Noch ist die Luft nicht ganz raus: Der «Tag der FDP» in Sursee (August 2015). Kostas Maros/13 Photo

Das Ende einer Ära

Die Covid-Krise beschleunigt, was längst begonnen hat: Die FDP schrumpft. Weil sie unterschätzt, wie zukunfts­gerichtet weite Teile des Landes denken. Mit dem Aufstieg der GLP hat die Schweiz erstmals in der Geschichte die Chance auf eine progressive Mehrheit in Bern. Eine Prognose.

Von Olivia Kühni, 03.05.2021

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Die SVP, mit ihrem untrüglichen Instinkt für die Ängste der Menschen, traf mitten ins Schwarze. Sollten die freisinnigen Bundesräte sich in ihrem Gremium nicht sofort für Öffnungen einsetzen, würde man sie abwählen, drohte Marco Chiesa kürzlich auf dem üblichen Weg über die «SonntagsZeitung». Interessant ist, was er danach sagte: Ansonsten könnten genauso gut die Grün­liberalen im Bundesrat vertreten sein.

Das hat er nicht einfach so dahingesagt.

Noch weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit bahnt sich in diesem Land ein epochaler politischer Richtungs­wechsel an: der Aufstieg einer progressiven Allianz aus Teilen von Grünen, SP und einer massiv erstarkten GLP, die das Land reformieren wird – und das endgültige Schrumpfen der FDP zum Rumpf einer grelleren Rechten.

Es ist ein Umbruch, der sich seit Jahren abzeichnet. Jeder, der Menschen im Mittelland und in den stadtnahen Regionen kennt, der weiss, dass sie viel zukunfts­gerichteter denken, als man annimmt, hat ihn kommen sehen.

Und wie es Krisen so oft tun, wird die Covid-Krise diesen Umbruch massiv beschleunigen.

Vergessen Sie den verzweifelten Aufruf in der NZZ, die FDP möge doch «um Gottes willen etwas Tapferes» tun – passenderweise illustriert mit einem ratlosen blauen Luftballon. Vergessen Sie ihre Versuche, in der Schweiz ständig eine einzige liberale Grossfamilie zu beschwören, in der sich alle doch irgendwie einig sind. Die FDP hatte in diesem Land lange genug ein Kartell. Und der grösste, befreiendste Effekt einer Kartell­sprengung besteht darin, dass endlich nicht mehr alle eine Position zu vertreten haben. (Und sich dabei nicht vom Fleck bewegen.)

Es gibt in diesem Land Interessen­unterschiede, es gibt Arbeit zu tun, und es ist höchste Zeit, dass beides nicht mehr von diesem mythologisierenden Gesäusel überdeckt wird. Wenn es noch etwas brauchte, um das endgültig allen offen vor Augen zu führen, dann war das die Debatte um die Covid-Wirtschafts­hilfen im Parlament.

SP und GLP machen Wirtschaftspolitik, die FDP blockiert

Während SP und GLP früh und schattenlos für möglichst sofortige und bürokratie­freie Wirtschafts­hilfen und Entschädigungen eintraten – für ein Krisen­programm wie aus dem Lehrbuch also – beschränkten sich SVP und FDP aufs Zögern, Zaudern und Klagen.

Besonders peinlich eskalierte vor einigen Wochen die Frühjahrs­session. Statt über die längst überfälligen Wirtschafts­hilfen zu diskutieren, blockierten Parlamentarierinnen aus SVP und FDP die Arbeit mit Maulkorb­forderungen an die wissenschaftliche Taskforce, mit Briefen an den Bundesrat und mit ihrem Mangel an Logik: So wollten FDP-Vertreter in der Kommissions­arbeit beispiels­weise gleichzeitig ein verbindliches Ampel­system und ein ebenso verbindliches Öffnungs­datum für die Gastronomie ins Gesetz schreiben.

Diese und einige weitere Stunts brachten letztlich wenig, ausser mehr Bürokratie – banden bis dahin aber allerlei Energie und Gelder, die anderswo dringender benötigt würden. Dass dann jeweils auf anderen Kanälen gleichzeitig wieder gerne der überbordende Staat kritisiert wird, setzt dem Ganzen die Pointe.

Eine ähnliche Dynamik lässt sich schon länger auch auf anderen Feldern beobachten.

GLP-Parlamentarierinnen kämpfen gemeinsam mit Grünen und SP seit Jahren für eine weniger schädliche – und gleichzeitig auch weniger teure – Agrarpolitik: «Wir subventionieren unsere eigene Umwelt­zerstörung», sagte GLP-National­rätin Kathrin Bertschy vor wenigen Wochen im Rat. Der Anlass für ihr Votum? FDP-Parlamentarier hatten soeben den Bauern­vertreterinnen im Parlament dabei geholfen, die mühsam errungene Agrar­reform AP 22+ zu kippen. «Ich habe in der Agrarpolitik ja schon einiges erlebt, der heutige Tag übertrifft es wieder mal», twitterte Bertschy danach. «Der Bauern­verband blockiert die Agrarreform und die FDP/Liberalen machen dabei auch noch mit – und brechen ihre ökologischen Wahl­versprechen. Quo vadis?»

Das Entgegenkommen der FDP war ihre Schuld­begleichung an den Bauern­verband – dafür, dass er seinerseits der Economie­suisse im Herbst dabei geholfen hatte, die Konzern­verantwortungs­initiative zu versenken. Eine Abstimmung übrigens, für die die GLP – auch hier wieder – die Ja-Parole beschlossen hatte.

Dasselbe Muster zeigt sich auch andernorts: Bei der Altersvorsorge etwa, wo die GLP letzte Woche gemeinsam mit der SP darauf pochte, dass eine allfällige Erhöhung des Frauenrentenalters mit einer Besserstellung bei der 2. Säule kompensiert würde. Oder beim Umstand, dass die GLP Ja sagt zur Trinkwasser­initiative, dass ihre Vertreter gemeinsam mit anderen das Referendum gegen das Anti-Terror-Gesetz PMT ergriffen, die GLP Schweiz Nein sagte zum Einsatz von Sozial­detektivinnen – und es Nationalrätin Bertschy war, die im Parlament die Initiative zur «Ehe für alle» einreichte.

Besonders drastisch ist der Unterschied zur FDP bei der städtischen Verkehrs­politik: Während die GLP es zum offiziellen Hauptziel erklärt hat, den Autoverkehr «in erster Linie zu vermeiden» und in zweiter «auf effizientere Verkehrs­mittel wie den Velo- und Fussverkehr zu verlagern», will die FDP beispiels­weise mitten in der Stadt Zürich eine Autobahn­brücke über das Flussbad Letten bauen.

«Die FDP versteht die Städte nicht»

Das Bild ist selbstverständlich bunter – gerade in den urbanen Zentren der Schweiz gibt es viele FDP-Vertreter, die deutlich offener und kreativer sind als die nationale Partei. «Die FDP versteht die Städte nicht», sagte FDP-National­rat Kurt Fluri denn auch vor wenigen Wochen in der NZZ, und er hat recht damit. Öffentlicher Verkehr, Velowege, dezentrale Energie, Kinder­betreuung, Tages­schulen, gar eine Reform der Sozial­werke hin zu einer Art unbürokratischem Grund­einkommen in der Not: Das alles hätten FDP-Projekte sein können. Das sind keine Nischen­interessen zur Umverteilung, sondern klassisch liberales Gebiet: eine zeitgemässe staatliche Infrastruktur.

Doch die Partei entschied sich dagegen – und rückte stattdessen in den Raum rechts der Mitte vor, den die immer grellere SVP ihr in den letzten dreissig Jahren freimachte. Auch die GLP selber war zu Beginn mit Gründer Martin Bäumle konservativer, als sie es heute ist. «Grün und sparsam», wie Politgeograf Michael Hermann jüngst der «NZZ am Sonntag» sagte. «Heute hat sie sich als progressive Mitte-links-Partei etabliert.»

Diese Kombination – der Rechts­rutsch der FDP und die Geburt der Grün­liberalen – ist staatspolitisch ein Gewinn.

Denn wie gesagt: Es gibt Interessen­konflikte, es gibt politische Werte, und die Bürgerinnen verdienen eine ehrliche Auswahl. Ein typisches heutiges GLP-Profil (Infrastruktur, Wirtschafts­politik, Grundrechte) hat mit einem «Freisinn blocherscher Prägung», mit dem zum Beispiel 2014 der heutige SVP-Nationalrat Roger Köppel der «NZZ» einen neuen Chefredaktor empfahl – beinahe wäre es Markus Somm geworden –, nichts gemeinsam. Und das ist gut so.

Zehntausende Stimmen

Es geht also beim Aufstieg der GLP um viel. Die Partei beseitigt ein Vakuum, in dem zuvor Hundert­tausende progressive Wählerinnen im Land keine politische Heimat mehr hatten. Sie waren es, die bei den nationalen Wahlen 2019 zu Zehntausenden an die Urnen strömten: 26 Prozent der damaligen GLP-Wähler hatten gemäss der SRG-Nachwahl­befragung zuvor seit Jahren nicht mehr gewählt. 8 Prozent wechselten von der FDP. Das Profil der Wählerinnen: sehr gute Ausbildung, mittleres bis hohes Einkommen.

Die GLP ist keine linke Partei. Es gibt Anliegen, die die Linke treffender vertritt. Auch die Ästhetik ist eine andere: Die GLP ist nüchterner, näher an der Wissenschaft, fast schon radikal frei von Nostalgie. Aber die Schnitt­menge ist, gerade in den Städten, gross genug, dass sie Sprengkraft hat.

Wir haben es hier nicht bloss mit einer «grünen Welle» zu tun. Sondern mit der potenziellen Neuordnung der politischen Landschaft in ein Lager, das eine Zukunft entwirft, und eines, das weiterwursteln und Privilegien verteilen will wie bisher. Dazu passt – auf den ersten Blick paradoxer­weise –, dass die GLP in der Romandie deutlich schleppender wächst. Dort ist die FDP progressiver, die Grünen gelten als gemässigter – und die GLP wirkt entsprechend weniger eigenständig. So analysierte es Isabelle Chevalley, damals die einzige GLP-National­rätin aus der Romandie, vor den Eidgenössischen Wahlen 2019. Dass die dann trotzdem zwei weitere Sitze holte – einen in Genf, einen in der Waadt – zeigt aber: Das Potenzial ist da.

Mitten in der Pandemie ging die Sortierung denn auch weiter: Bis zum 8. März hatte die GLP an kantonalen Wahlen 24 Sitze dazugewonnen, wie der Politik­berater Mark Balsiger jüngst vorrechnete. Mehr legten nur die Grünen (30 Sitze) zu. Und die FDP? Den grössten Verlust aller Parteien: minus 20 Sitze. Selbst in Kurt Fluris Kanton Solothurn, wo die FDP stärkste Partei ist und traditionell als eine der konstruktivsten und besonnensten der Deutsch­schweiz gilt, verlor sie im März im Kantons­rat 6 ihrer zuvor 28 Sitze, dafür gewannen GLP und SVP je drei dazu – deutlicher könnte die Spaltung nicht sichtbar werden.

In den Städten ist die Bilanz noch düsterer. Ob Basel, St. Gallen, Bern, Schaffhausen oder Baden – die FDP verlor in den letzten Monaten und Jahren fast überall. 1983 hielt die FDP in Städten mit mehr als 100’000 Einwohnern noch 31 Prozent aller Regierungs­sitze, wie die BZ vorgerechnet hat. Heute sind es noch 14 Prozent. Und die SP ist mit 40 Prozent die unangefochtene Herrin der Städte, gefolgt von den Grünen. In Basel-Stadt allerdings jagte die Grün­liberale Esther Keller der Linken diesen Winter einen Regierungs­sitz ab.

«Wenn die SVP reine Oppositions­politik betreiben will, sollte sie konsequent sein und aus dem Bundesrat austreten», antwortete FDP-Präsidentin Petra Gössi dem SVP-Kollegen Chiesa auf seine Provokation. Sie zeigte damit Rückgrat. Das tat sie bereits 2019, als sie ihre Partei zu einer Kehrtwende beim CO2-Gesetz zwang – weil sie überzeugt war, dass ihre Basis grüner denkt als ihre Parlamentarierinnen.

Nützen wird es nichts mehr: «Unser Ziel ist ein Bundesrats­sitz», sagte GLP-Präsident Jürg Grossen vor wenigen Wochen der «NZZ am Sonntag». «Im Optimalfall schon nach den Wahlen 2023.» Von welcher Partei der Sitz kommen soll, liess er offen. Und ergänzte: «Mathematisch ist heute aber sicher die FDP übervertreten.»

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