Zehn absurde Sparübungen von Schweizer Medien – das Listicle
«20 Minuten» lagert seine Personalabteilung nach Belgrad aus. Es ist das jüngste Beispiel einer Reihe von kreativen Ideen, mit denen Verlage ihre Kosten senken wollen (Nummer 4 wird Sie verstören).
Von Dennis Bühler, 20.05.2021
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Die Ankündigung des grössten Schweizer Medienkonzerns klang so schwer verständlich wie unverfänglich. Nachdem man die zentralen Dienste einer Prüfung unterzogen habe, «um sie an die neue dezentrale Struktur der Gruppe anzupassen», sollten die verschiedenen Unternehmen unter dem Dach der Gruppe nun «vom gemeinsamen Savoir-faire und von Verbundeffekten profitieren». So teilte es die TX Group im Juni letzten Jahres mit.
Nun zeigen Recherchen der Republik, was die damals beschlossene Umstrukturierung des einst Tamedia genannten Konzerns konkret bedeutet: Kürzlich hat «20 Minuten» – die auflagenstärkste Zeitung und das meistgeklickte Onlineportal der Schweiz – seine HR-Abteilung nach Serbien ausgelagert.
Dabei soll es nicht bleiben. Wie TX-Group-Sprecher Michele Paparone auf Anfrage bestätigt, soll das neu gegründete Servicecenter in Belgrad künftig für die gesamte TX Group Servicedienstleistungen aus den Bereichen Human Resources und Finanzen erbringen. Die Auslagerung sei Teil der im letzten Jahr angekündigten Sparmassnahmen im Bereich Corporate Services.
Unbeantwortet lässt Paparone die Fragen der Republik, wie viele Stellen die TX Group damit in der Schweiz einspare, ob es zu Entlassungen komme und wie gross der finanzielle Nutzen für den Konzern sei, der für das vergangene Jahr einen Umsatz von 935 Millionen Franken auswies. Dazu sagt der Sprecher bloss: «Da wir uns derzeit in der Projektplanung befinden, können wir noch keine genaueren Aussagen machen.»
Im Sommer 2020 hatte die TX Group das Ziel verkündet, bei den zentralen Diensten innert dreier Jahre 20 Millionen Franken zu sparen. Vorgesehen sei der Abbau von rund 40 Stellen, Entlassungen könnten nicht ausgeschlossen werden.
In einem Unternehmen ist die HR-Abteilung unter anderem dafür zuständig, geeignete Mitarbeitende zu gewinnen und zu halten sowie das Arbeitsklima zu verbessern. Ob das aus dem vom Zürcher TX-Group-Hauptsitz fast tausend Kilometer entfernten Belgrad tatsächlich funktionieren wird?
Wie dem auch sei: Solche Sparmassnahmen sind im Schweizer Journalismus keine Seltenheit.
Weniger Hintergründe, weniger Einordnung
Seit die Inserate ins Internet abgewandert sind, sehen sich Zeitungsverleger gezwungen, die Budgets ihrer Redaktionen zu kürzen. Allein im Pandemiejahr 2020 haben vier der fünf grossen Medienhäuser drastische Sparprogramme beschlossen: Tamedia, NZZ, SRG und Ringier Axel Springer kündigten den Abbau von über 400 Stellen an. Schon 2018 hatte der fünfte Grossverlag im Bunde, CH Media, den Wegfall von 200 Vollzeitstellen bekannt gegeben.
Ende April zeigte eine Recherche der Republik, dass Jahr für Jahr mehr Journalisten aussteigen. Lieber eröffnen sie ein Hotel, als in ihrem angestammten Beruf zu bleiben, stehen sie als Lehrerinnen vor Schulklassen oder stellen sich als Kommunikatoren in den Dienst des Staates oder von Unternehmen.
Die Folgen, wenn Fachjournalistinnen aussteigen, beim Personal gespart wird, die Arbeitsbedingungen schlechter werden: Von 2015 bis 2019 sei die Qualität ausgerechnet bei jenen Medientypen messbar gesunken, die eigentlich für eine überdurchschnittliche Qualität bekannt seien, heisst es in der im vergangenen Oktober präsentierten neuesten Bestandesaufnahme des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich. «Bei gedruckten Abonnementszeitungen, Sonntags- und Wochenmedien sowie den Informationssendungen des öffentlichen Rundfunks.» Bei diesen und anderen Medien gebe es immer weniger Beiträge, in denen Hintergründe vermittelt und Nachrichten eingeordnet werden.
Im folgenden Listicle haben wir unternehmerische Entscheidungen der letzten zwei Jahrzehnte zusammengetragen, die für sich betrachtet abstrus wirken mögen. In der Gesamtheit aber zeichnen sie das Bild einer Branche, die sich in einer tiefen strukturellen und finanziellen Krise befindet.
Gespart wird längst nicht mehr nur bei den Lohnkosten. Sondern auch bei der Büroreinigung, beim Schreibmaterial und bei Adventsfeiern.
1. Keine Papierkörbe mehr
Im April 2017 etablierte das damals noch Tamedia genannte grösste Schweizer Medienhaus ein neues Entsorgungssystem: Seither müssen alle Mitarbeiter ihren Abfall zu zentralen Sammelstellen bringen, die sich an den Standorten Bern, Genf, Lausanne und Zürich auf jeder Etage befinden. «Die Papierkörbe an den Arbeitsplätzen werden aufgehoben», hiess es in einer internen Mitteilung, die damals viel zu reden gab.
Redaktorinnen vermuteten, dem florierenden Unternehmen gehe es mit dieser Massnahme einzig darum, Reinigungskosten zu sparen; von einer Sparübung wollte der Konzernsprecher allerdings nichts wissen. Vielmehr wolle man die Recyclingquote erhöhen und die Nachhaltigkeit verbessern.
2. Korrigieren in Banja Luka
Im Herbst 2017 entliessen die NZZ-Regionalmedien 9 Korrektoren und lagerten die Aufgabe, die Texte des «St. Galler Tagblatts» und der «Luzerner Zeitung» auf Fehler zu überprüfen, nach Banja Luka aus – in die Hauptstadt der Republika Srpska, die sich gerne von Bosnien-Herzegowina lossagen möchte und wo der durchschnittliche Monatslohn rund 500 Franken netto beträgt. «Von all den sonderbaren Sparmassnahmen in den Verlagen ist das bisher mit Sicherheit die ausgefallenste Idee», schrieb der Medienkritiker der «Weltwoche», der darin einen «sprachlichen Kulturverrat» sah.
Seit die NZZ-Regionalmedien im Herbst 2018 mit den AZ Medien zum neuen Konzern CH Media fusionierten, werden auch die «Aargauer Zeitung» und weitere Regionalzeitungen aus dem Mittelland in Banja Luka korrekturgelesen; 2019 kamen Texte des Onlineportals «Nau» hinzu.
3. Teure Berater
Wann immer Verlegerinnen und Medienmanager sparen möchten, bieten sie Beraterinnen auf, die sich ein paar Tage oder Wochen in einer Ecke ihrer Redaktion einnisten. Still beobachten sie von dort die Abläufe – und packen dann den Rotstift aus. SRF-Direktorin Nathalie Wappler vertraut auf die Unternehmensberatung Bain & Company, die NZZ setzt auf McKinsey, Tamedia liess einst Berater von Richard Consulting aus Hamburg einfliegen.
Wie diese Beratungsunternehmen arbeiten, verdeutlicht eine Anekdote, die sich vor einigen Jahren ereignete und der Republik aus dem Sportressort des «Tages-Anzeigers» zugetragen wurde. Morgens um 9 Uhr habe eine Beraterin das Büro betreten und begonnen, sich eifrig Notizen zu machen. Auf die Frage des Tagesleiters, was sie sich da notiere, habe sie geantwortet, sie zähle, wie viele der Arbeitsplätze belegt seien. Nur: Zu dieser frühen Uhrzeit war ausser dem Tagesleiter gar niemand anwesend, was niemanden erstaunen dürfte, der weiss, dass im Sportbereich nahezu alle Veranstaltungen abends stattfinden. Auf den entsprechenden Hinweis des Tagesleiters und die Aufforderung, doch abends um 21 Uhr oder am Samstagabend vorbeizuschauen, habe die Beraterin völlig perplex und empört geantwortet: «Bitte?! Dann arbeite ich doch nicht!»
4. Billige Kugelschreiber
Nicht immer sind die Empfehlungen der Beratungsunternehmen durchdacht. So rieten die vom damaligen NZZ-CEO Veit Dengler angeheuerten McKinsey-Berater, die Redaktoren mit günstigerem Schreibmaterial auszustatten. Gesagt, getan. Nur: Die Kugelschreiber, mit denen die NZZ-Angestellten fortan hätten schreiben müssen, versagten bei tiefen Temperaturen und regnerischem Wetter den Dienst – nicht gerade günstige Voraussetzungen für Reporterinnen. Die meisten Redaktoren kauften deshalb eigene, funktionstüchtige Stifte, die sie sich problemlos via Spesen vergüten liessen. Schliesslich wurde so ein anderes Budget belastet.
Übrigens: Derselbe Dengler liess sich sein Büro zu seinem Stellenantritt als NZZ-CEO mit neuem Parkett und Designermöbeln veredeln. Später sagte er: «Sparen ja, aber richtig. Wir müssen alle in den Redaktionen produktiver werden.» Im Laufe der Jahre habe sich «viel Speck angesammelt».
5. Zu Fuss statt mit dem Lift
Vom Sparen verstand schon Denglers Vorgänger eine Menge: Wegen seiner Strenge und seinem Eifer nannte man Albert P. Stäheli in der Branche auch «Stalin».
Als NZZ-CEO in den Jahren 2008 bis 2013 wies Stäheli die Journalistinnen an, im Redaktionsgebäude an der Zürcher Falkenstrasse die Treppen zu nutzen, weil die Fahrstühle häufiger verwendet würden als jene im Warenhaus Jelmoli. Vorübergehend zwang er die Verlagsmitarbeiter im NZZ-Bistro zudem, für ein Glas Leitungswasser 70 Rappen zu bezahlen. Beide Sparmassnahmen schildert der langjährige NZZ-Redaktor Friedemann Bartu in seinem kürzlich veröffentlichten Buch «Umbruch». Den damaligen Sparwahn fasst Bartu wie folgt zusammen: «Man sparte im Winter an der Heizung und im Sommer an der Kühlung.»
6. Bilder fürs Archiv
Im vergangenen Dezember hielt die Chefredaktion des Gratismediums «20 Minuten» alle Angestellten an, einen «kollektiven Effort» zu leisten. Im Schreiben, über das die «NZZ am Sonntag» berichtete, hiess es: «JEDER macht jede Woche mind. 3 Fotos von irgendwas, das er sieht (Hydrant, Fernbedienung, See, Laub, Katze, Maske am Boden, Spielplatz – wir werden alles irgendwann dringend brauchen) und lädt die Bilder ins Archiv. Und ja, wir können nachschauen, wer das tut und wer nicht.»
Hintergrund der Aufforderung: Auf Ende 2020 hatte «20 Minuten» sein Abonnement der Nachrichten- und Bildagentur Keystone-SDA gekündigt, weil deren Angebot gemäss dem Chefredaktor «zwar gut, aber nicht mehr zeitgemäss» sei. Und so mangelte es auf einmal akut an Themenbildern.
7. Lokaljournalismus aus der Ferne
Vor einem Jahr gab CH Media die Standorte Rorschach und Herisau auf. Seither wird über das Leben am Bodensee genauso aus dem Büro des «St. Galler Tagblatts» in St. Gallen berichtet wie über das Geschehen im benachbarten Halbkanton Appenzell Ausserrhoden. Bereits 2019 waren die Büros in Obwalden und in Uri aufgelöst und die wenigen verbliebenen Redaktoren nach Stans im Kanton Nidwalden umplatziert worden. Getreu dem Motto: zentralisieren und Kosten senken. Was bedeutet, dass die «Appenzeller Zeitung», die «Obwaldner Zeitung» und die «Urner Zeitung» zwar weiterhin erscheinen – bloss ohne Redaktorinnen vor Ort.
Dem Zentralisierungsgebot zu gehorchen hatte auch die Stadtredaktion des «St. Galler Tagblatts», die sich erfolglos dagegen wehrte, vom Zentrum in die Peripherie ziehen zu müssen – in ein Quartier, in dem ansonsten nur Möbelgeschäfte, Tankstellen und Autohändler ansässig sind. Seither müssen sich die Redaktoren regelmässig gegen den Vorwurf verteidigen, sie seien kaum noch in der Stadt anzutreffen und berichteten nicht mehr, was die Bevölkerung wirklich bewege.
8. Gestrichene Adventsfeier
Gespart wird bei CH Media heute an allen Ecken und Enden. Jahrzehntelang beteiligte sich das «St. Galler Tagblatt» mit 50 Franken pro Teilnehmerin an der Adventsfeier eines Seniorenclubs, in dem sich ehemalige «Tagblatt»-Mitarbeitende zusammengeschlossen haben. Als der Aargauer Verleger Peter Wanner den Verlag übernahm und ihn mit seinen AZ Medien fusionierte, war damit Schluss. Man könne sich den Betrag von jährlich maximal 2500 Franken nicht mehr leisten, hiess es in einem Schreiben an die Rentner.
Wohlgemerkt: CH Media erzielte selbst im wegen der Pandemie schwierigen Jahr 2020 einen Reingewinn – in Höhe von 22,8 Millionen Franken.
9. Überteuerte Mietpreise
Bei den Büromieten setzte Tamedia an: Der Branchenprimus zwang seine Redaktionen vor ein paar Jahren, für die benötigten Arbeitsplätze Miete zu entrichten. Gleichzeitig wurden die Budgets gekürzt. Das führte zu Streit – und zu kreativen Lösungen. So musste die Redaktion der Frauenzeitschrift «Annabelle» für ihr Fotostudio hohe Mietkosten bezahlen. Ihr Vorschlag, für Shootings ein externes Studio zu buchen – was viel günstiger gekommen wäre –, wurde abgewiesen. Folgerichtig verrechneten die «Annabelle»-Macherinnen anderen Tamedia-Redaktionen, die das Fotostudio nutzen wollten, eine kostendeckende Tagespauschale; dazu zählte etwa die von «20 Minuten» herausgegebene Wochenbeilage «Friday». Bis sich die Leitung des Gratismediums beschwerte, die Mietpreise des «Annabelle»-Studios seien völlig überrissen – und der Redaktion der Frauenzeitschrift intern vorwarf, sie wolle sich auf ihre Kosten bereichern.
Eine Lücke im Tamedia-Regelwerk nutzte derweil das «Magazin»: Die Nutzung der Gänge war kostenfrei. Und so baute die Redaktion der Samstagspublikation den Grossteil ihrer Schreibtische im Gang auf – während die Büros hinter ihnen leer standen.
10. Kostenpflichtige «Dankeschön-Schifffahrt»
Dieses Listicle wäre nicht komplett ohne eine Anekdote, die der ehemalige Medienjournalist und heutige Republik-Leser Ueli Custer kürzlich im Dialog zum Besten gab. Am 31. Mai 2018 lud Verlegerverbandspräsident und Tamedia-Chef Pietro Supino externe Mitarbeitende zu einer «Dankeschön-Schifffahrt» auf dem Zürichsee ein. Doch gratis war das Vergnügen nicht – wer am Bürkliplatz zusteigen wollte, musste ein Billett kaufen. So habe der Verlegerverband die Kosten für die Schifffahrt genauso decken wollen wie jene für den Höhepunkt der Veranstaltung: eine Lotterie.
Im Verlauf des Nachmittags sei Supino selbst zugestiegen, erinnert sich Custer. «Offenbar vor allem in der Absicht, sich ein Los zu sichern.» Prompt habe der Konzernchef den Hauptpreis gewonnen: Dabei habe es sich um einen Laptop von Apple gehandelt, so Custer. «Worauf er mir strahlend erklärte, dass er das Gerät seiner Tochter schenken werde.» Auf die Idee, auf den Preis zu verzichten und nochmals auslosen zu lassen, sei Supino nicht gekommen. Dieser erinnert sich allerdings anders: Gewonnen habe er keinen Laptop, sondern ein Telefon, lässt Supino via TX-Kommunikationschefin ausrichten. Und er habe den Hauptpreis auch nicht behalten, sondern gegen einen Nebenpreis getauscht.
In einer früheren Version haben wir geschrieben, die Schifffahrt unter Punkt 10 sei von Tamedia organisiert gewesen. Dies ist falsch, die Einladung wurde vom Verlegerverband ausgesprochen. Wir entschuldigen uns für den Fehler.