wird. Doch gibt es offene Fragen in Bezug auf die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen des gleichzeitigen Konsums einer Vielzahl von Pestiziden: Auch hier weiss man noch wenig über Cocktaileffekte.
Klar ist: Unabhängig von der genauen toxikologischen Bewertung ist der Staat dazu verpflichtet, gemäss dem Vorsorgeprinzip die Menschen vor schädlichen Stoffen zu schützen. Daher gilt: Die Pestizide müssen raus aus dem Wasser. Sonst kann es teuer werden: Wegen des Chlorothalonil-Gaus müssen die Wasserversorger gerade sehr viel Geld investieren, um ihre Anlagen aufzurüsten, sodass pestizidbelastetes Wasser gereinigt oder vermischt werden kann.
Ich will es genauer wissen: Wie ist das mit dem Chlorothalonil?
Das jahrzehntelang in grossen Mengen eingesetzte Fungizid des Schweizer Agrochemiekonzerns Syngenta wurde 2019 in der Schweiz verboten, weil es von den europäischen Zulassungsbehörden neu als wahrscheinlich krebserregend eingestuft wurde. Und damit wurden auch seine Abbaustoffe, Metaboliten genannt, problematisch. Analysen zeigten, dass Chlorothalonil-Metaboliten im Grundwasser weit verbreitet sind. An etwa einem Viertel der Messstellen wird der gesetzliche Grenzwert für trinkwasserrelevante Metaboliten überschritten, primär wegen Chlorothalonil.
Seither ist ein Rechtsstreit entbrannt zwischen dem Hersteller Syngenta und den Behörden. Dies hängt damit zusammen, dass es keinen wissenschaftlichen Nachweis gibt, dass die Chlorothalonil-Metaboliten wirklich Krebs verursachen können – allerdings auch keinen, der das Gegenteil besagt. Das Fungizid wurde bei einer wissenschaftlichen Neubewertung als toxischer als bisher eingestuft. Seine Abbaustoffe, die Metaboliten, wurden im Sinn des Vorsorgeprinzips ebenfalls entsprechend klassifiziert. Lothar Aicher vom Schweizerischen Zentrum für Angewandte Humantoxikologie hält ein Gesundheitsrisiko durch Chlorothalonil-Metaboliten als «sehr unwahrscheinlich». Wegen des noch unklaren Risikos brandmarken Agrarjournalisten die Diskussion als völlig übertrieben.
Nach einem Zwischenentscheid des Bundesverwaltungsgerichts dürfen die Bundesbehörden Chlorothalonil-Abbauprodukte aktuell nicht mehr als toxisch relevant bezeichnen. Als wie gefährlich das Fungizid selbst zu beurteilen ist, wird das Gericht später beurteilen.
Fassen wir zusammen:
Eine gesundheitliche Gefährdung von Menschen durch die aktuellen Pestizidkonzentrationen im Grundwasser ist eher unwahrscheinlich.
Die Schäden an natürlichen Organismen, besonders im Wasser, sind gut belegt. Dass Pestizide die Artenvielfalt beeinträchtigen, ist wissenschaftlicher Konsens.
Öffnen wir zum Schluss den Fächer. Uns muss bewusst sein: Wir nehmen Pestizide keineswegs nur via Trinkwasser auf, sondern auch auf anderen Wegen, vor allem über die Nahrung. Die Pestizidfrachten, die wir über Gemüse, Früchte oder Wein aus konventionellem Anbau zu uns nehmen, dürften um ein Vielfaches höher sein als die aus dem Wasserhahn.
Generell am stärksten gesundheitlich gefährdet sind Menschen, die in direkten Kontakt mit Pestiziden kommen, wie Bäuerinnen, Gärtner oder Erntehelferinnen. Ein Bericht der Uno spricht von 200’000 Pestizidtoten jährlich, primär bedingt durch Fehler bei der Anwendung in Entwicklungsländern.
Vieles ist nicht ausreichend erforscht, doch aktuelle Studien werfen neue Fragen auf. Zwei Beispiele aus den letzten Wochen: In zwei pestizidbelasteten Schweizer Ackerbaugebieten wurde eine leicht erhöhte Wahrscheinlichkeit für Hirntumore bei Kindern festgestellt. Und Bauernkinder sollen besonders schlechte Spermienqualität haben. Als möglicher Grund gilt, dass ihre Mütter in der Schwangerschaft Pestiziden ausgesetzt waren. Solche Einzelstudien mit beschränkter Datengrundlage gelten im wissenschaftlichen Sinn aber nicht als gesicherte Erkenntnis.
Welche gesellschaftlichen Gesundheitsschäden Pestizide in der Schweiz genau verursachen, lässt sich letztlich kaum sagen: Denn wir sind einer Vielzahl von toxischen Substanzen und anderen schädlichen Einflüssen ausgesetzt.
Daniel Bütler ist freier Journalist und Texter in Zürich. Er hat Germanistik und Wirtschaftsgeschichte studiert und schreibt regelmässig über Umweltthemen, unter anderem für den Beobachter.