Sterben lassen

Alle sollen Zugang zur Palliativ­medizin erhalten, am Lebensende nicht leiden müssen. Doch der Grat ist schmal zwischen Linderung und Sterbe­hilfe oder gar Tötung. Heute stehen die Mitarbeiterinnen von Palliativ­abteilungen mit einem Fuss in der Kriminalität.

Von Markus Schärli, 04.05.2021

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Immer mehr im Fokus unserer Gesellschaft: Die Begleitung der Menschen auf ihrem letzten Weg.Devin Yalkin

Mit dem Lift in eine Zwischen­welt. Es ist anders als damals auf der Intensiv­abteilung des Spitals, als mein Vater starb. Hier, in der Palliativ­abteilung des Heims, wo mein jüngerer Bruder liegt, fehlt die Geschäftigkeit der Pflegefach­frauen, die laufend Monitore überwachen. Es herrscht eine beruhigende Atmosphäre, das Personal strahlt Gelassenheit aus, Freundlichkeit und Kompetenz. Zudem fehlt die angespannte Stimmung, die an Orten herrscht, wo es noch Hoffnung auf Heilung gibt.

Ich trete aus dem Lift, wende mich nach rechts, vorbei an einem Gestell mit Kleidern eines Menschen, der die Nacht nicht überlebt hat. Vorbei an einem liebevoll zurecht­gemachten Tisch mit Kerze und Fotos der in den letzten Tagen Verstorbenen. Gleich gegenüber liegt das Zimmer meines Bruders – für ein paar Tage noch.

Wir versuchen seit Tagen, einen Fernseh­anschluss für ihn zu organisieren. Es ist ein surrealer Wettlauf gegen die Zeit: Swisscom gegen den Tod. Als der Anschluss endlich funktioniert, hat mein Bruder das Interesse am Fernseher bereits verloren. Die Morphin­dosen sind inzwischen zu hoch, die weite Welt auf die vier Wände eines Zimmers reduziert. Und die Behandlung ist reduziert auf das, was Symptome bekämpft, Schmerzen verhindert, Atemnot gar nicht erst aufkommen lässt.

Im Fokus der Politik

Mit palliativer Pflege ist die Betreuung und Behandlung von Menschen gemeint, die an unheilbaren, lebens­bedrohlichen oder chronisch fort­schreitenden Krank­heiten leiden. In den letzten Jahren ist das Thema immer mehr in den Fokus der Politik gerückt.

Nachdem Bund und Kanton beschlossen hatten, Palliative Care zu fördern, kümmerte der Bund sich in den Jahren 2010 bis 2015 darum, eine nationale Strategie dazu umzusetzen. Dabei ging es vor allem darum, «eine gute Basis für die Förderung und Verankerung von Palliative Care in der Schweiz» zu legen. 2017 wurde dann eine Plattform lanciert, die den Austausch der Akteure im Bereich Palliative Care fördern soll. Und im September 2020 verabschiedete der Bundesrat einen Bericht, in dem er erklärt, wie er sicher­stellen will, dass Palliative Care überall in der Schweiz verfügbar ist, und wie sie finanziert werden kann.

Das Bewusstsein ist gewachsen, dass Unter­stützung am Lebens­ende kein Luxus ist. Dass es im Gegenteil möglich sein soll, dass alle Menschen am Lebens­ende professionell begleitet werden, wenn sie das wünschen.

Denn es kommt, wie bei meinem Bruder, der Moment, wo es keine Therapie mehr gibt, die heilen könnte. Und «Therapien ohne Aussicht auf einen Erfolg können weder vom Patienten noch von den Angehörigen eingefordert werden». So zumindest steht es in den medizin­ethischen Richt­linien zum «Umgang mit Sterben und Tod» der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissen­schaften. Irgend­wann bleibt also nur noch die «optimale Linderung von Schmerzen und anderen Symptomen». Dazu gehören auch, wenn auch selten, «Handlungen, die – möglicher­weise oder sicher – den Eintritt des Todes beschleunigen». Auch das wird in den medizin­ethischen Richt­linien geregelt.

Lindern oder töten?

Drei Jahre nach dem Tod meines Bruders beschäftige ich mich mit den Tötungs­delikten im Strafrecht – und stutze. Von einem Tötungs­delikt ist dann die Rede, wenn der Eintritt des Todes beschleunigt wird; ausser es bleibt beim Versuch, der allerdings ebenfalls strafbar ist. Wer den Tod einer anderen Person tatsächlich beschleunigt, macht sich je nach Umständen der Tötung (Artikel 111), des Mords (Artikel 112), des Totschlags (Artikel 113) oder der Tötung auf Verlangen (Artikel 114) strafbar.

Wie war das genau mit meinem Bruder? Wir alle waren froh, dass er nicht leiden musste. Aber niemand hat sich die Frage gestellt, ob er allenfalls ein paar Tage länger gelebt hätte, wenn die Medikamente anders dosiert gewesen wären. Hätten die Medikamente anders dosiert werden können, ohne dass er unnötig gelitten hätte? Hätte das einen Unter­schied gemacht? Und wenn es sogar eine strafbare Tötung gewesen wäre, weil sein Tod beschleunigt wurde: Warum hat das niemand untersucht?

Der Tod hinterlässt eine grosse Leere. Devin Yalkin

In unserer Gesellschaft wird breit akzeptiert, dass das medizinische Personal den Patientinnen kurz vor dem Lebens­ende unnötige Qualen ersparen soll. Gleichzeitig liegt aber nach dem Buchstaben des Gesetzes bei einer lebens­verkürzenden Massnahme der objektive Tatbestand einer vorsätzlichen oder eventual­vorsätzlichen Tötung vor.

Das müsste zumindest eine strafrechtliche Unter­suchung nach sich ziehen, da es sich um ein Offizial­delikt handelt; also um ein mutmassliches Delikt, das von der Staats­anwaltschaft untersucht werden muss. Falls sie davon erfährt. Und unabhängig davon, ob jemand Anzeige erstattet oder nicht: Warum also wird das nicht getan?

Wann ist Sterbe­hilfe strafbar?

Um diese Frage zu beantworten, müssen vier Begriffe unter­schieden werden.

Direkte aktive Sterbehilfe: Sie ist gemäss Artikel 114 im Schweizerischen Straf­gesetz­buch strafbar und besteht darin, jemanden aus Mitleid auf eindringliches und ernsthaftes Verlangen zu töten. Direkte aktive Sterbe­hilfe wird nicht überall bestraft, in den Nieder­landen zum Beispiel nicht. Dort ist sie gesetzlich geregelt und nur Ärzten unter engen Voraus­setzungen erlaubt.

Passive Sterbehilfe: Hier werden Massnahmen unterlassen, die das Leben verlängern könnten; zum Beispiel wird die Nahrungs­zufuhr abgebrochen. Die Abgrenzung zur direkten aktiven Sterbe­hilfe ist umstritten; weil einerseits ein Unter­lassen in bestimmten Fällen strafbar sein kann und anderseits in der Medizin ein Unter­lassen auch ein aktives Tun bedeuten kann: etwa das Ersetzen des Beutels mit Nahrungs­lösung durch einen Beutel mit Wasser. Es wird inzwischen breit akzeptiert, dass eine Ärztin im hoffnungs­losen Fall eines chronisch kranken Menschen trotz des Artikels 114 im Straf­gesetz­buch nicht alles Erdenkliche unter­nehmen muss, um den Patienten über Jahre am Leben zu erhalten. Aber auch diese Ausgangs­lage ist nur theoretisch klar. In der Praxis müssen in solchen Grenz­situationen die medizinisch Verantwortlichen schwierige und heikle Entscheide treffen; insbesondere dann, wenn keine klaren Wünsche der Betroffenen vorliegen. Es bleibt ein Ermessens­spielraum, der Handlungen oder Unter­lassungen rechtfertigt, die zum Tod führen.

Suizidhilfe: Damit wird einem Menschen, der selbst­bestimmt aus dem Leben scheiden will, ermöglicht, dies auf eine humane Art zu tun. Die Helferin steht ihm unter­stützend zur Seite, die tötende Handlung muss jedoch vom Sterbe­willigen selbst ausgeführt werden. Suizid­hilfe ist in der Schweiz akzeptiert und erfüllt beim Fehlen selbst­süchtiger Beweg­gründe keinen Straftat­bestand. Dennoch werden solche Sterbe­fälle von der Polizei und allenfalls auch von der Staats­anwaltschaft überprüft.

Indirekte aktive Sterbehilfe: Der Begriff umschreibt Massnahmen, die im Rahmen der Palliativ­medizin das Leben verkürzen. In Fach­kreisen ist auch von «Symptom­bekämpfung mit lebens­verkürzender Wirkung» die Rede. Das Wort «indirekt» wird verwendet, um auszudrücken, dass der Zweck der Medikation nicht der Tod, sondern die Linderung von Leiden ist. Der Eintritt des Todes wird allerdings in Kauf genommen. In der strafrechtlichen Betrachtungs­weise geht es um eine eventual­vorsätzliche Handlung. Und spätestens hier fangen die Probleme an, denn wer eventual­vorsätzlich handelt, macht sich grund­sätzlich strafbar.

Müsste also im Strafrecht präzisiert werden, dass eine eventual­vorsätzliche Tötung im Rahmen einer palliativ­medizinischen Behandlung nicht strafbar ist? Um vor allem die Ärztinnen und das Pflege­personal zu schützen?

Es besteht eine Missbrauchs­gefahr

Die vier genannten Begriffe seien umstritten und schwierig voneinander abzugrenzen, sagt der Berner Jurist Daniel Hürlimann. Er ist Lektor an der Universität Freiburg und hat zum Thema «Recht und Medizin am Lebens­ende» eine Habilitations­schrift verfasst. Hürlimann weist darauf hin, dass in der Praxis der Palliativ­medizin regelmässig auf die oben bereits erwähnten Richt­linien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften Bezug genommen werde (die er mitverfasst hat). Gemäss diesen Regelungen gelte die Symptom­bekämpfung mit Lebens­verkürzung als zulässig, soweit die Substanz nicht in einem Mass verabreicht werde, das über das Notwendige hinausgehe.

Würden jedoch symptom­lindernde Substanzen in einem über das Notwendige hinaus­gehenden Mass verabreicht, dann sei dies, so Daniel Hürlimann, eine strafbare Tötung – sofern der Tod früher als bei korrekter Dosierung eintrete. Da diese Form der Tötung häufig nicht als solche empfunden und demzufolge nicht als ausser­gewöhnlicher Todes­fall gemeldet werde, finde keine Straf­verfolgung statt.

Es besteht also «eine Missbrauchs­gefahr im Sinne einer beabsichtigten Herbei­führung des Todes», wie es in der Regelung der Medizin-Akademie heisst. Angesprochen ist vor allem die kontinuierliche Sedierung. Mit kontinuierlicher Sedierung ist die Verabreichung von Medikamenten gemeint, die dazu führen, dass das Bewusstsein einer Person über längere Zeit, allenfalls bis zum Tod, ganz oder stark eingeschränkt wird. Sie wird oft dann eingesetzt, wenn es den Pflegenden nicht mehr gelingt, durch die Abgabe von Medikamenten Symptome wie Schmerzen, Angst oder Atemnot zu bekämpfen.

In einer Studie aus dem Jahr 2016, bei der Ärztinnen in der Deutsch­schweiz anonym befragt wurden, zeigt das Autorentrio Georg Bosshard, Samia Hurst und Milo Puhan auf, dass die tiefe kontinuierliche Sedierung seit 2001 signifikant zugenommen hat. Diese dürfe gemäss den Richt­linien der Medizin-Akademie «nur unter kontrollierten Bedingungen, gestützt auf fachliche Standards und mit entsprechender Protokollierung eingesetzt und durchgeführt werden». Die Einhaltung dieser fachlichen Standards und die entsprechende Protokollierung werden jedoch nicht durch den Staat, insbesondere die Staats­anwaltschaft, überprüft – im Gegensatz zu den Sterbe­fällen mit Suizidhilfe.

Warum steht das Sterben so pünktlich fest?

Ohne den geringsten Zweifel an der Kompetenz der fachlichen Betreuung meines sterbenden Bruders zu hegen: Es hat mich irritiert, dass wir auf die Stunde genau darüber informiert wurden, wann der Tod des Mittfünfzigers eintreffen wird. Acht Uhr am Abend. Ich kam kurz nach acht Uhr ins Zimmer, weil ich am Eingang noch kurz mit seinen Freunden sprach, die ihn besucht hatten. Da war er bereits seit ein paar Minuten tot.

Genaue Voraussagen des Todeszeit­punkts sind der grossen Erfahrung des Pflege­personals geschuldet. Aber – und diese Frage stelle ich mir erst heute – allenfalls auch der Erfahrung mit der tödlichen Dosierung eines Medikaments?

Die Umstände irritieren vor allem dann, wenn man sich folgende Aussage von Daniel Hürlimann vor Augen führt: «Aus Befragungen geht hervor, dass in 30 Prozent der erwarteten Sterbe­fälle eine Symptom­bekämpfung mit Lebens­verkürzung voranging. Diese Erkenntnis muss man den Grund­sätzen der Palliativ­medizin gegenüber­stellen. Diese geht nämlich davon aus, dass es bei korrekter Behandlung nur in seltenen Ausnahme­fällen zu einer Lebens­verkürzung kommt. Es stellt sich deshalb die Frage, ob häufig zu hohe Dosen verabreicht werden. Und ob bewusst überdosiert wird.»

Hürlimann stützt sich bei dieser Aussage auf die bereits angesprochene Deutsch­schweizer Studie von Bosshard, Hurst und Puhan, in der über 3000 Todesfälle im Zeitraum von sechs Monaten untersucht wurden. In den Fällen, bei denen überhaupt ärztliche Entscheide gefällt werden konnten, betrafen knapp 30 Prozent die sogenannte indirekte aktive Sterbehilfe. Das heisst: Es wurde eine Medikamenten­dosis verabreicht, die erstens das Leiden milderte – und zweitens zu einem beschleunigten Eintritt des Todes führte.

Es sei davon auszugehen, sagt Hürlimann, «dass unter dem Deckmantel der indirekten aktiven Sterbe­hilfe häufig Leben verkürzt wird, weil das Leben verkürzt werden soll – und nicht, weil damit in erster Linie Symptome bekämpft werden sollen. Aus Sicht des Straf­rechts sind das Tötungs­handlungen.»

Muss das Strafrecht ergänzt werden?

Aus Sicht des Strafrechts müsste die Staats­anwaltschaft somit aktiv werden. Tut sie aber nicht.

Vielleicht, weil das die Gesellschaft auch gar nicht will? Die Frage, die sich stellt: Sollen die Straf­verfolgerinnen überhaupt aktiv werden? Spielt es eine Rolle, ob mein Bruder am Donnerstag starb oder ob er erst am Sonntag darauf oder am Dienstag gestorben wäre? Oder geht es um die grund­sätzliche Frage, ob es interessiert, dass gesetzliche Grenzen ohne Konsequenzen überschritten werden?

Zweifelsohne leisten die allermeisten Pflege­fachpersonen und medizinisch Verantwortlichen eine hervor­ragende Arbeit in einer belastenden und schwierigen Situation. So manche Angehörige von todkranken Menschen sind mehr als nur dankbar, dass sie diesen Entscheid nicht selbst fällen müssen, sondern Fach­leuten überlassen können und dürfen. Das gilt auch für die vielen Patientinnen, die das Sterben nicht im Voraus planen und diskutieren wollten. Und dies bis ganz zum Schluss nicht wollen.

Müsste das Straf­gesetzbuch ergänzt werden, damit die Mitarbeiterinnen von Palliativ­abteilungen nicht mit einem Fuss in der Kriminalität stehen? In den 1990er-Jahren schlug eine vom Justiz­departement eingesetzte Arbeits­gruppe «Sterbehilfe» vor, die indirekte aktive und die passive Sterbe­hilfe im Strafgesetz­buch als «erlaubte Handlungen» innerhalb der Tötungs­delikte zu regeln. Korrekt angewandte palliative Behandlungen, die zu einem früheren Tod führen, sollten als Recht­fertigungs­grund normiert werden. Und damit straffrei bleiben.

Die Mitglieder der Arbeits­gruppe waren der Auffassung, «dass der Recht­fertigungs­grund nicht nur zur Anwendung kommen soll, wenn der Arzt eine Verkürzung des Lebens des Patienten für möglich hält, sondern auch, wenn diese Folge so gut wie sicher erscheint». Hauptziel des Arztes müsse jedoch die Milderung der Leiden durch medizinisch anerkannte Mittel bleiben. Die Verkürzung des Lebens bleibt eine Nebenwirkung.

Für Daniel Hürlimann ist dieser Vorschlag keine gute Lösung. «Tötungen zur Vermeidung eines qualvollen Todes sind nach meinem Verständnis der Medizin nur noch in ganz seltenen Ausnahme­fällen notwendig. Häufig lassen sich die Symptome mit schmerz­lindernden und die Atemnot reduzierenden Medikamenten ohne lebens­verkürzenden Effekt bekämpfen. Wenn das nicht möglich ist, steht die kontinuierliche tiefe Sedierung als letzte Massnahme zur Verfügung.»

Der Bundesrat ist einmal dafür und einmal dagegen

Bereits im Jahr 2000 sprach sich der Bundesrat in der Antwort auf einen politischen Vorstoss für eine ausdrückliche Regelung der indirekten aktiven Sterbehilfe im Straf­gesetzbuch aus. Damit folgte er dem Vorschlag der Arbeitsgruppe «Sterbehilfe».

«Die Sterbehilfe betrifft nach Meinung des Bundes­rats das Leben und damit das höchste Rechtsgut überhaupt», schrieb der Bundesrat damals. «Daher sollte die Festlegung der Grenzen zwischen erlaubter und nicht erlaubter Tötung vom demokratisch legitimierten Gesetz­geber vorgenommen und nicht den medizinischen Wissenschaften überlassen werden. Eine klare gesetzliche Grundlage böte den Vorteil, Rechts­gleichheit und Rechts­sicherheit zu gewährleisten.»

Dieser Meinung war auch der Mediziner und Nationalrat Guido Zäch, der 2001 eine gesetzliche Regelung für die indirekte aktive sowie die passive Sterbe­hilfe forderte. «Diese beiden Formen der Sterbe­hilfe sind in der Praxis durch rechtlich nicht verbindliche Empfehlungen der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften erlaubt», schrieb Zäch. «Es bestehen darum bei Ärzten und Pflegenden, bei Patienten und ihren Angehörigen sowie auch bei den Juristen oft Unsicherheiten darüber, was im konkreten Fall möglich und zulässig ist.» Um die Frage zu klären, setzte der Bundesrat erneut eine Arbeits­gruppe ein – und kam 2011 zum Schluss, dass es nun doch keine gesetzliche Regelung brauche; anders als noch elf Jahre zuvor.

In einer anderen Debatte, in der es um die Strafbarkeit der aktiven Sterbehilfe ging, wies der Nationalrat, Arzt und Medizin­professor Franco Cavalli im Jahr 2001 auf das grosse Unwissen hin, das man auch als Wegsehen interpretieren könne: «In vielen unserer stationären Einrichtungen passiert nämlich häufig oder gelegentlich – das wissen wir einfach nicht – etwa Folgendes: Ein schwerst­kranker Patient, vielleicht nicht mehr ganz bei Bewusstsein, scheint zu leiden; ohne jegliche Willens­äusserung seinerseits verschreibt ihm das Behandlungs­team Schmerz­mittel, Schlaf­mittel, mehr und noch mehr, bis die entsprechende Person für immer einschläft. Das darf nicht mehr sein in unserem Lande!»

Doch wie der Bundesrat ist auch Ludwig A. Minelli, Rechts­anwalt und Gründer der Sterbehilfe­organisation Dignitas, skeptisch einer neuen gesetzlichen Regelung gegenüber – und zitiert Montesquieu: «Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.»

Zur Frage des religiösen Aspekts: Du sollst nicht töten

Der Übergang vom Leben zum Tod ist ein religiös-kulturell stark beeinflusster Prozess. Viele Menschen in der Schweiz sind in der Sterbe­phase von christlichem Gedanken­gut geprägt; vor allem, wenn es darum geht, zu entscheiden, ob man Massnahmen zustimmt, die das Leben verkürzen.

Rechtsanwalt und Dignitas-Gründer Ludwig A. Minelli ist überzeugt davon, dass die christliche Einstellung zum selbst­bestimmten Lebensende auf einer Übersetzungs­verfälschung beruht. Minelli zitiert den Religions­forscher Eliezer Segal, der darlege, dass das hebräische Wort ratsah im hebräischen Originaltext des sechsten Gebots der Bibel nicht mit «töten» zu übersetzen sei, sondern mit «morden».

Ein wesentlicher Unterschied, den auch das Schweizerische Strafgesetzbuch macht. Mord ist eine besonders skrupellose, verwerfliche Tötung. Warum dennoch in Artikel 115 des Strafgesetz­buchs bar jeder Logik von Selbstmord die Rede ist, kann nur religions­geschichtlich erklärt werden.

Denn die Tötung war in der Bibel nicht generell verpönt. Verpönt war hingegen der Mord. Allerdings hatte eine religiöse Gruppierung (die Circum­cellionen), die sich vor allem aus Sklaven und Unfreien zusammen­setzte, im 5. Jahrhundert die Selbst­tötung als Abkürzung zum Paradies entdeckt, was, wie es Minelli beschreibt, «eine erhebliche Lücke in die Aktiva der Bilanzen ihrer Herren riss». Dies wiederum habe Augustinus bewogen, folgenden Satz zu verfassen: «Wer sich selbst tötet, ist ein Mörder.» Damit war für die Rechtlosen die Abkürzung zum Paradies versperrt, das Eigentum der Sklavenhalter geschützt.

«Ja, die Parallelisierung von Suizid und Homizid geht auf Augustinus zurück», sagt auch Felix Gmür, Bischof der Diözese Basel. Die Bibel selbst urteile nicht über die Selbst­tötung, beschreibe nur die Umstände und den Zweck. Und genau darauf komme es letztlich an: mit welcher Absicht, unter welchen Umständen welcher Zweck zu erreichen versucht werde. Insofern ist aus der Sicht des Bischofs auch der Begriff Sterbehilfe problematisch. Hilfe werde immer mit etwas Positivem in Verbindung gebracht. «Eine Medikation, die das Risiko beinhaltet, dass ein Mensch daran stirbt, kann nur dann als Hilfe bezeichnet werden, wenn dieses Risiko einzig und allein eingegangen wird, um unnötiges Leiden der Sterbenden zu vermeiden. Werden andere Ziele verfolgt, ist es keine Hilfe.»

Es müsse deshalb die Haltung im Vorder­grund stehen: einen Menschen würdig, ohne Schmerzen sterben zu lassen.

Minelli vertritt die Auffassung, dass man mit einer gesetzlichen Regelung in Teufels Küche geriete. Denn diese könne vernünftigerweise nur aus einem Satz bestehen, der die heutige Praxis aufzeige: «Wird jemand palliativ­medizinisch behandelt, darf der Arzt dem Patienten auch solche Medikamente verschreiben, die möglicher­weise dessen Lebenszeit verkürzen, sofern sie in der Absicht verschrieben werden, dem Patienten die Lebens­situation, in der er sich befindet, zu erleichtern.»

«Jede weitergehende Regelung», sagt Minelli, «führt zu Lücken und Unsicherheiten.»

Neue Vorstösse betreffen bloss die Finanzierung

Im Oktober 2020 schliesslich wurde im Ständerat eine Motion für eine angemessene Finanzierung der palliativen Pflege­leistungen eingereicht. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats hat damit ein wichtiges Problem aufgenommen. Wer am Lebensende auf Pflege angewiesen ist, soll überall in der Schweiz bedarfs­gerechte Unter­stützung erhalten. Der Ständerat verlangt, dass der Bundesrat die entsprechende gesetzliche Grundlage dafür schafft. Geklärt werden sollen vor allem die Definition von palliativen Pflege­leistungen, die Tarifierung und Vergütung sowie die Finanzierung.

Hingegen hat es der Ständerat verpasst, die Situation auch strafrechtlich zu klären. Und dies, obwohl die Studie von Bosshard, Hurst und Puhan nachweist, dass mehr als 3 Prozent der Fälle von aktiver Sterbehilfe – die ja in der Schweiz verboten ist – im Rahmen einer palliativ­medizinischen Betreuung geschahen. Die Schweiz bewegt sich damit weiter in einem Graubereich. Eine höchst unangenehme Situation für Ärztinnen und Pfleger, Richterinnen und Staats­anwälte – aber auch für die Sterbenden und deren Angehörige.

Ob der Nationalrat den Klärungs­bedarf erkennen wird? Die Nationalrats­kommission wird die Motion aus dem Ständerat gemäss Kommissions­präsidentin Ruth Humbel im zweiten Quartal dieses Jahres behandeln.

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