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Was Justizministerin Keller-Sutter im Abstimmungskampf verschweigt

Bundesrätin Karin Keller-Sutter behauptet, das geplante Anti-Terror-Gesetz ändere an der bisherigen Terrorismus-Definition nichts. Das stimmt so nicht, sagt eine Rechtsprofessorin: Die Justizministerin unterschlage den alles entscheidenden Punkt.

Von Daniel Ryser, 19.05.2021

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Die Kritik an der geplanten neuen Schweizer Terrorismus-Definition, über welche die Schweiz am 13. Juni abstimmt, ist massiv. Schweizer Rechts­professorinnen, mandatierte Uno-Sonder­beauftragte oder die Menschenrechts­kommissarin des Europarats befürchten schwere und willkürliche Eingriffe in die Menschenrechte, wenn die «polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus» (PMT) angenommen werden.

Die Justiz- und Polizeiministerin Karin Keller-Sutter (FDP) hat diese Kritik mehrfach zurückgewiesen. Bei einer kürzlichen PR-Führung des Bundesamts für Polizei (Fedpol) durch deren Einsatzzentrale bekräftigte sie ihre Haltung: Die Kritik an der neuen Terrorismus-Definition verstehe sie nicht. «Wir haben die Definition der terroristischen Aktivität aus dem Nachrichtendienst­gesetz übernommen», sagte sie. «Es ändert sich nichts.»

Stimmt das, was Karin Keller-Sutter sagt? Ist die neue Definition dieselbe wie die bisherige im Nachrichtendienst­gesetz? Diese Frage ist zentral: Denn die Definition ermöglicht es dem Bundesamt für Polizei, präventive Zwangs­massnahmen gegen Personen zu ergreifen – sogenannte «terroristische Gefährder», die noch keine Straftat begangen haben, die es in den Augen der Bundespolizei aber tun könnten.

Die Republik hat die verschiedenen Terrorismus-Gesetze, die es in der Schweiz gibt, Evelyne Schmid vorgelegt, Professorin für Völkerrecht an der Universität Lausanne. Und ihr die Frage gestellt: Stimmt es, was die Justizministerin sagt? Wurde die Definition aus dem Nachrichtendienst übernommen? Ändert sich nichts?

Rechtsprofessorin Schmids Antwort: «Es stimmt nicht, dass sich nichts ändert. Das lässt sich mit Blick auf die Gesetze belegen.»

Im neuen Gesetz wird Terror folgendermassen definiert:

Als terroristische Aktivität gelten Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen.

Bundes­gesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT, Art. 23e).

Schmid sagt: «Früher waren schwere Straftaten und die Verbreitung von Furcht und Schrecken durch das Wort ‹sowie› aneinander­gekoppelt. So war das in der damaligen Formulierung im ‹Bundesgesetz zur Wahrung der inneren Sicherheit› (BWIS) geregelt. Dann wurde die Definition 2015 ins Nachrichtendienst­gesetz übernommen. Das Wort ‹sowie› wurde damals ersetzt durch ein ‹oder›, so wie es im neuen PMT-Gesetz stehen wird. So weit hat Karin Keller-Sutter recht: Die Definition der terroristischen Aktivität als Satz ist dieselbe wie im Nachrichtendienst­gesetz.»

Dann sagt die Völkerrechtlerin, und das ist nun der entscheidende Punkt: «Was Bundesrätin Karin Keller-Sutter dabei jedoch nicht sagt: Wenn die Definition vom Nachrichtendienst­gesetz nun als PMT-Gesetz wieder ins BWIS eingefügt wird, dann wird die Definition abgekoppelt von dem, was man einen Chapeau nennt – den Einleitungssatz der Gesetzesbestimmung im Nachrichtendienst­gesetz. Dieser ‹Hut› ist die gesetzliche Voraussetzung, dass die vorliegende Terrorismus-Definition überhaupt zur Anwendung kommen kann. Der Chapeau und die folgenden Anwendungs­buchstaben im Gesetz gehören zusammen. Wenn man nun diesen einen Satz seinem Kontext entreisst, ihn ohne seinen Einleitungssatz betrachtet, kann das seine Bedeutung verändern. Und das ist hier der Fall: Im neuen Kontext der PMT entkoppelt man die Terrorismus-Definition von einer schweren Straftat oder der Bedrohung eines bedeutenden Rechtsguts. Damit ändert sich die Definition fundamental.»

Die Anwendungs­buchstaben seien eine Variante, wie die konkrete Bedrohung im Einleitungssatz des betreffenden Artikels 19 im Nachrichtendienst­gesetz aussehen könne. Diese beinhalte im Nachrichtendienst­gesetz zwingend ein Rechtsgut wie Leib und Leben – ein Gewaltverbrechen. Oder die Freiheit von Personen – etwa eine Geiselnahme oder den Bestand und das Funktionieren des Staates.

Dieser sogenannte Chapeau, die bisherige Anwendungs­voraussetzung für die Definition der terroristischen Aktivität, lautet im Nachrichtendienst­gesetz (Artikel 19, Absatz 2) folgendermassen:

Eine konkrete Bedrohung der inneren oder äusseren Sicherheit ist gegeben, wenn ein bedeutendes Rechtsgut wie Leib und Leben oder die Freiheit von Personen oder der Bestand und das Funktionieren des Staates betroffen ist und die Bedrohung ausgeht von: (…)»

Bundesgesetz über den Nachrichtendienst (NDG, Art. 19).

«Die Definition einer terroristischen Aktivität, dass man Furcht und Schrecken verbreite, und dieser vorangestellte Satz gehören im Nachrichtendienst­gesetz zusammen», sagt Schmid. «Das kann man nicht wegdiskutieren. Die Verbreitung von Furcht und Schrecken reichte bisher nicht aus, sondern war erst dann relevant, wenn ein bedeutendes Rechtsgut wie Leib und Leben bedroht war. Deswegen ist der Satz mit der Definition der terroristischen Aktivität zwar derselbe, aber die Bedeutung eine andere. Die Bestrebung der Beeinflussung der staatlichen Ordnung durch die Verbreitung von Furcht und Schrecken reicht im Nachrichtendienst­gesetz nicht. Anders im PMT-Gesetz: Hier steht der Satz in einem völlig anderen Kontext.»

Der ganze Kontext des Gesetzes soll, geht es nach dem Willen des Bundesrats, in Zukunft so lauten:

5. Abschnitt: Massnahmen zur Verhinderung terroristischer Aktivitäten
Art. 23e Begriffe
1 Als terroristische Gefährderin oder terroristischer Gefährder gilt eine Person, wenn aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird.
2 Als terroristische Aktivität gelten Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen.

PMT, Art. 23.

Was sagt Karin Keller-Sutter dazu? Sieht sie die Problematik, dass derselbe Satz im neuen Kontext etwas völlig anderes bedeutet?

«Wir befinden uns beim PMT-Gesetz im Rahmen des BWIS», sagte Keller-Sutter bei der Führung im Fedpol-Gebäude. «Da müssen Sie den Zweckartikel lesen. Es geht auch um die innere Sicherheit. Das ist kein konturloser Begriff, da geht es um die Abwendung schwerer Straftaten. Furcht und Schrecken können Sie nicht einfach verbreiten, indem Sie eine andere Meinung haben. Das setzt voraus, dass Sie mit gewalttätigen Mitteln bereit sind, die staatliche Ordnung zu kippen.»

Der Zweckartikel des «Bundesgesetzes zur Wahrung der inneren Sicherheit», auf den Karin Keller-Sutter verweist, der Artikel 1 des Gesetzes, lautet wie folgt:

Dieses Gesetz dient der Sicherung der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlagen der Schweiz sowie dem Schutz der Freiheitsrechte ihrer Bevölkerung.

Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung zur inneren Sicherheit. (BWIS, Art. 1)

Rückfrage an Völkerrechts­professorin Schmid.

Was ist von dieser Aussage zu halten?
Von dieser Argumentation habe ich noch nie gehört, und in der Botschaft des Bundesrats steht davon nichts.

Aber wie beurteilen Sie das Argument?
Wenn man einen Gesetzestext auslegen muss, ist es richtig, dass man nebst dem Wortlaut des Gesetzes auch den Zweck der Bestimmungen berücksichtigt. Aber der Zweckartikel des BWIS bietet keine Garantie, dass die Behörden in zehn, zwanzig Jahren nur Aktivitäten mit engem Bezug zu einer Gewalttat als terroristische Aktivität qualifizieren werden. Er kann durchaus, wenn man die Geschichte des Gesetzes betrachtet, repressiver ausgelegt werden.

Was heisst das, Frau Schmid?
Der Zweckartikel liest sich zwiespältig: Was sichert und schützt denn die Sicherheit und die Freiheitsrechte einer Bevölkerung am meisten? Ein Bundespolizist wird diese Frage womöglich anders beantworten als eine Klimaaktivistin. Heisst Sicherheit, Leute präventiv unter Hausarrest zu stellen? Der Geschichte des Gesetzes widerspricht das nicht: Der Gesetzgeber wollte mit den PMT der Bundespolizei ja einen grösseren präventiven Spielraum schaffen.

Wenn es Karin Keller-Sutter so wichtig sei, wie sie sage, dass sich die Terrorismus-Definition nicht verändere und eine terroristische Aktivität an eine schwere Straftat gekoppelt sein müsse, «warum hat man es dann nicht schwarz auf weiss ins Gesetz geschrieben»?

Es gebe zwar international keine allgemeingültige Terrorismus-Definition, sagt Schmid. Aber eines sei sich überall gleich, in der früheren Formulierung des BWIS, im Nachrichtendienst­gesetz, im Völkerrecht, in der Definition der Uno: die Kopplung an die Ausübung oder Androhung von Gewalt.

«Was ich persönlich an der Entstehungs­geschichte des Gesetzes wirklich erstaunlich finde, ist, dass man sich inhaltlich nicht näher mit der Kritik der Uno-Sonder­beauftragten auseinandergesetzt hat, als diese mit der Schweiz das Gespräch suchten und sogar in einem Brief eine alternative Terrorismus-Definition vorgeschlagen hatten, damit dieser nicht missbraucht werden kann, etwa gegen Journalisten», sagt Schmid. «Die Uno-Sonder­beauftragten sind ja dafür gewählt und mandatiert, um genau das zu tun: die Gesetzgebungs­prozesse in den Uno-Mitglied­staaten zu begleiten und aufgrund ihrer unabhängigen Expertise Vorschläge zu machen. Sie sind von den Staaten, auch von der Schweiz, dafür gewählt. Die Staaten haben das System auf die Beine gestellt. Und das hat mich ziemlich schockiert: In der Debatte im Nationalrat hat Karin Keller-Sutter diese Kritik als persönliche Meinungen abgetan und damit der internationalen Menschenrechts­arbeit keinen Dienst erwiesen.»

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