Verdächtiger im Fall «NSU 2.0» verhaftet, tödliche Massenpanik in Israel – und ein Prinz auf Trophäenjagd
Woche 18/2021 – das Nachrichtenbriefing aus der Republik-Redaktion und die aktuelle Corona-Lage.
Von Reto Aschwanden, Ronja Beck, Anja Conzett, Theresa Hein, Marguerite Meyer, Simon Schmid und Cinzia Venafro, 07.05.2021
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Deutschland: Festnahme im Fall «NSU 2.0»
Darum geht es: In Berlin wurde am Montag ein 53-jähriger Mann festgenommen, der seit 2018 insgesamt 115 Drohschreiben mit der Unterschrift «NSU 2.0» verschickt haben soll. Empfänger der Briefe und Mails waren Politikerinnen und andere Personen des öffentlichen Lebens. Weil die Schreiben auch an gesperrte Adressen gingen und Behördenjargon enthielten, wurde lange ein Täter aus dem Polizeiumfeld vermutet. Sollte sich der Verdacht gegen den mehrfach vorbestraften Erwerbslosen bestätigen, sieht der hessische Innenminister die Polizei entlastet. Offen bleibt, wie der Mann an die gesperrten Daten kam. Eine Vermutung ist, dass er bei Polizeidienststellen angerufen und sich als Kollege ausgegeben haben könnte.
Warum das wichtig ist: Die rechtsextremistische Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund, kurz NSU, auf die die Signatur der Drohbriefe mit NSU 2.0 anspielt, war in den 2000er-Jahren für zehn Morde in Deutschland verantwortlich. Erst am Dienstag hatte der deutsche Innenminister Horst Seehofer die Zahlen der politisch motivierten Straftaten für das Jahr 2020 vorgestellt und angesichts eines neuen Höchststandes von einer «Verrohungstendenz» im Land gesprochen. Er betonte dabei, die grösste Bedrohung für die innere Sicherheit sei der Rechtsextremismus.
Was als Nächstes geschieht: Die erleichterte Reaktion der hessischen Behörden nach der Festnahme sorgte für Kritik. Manche der Empfängerinnen von Drohschreiben warnten am Mittwoch in einer Erklärung davor, vorschnell von einem Einzeltäter auszugehen. Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt versicherte, die Ermittlungen seien nicht abgeschlossen, man müsse untersuchen, ob es Mittäter gebe. Bei der Wohnungsdurchsuchung des Verdächtigen wurden Datenträger sichergestellt, die nun ausgewertet werden.
Israel: Massenpanik führt zu vielen Toten und erhöht Spannungen zwischen Säkularen und Ultraorthodoxen
Darum geht es: Am Berg Meron sind in der Nacht auf letzten Freitag 45 Menschen gestorben und mindestens 150 verletzt worden. Ultraorthodoxe Pilger hatten dort den Festtag Lag Baomer begangen. Der Wallfahrtsort war überfüllt, im Gedränge brach eine Massenpanik aus und beim Versuch zu fliehen, stürzten die Menschen übereinander und wurden zu Tode getrampelt.
Warum das wichtig ist: Es ist die grösste Katastrophe, die Israel in Friedenszeiten erlebt hat. In die Trauer mischt sich Zorn. Säkulare und Ultraorthodoxe schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Die einen sagen, die Polizei hätte es versäumt, für Sicherheit zu sorgen, die anderen klagen, dass der Staat keine Kontrolle über den Wallfahrtsort habe. Seit Jahren warnten Behörden vor einem Unglück, weil der Ort nicht eingerichtet sei für Zehntausende von Menschen; doch Versuche, die Teilnehmerzahl zu beschränken, waren stets gescheitert. Der ehemalige Vorsitzende der Regionalverwaltung erzählt, er hätte dort «nichts zu sagen gehabt», weil ultraorthodoxe Gruppen keine staatlichen Vorschriften akzeptierten, was von der Landesregierung, an der sie beteiligt sind, geduldet werde. So wurde die Rampe, auf der viele Menschen starben, laut Angaben des ehemaligen Bürgermeisters von Meron ohne Baubewilligung erstellt. Die Tragödie verstärkt die bestehenden Spannungen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den streng Religiösen, neben Vorwürfen gibt es aber auch Stimmen, die dazu aufrufen, die Ultraorthodoxen stärker einzubinden.
Was als Nächstes geschieht: Am Sonntag herrschte in Israel Staatstrauer. Die Regierung hat eine Untersuchung der Vorfälle eingeleitet.
Spanien: In Madrid festigt die Rechte ihre Macht
Darum geht es: Am Dienstag wählten die Bewohnerinnen der spanischen Autonomen Gemeinschaft Madrid bei vorgezogenen Neuwahlen ihr Parlament. Grosse Gewinnerin: die rechtskonservative Partido Popular PP, die ihr Ergebnis von 2019 verdoppeln konnte. Sie sicherte sich 65 von 136 Parlamentssitzen – das sind mehr als die drei linken Parteien zusammen erreichten. Damit fehlen der Partei von Regionalpräsidentin Isabel Díaz Ayuso nur 4 Stimmen für die absolute Mehrheit. Massiv verloren hat die Sozialistische Arbeiterpartei PSOE.
Warum das wichtig ist: Diaz Ayuso bestätigt mit dem Sieg ihren Ruf als politischer Shootingstar. Für eine Mehrheit braucht sie allerdings die Unterstützung der Rechtsaussen-Partei Vox, die 13 Sitze hat. Spanische Medien und Politkommentatorinnen bezeichnen Vox als Partei mit faschistischen Zügen. Ayuso hat bisher eine Koalition mit der Vox offengelassen. Deren Anführer hat der PP seinerseits volle Loyalität zugesichert. Am Dienstagabend sagte er, dass die Sitze von Vox «Ayuso zur Verfügung stehen, um ihre Amtseinführung zu erleichtern». Kurz: Vox verhilft der PP zu einer starken Ausgangslage, der Preis dafür werden aber Konzessionen an die Vox sein.
Was als Nächstes geschieht: Die Regionalwahl könnte Auswirkungen auch auf die spanische Zentralregierung haben. Dort bildet die Sozialistische Arbeiterpartei unter Pedro Sánchez eine Koalition mit der linken Unidas Podemos. Nach schlechten Ergebnissen bei den Regionalwahlen in Katalonien und im Baskenland sieht PP im Resultat von Madrid eine Kehrtwende. Sie erkennt darin ein Misstrauensvotum gegenüber dem Sanchismo, also dem Programm der Regierung Sanchez. Podemos-Gründer Pablo Iglesias, der in Madrid kandidiert hatte (und dabei das Ziel von Belästigungen und Morddrohungen wurde), erklärte nach der Niederlage seinen Rücktritt von allen politischen Ämtern.
Russland verschärft Repression
Darum geht es: Eine Repressionswelle rollt über Russland. Die Anhänger des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexei Navalny werden systematisch verfolgt. Ihre Organisation ist auf eine Terrorliste gesetzt worden und soll bald als «extremistisch» eingestuft und somit verboten werden. Es kam bereits zu mindestens 2000 Verhaftungen. Nawalny-Anhängerinnen würden gleichgesetzt mit Terroristen der al-Qaida, berichtet SRF-Russland-Korrespondent David Nauer. Auch die Repressionen gegen Medienschaffende nehmen zu: So wurde Iwan Kolpakow, Chefredaktor eines der grössten unabhängigen Onlineportale, «Meduza», auf eine Liste der «ausländischen Agenten» gesetzt und dazu verpflichtet, dieses Attribut auf seinem Portal öffentlich zu machen.
Warum das wichtig ist: Repression ist in Russland nichts Neues, doch zieht der Kreml die Schraube immer stärker an. Besonders die Meinungsfreiheit wird eingeschränkt wie seit Jahrzehnten nicht mehr, sagt etwa Galina Arapowa, Leiterin des «Zentrums zum Schutz der Rechte von Medien». Wer in Russland den Kurs des Kremls nicht unterstütze und dies kundtue, werde verfolgt. Zudem ist das aussenpolitische Klima vereist. Als Reaktion auf Sanktionen der EU hat Russland gegen acht hochrangige Diplomaten Sanktionen verhängt. Spannungen gibt es auch mit Italien, wo eine Spionageaffäre aufgeflogen ist.
Was als Nächstes geschieht: Für den Sommer ist ein Treffen zwischen Russland und den USA geplant. Was bis dahin mit dem inhaftierten Nawalny und seinen Anhängerinnen geschieht, ist ungewiss.
Kolumbien: Regierung schickt Militär auf die Strassen
Darum geht es: In Kolumbiens Städten herrscht seit letzter Woche Ausnahmezustand. Zehntausende protestieren gegen eine geplante Steuerreform der Regierung. Bei den Protesten kam es zu Brandstiftung, Plünderung und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten. Je nach Quellen kamen dabei 19 respektive 24 Menschen ums Leben, darunter ein Polizeibeamter.
Warum das wichtig ist: Kolumbien wird besonders hart von der Pandemie getroffen – das Land hat eine der höchsten Todesraten bei Covid-Patienten weltweit, das BIP ist 2020 um knapp 7 Prozent geschrumpft, die Zahl der von Armut betroffenen Bevölkerung von 36 auf 43 Prozent gestiegen. Die Steuerreform sollte die Folgen der Pandemie abfedern. Bezahlt hätten das Private – darunter auch die ärmeren Teile der Bevölkerung.
Was als Nächstes geschieht: Präsident Iván Duque hat die Steuerreform am Wochenende zurückgezogen, der zuständige Finanzminister ist zurückgetreten. Ob das reicht, die Situation zu entspannen, ist unklar: Auch unabhängig von der Pandemie und der Steuerreform war es in letzter Zeit zu Zusammenstössen zwischen Sicherheitskräften und Zivilbevölkerung gekommen. So hatten Fälle von Polizeigewalt im September zu Demonstrationen geführt. Die kolumbianische Regierung hat unterdessen zur Unterstützung der Polizei die Armee entsandt. Die Uno verurteilt den unverhältnismässigen Einsatz von Gewalt der kolumbianischen Sicherheitskräfte und fordert, vom Einsatz von Schusswaffen abzusehen.
Der Corona-Lagebericht
Es gibt in der Schweiz tendenziell weniger Neuansteckungen: Im Schnitt wurden über die letzten sieben Tage jeweils gut 1600 positive Corona-Tests registriert: knapp 20 Prozent weniger als vor einer Woche. Damit scheint die Epidemie unter Kontrolle. Die Positivitätsrate ist stabil. Ob es als Folge der Frühlingsferien zu einem Wiederanstieg kommt, bleibt abzuwarten.
Ältere Personen stecken sich weniger häufig als früher an. Umgekehrt sind Jüngere einem grösseren Risiko ausgesetzt. Die wissenschaftliche Taskforce schreibt diese Woche, dass das Risiko einer Spitaleinweisung bei den noch nicht geimpften Gruppen rund 50 Prozent höher sei als bei der zweiten Welle. Grund dafür sei vermutlich auch die britische Coronavirus-Variante.
Trotzdem ist die Situation in den Spitälern stabil. Die Auslastung der Intensivbetten liegt laut Taskforce unverändert bei 80 Prozent; die Neueinweisungen sind gemäss Zahlen des Bundes leicht rückläufig.
Die Impfkampagne schreitet nach den anfänglichen Hürden voran. Weit fortgeschritten sind die Romandie und der Kanton Bern; der Kanton Zürich hinkt nach wie vor hinterher. Seit Mitte dieser Woche kann man sich aber auch im Kanton Zürich in Apotheken für die Impfung anmelden. Zudem stockt der Bund die Vorräte auf – er hat beim Hersteller Moderna zusätzliche 7 Millionen Dosen bestellt. Der Impfstoff dürfte Anfang 2022 ausgeliefert werden. Hoffnung gibt es für ärmere Länder: Diese Woche gaben die USA bekannt, sie würden einer temporären Aufhebung des Patentschutzes für Impfstoffe zustimmen. Um das wirklich umzusetzen, braucht es allerdings den Konsens der Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation WTO.
Zum Schluss: Jäger der Woche
Das Leben als Adliger ist auch nicht mehr, was es mal war. So führt Prinz Emanuel von und zu Liechtenstein, ein Neffe von Fürst Hans-Adam II., eine bürgerliche Existenz als Arzt. Neulich wollte er sich aber wieder mal standesgemäss vergnügen, also reiste er nach Rumänien und erschoss dort den grössten Braunbären von Europa, genannt Arthur. Nun stehen Bären auch in Rumänien unter Schutz, allerdings verfügte der Prinz über eine Sondergenehmigung für den Abschuss einer Problembärin. Bei dieser handelte es sich freilich nicht um Arthur. Darum trifft den Prinzen jetzt der Vorwurf, er habe absichtlich statt der kleinen Problembärin den grossen Arthur erlegt, weil der unter Trophäenjägern mehr Punkte bringt. Vom «K-Tipp» damit konfrontiert, teilte der Prinz mit: «Ich persönlich möchte mich in keiner Weise in die Diskussion einbringen.» Noblesse oblige, zumindest bis sich die Gelegenheit bietet, ein seltenes Tier abzuknallen.
Was sonst noch wichtig war
Schweiz: Die Swiss entlässt bis zu 780 Angestellte. Auch die Fluzgzeugflotte und die Verbindungen werden reduziert. Insgesamt will das Unternehmen dadurch eine halbe Milliarde Franken einsparen.
Deutschland: Das Bundeskriminalamt hat vier Männer festgenommen, die im Darknet eine Tauschbörse für Kinderpornografie betrieben haben. Mit mutmasslich 400’000 Mitgliedern weltweit handelt es sich um eine der grössten je aufgeflogenen Plattformen dieser Art.
Frankreich I: Pensionierte Generäle und aktive Soldaten haben in einem offenen Brief zu einer Militärintervention aufgerufen, sollte der Staat nicht entschlossener gegen «Islamismus und die Horden der Banlieue» vorgehen. Nun läuft ein Verfahren gegen die Unterzeichner der Putschdrohung.
Frankreich II: Inlandflüge sind künftig verboten, sofern der Zielort per Bahn innert 2,5 Stunden erreichbar ist. Zudem führt das Parlament mit dem neuen Klimagesetz auch den Straftatbestand des Ökozids ein: Schwere Schädigungen der Umwelt können mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe sanktioniert werden.
Europäische Union: Die EU legt die Ratifizierung des Investionsabkommens mit China auf Eis. Wegen der Unterdrückung der Uiguren hat die EU im März Sanktionen verhängt, worauf China umgekehrt ebenfalls Sanktionen beschloss. Dadurch sei das Umfeld für eine Ratifizierung «derzeit ungünstig», so der Vize-Präsident der EU-Kommission.
USA I: Präsident Biden will nun doch mehr Geflüchtete ins Land lassen. Nach heftigen Protesten aus der eigenen Partei hat er die von Trump eingeführte Obergrenze von 15’000 auf 62’500 Menschen jährlich erhöht.
USA II: Ein Aufsichtsgremium von Facebook findet die Aussperrung von Donald Trump rechtens, verlangt aber eine Neubewertung der dauerhaften Verbannung. Trump seinerseits unterhält nun einen eigenen Blog, um seine Botschaften unters Volk zu bringen.
Palästina: Präsident Mahmoud Abbas hat die geplanten Wahlen auf unbestimmte Zeit verschoben. Zuerst müsse geklärt werden, ob und wie die Palästinenserinnen in Ost-Jerusalem teilnehmen können. Kritiker glauben, der wahre Grund sei, dass Abbas bei den ersten Wahlen seit 15 Jahren einen Sieg der Hamas fürchtet.
Israel: Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ist bei der Regierungsbildung gescheitert. Nun versucht es Yair Lapid von der Zukunftspartei, doch auch ihm dürfte es schwerfallen, aus der zersplitterten Parteienlandschaft eine Koalition zu bilden. Es könnte darum bald zu den fünften Neuwahlen in gut zwei Jahren kommen.
Tschad: Der Militärrat hat nach dem Tod von Langzeitherrscher Idriss Déby Itno eine Übergangsregierung ernannt. Die Opposition erkennt diese an – auch sie erhält einige Posten im 40-köpfigen Kabinett.
Die Top-Storys
Kollateralschaden Krebs Covid-19 füllte nicht nur die Intensivstationen. Die Pandemie erschütterte das gesamte Gesundheitssystem. Für Krebspatienten bedeutete das im letzten Jahr häufig verschobene Chemotherapien und abgesagte Kontrolltermine. Viele Menschen in den USA würden erst jetzt ihre Krebsdiagnose erhalten, schreibt das Non-Profit-Newsdesk «ProPublica». Und für viele Menschen, wie die Fabrikarbeiterin Teresa Ruvalcaba, wird die Diagnose sehr spät kommen.
Sophie Scholl ist jetzt auf Instagram Am Sonntag jährt sich Sophie Scholls Geburtstag zum 100. Mal. Die deutschen Fernsehsender SWR und BR nahmen den Jahrestag der Widerstandskämpferin zum Anlass für ein eindrückliches Projekt. Auf Instagram dokumentiert die 21-jährige Scholl, gespielt von Luna Wedler, seit dieser Woche die letzten 10 Monate ihres Lebens. Auch wer mit Social Media sonst nichts anfangen kann: Ein regelmässiger Blick auf ihr Profil lohnt sich sehr.
Der falsche Jason Brown So heisst die Geschichte im «New Yorker» von, nun, Jason Brown, einem amerikanischen Autor, der erst als Erwachsener ein Wort dafür fand, was er als Kind erlebte, nämlich Inzest. Ein manchmal amüsanter, meist aber tonnenschwerer Text über Trauma und das Gefühl, nicht sich selbst zu sein.
Illustration: Till Lauer