Zukunftsmusik
Lässt sich eine Schwangere ärztlich untersuchen, prallen zwei Welten aufeinander: Die Gynäkologin sucht medizinische Antworten, die Patientin sucht nach Sinn.
Von Camille Henrot (Kunst und Text), Antje Stahl (Redaktion), Theresa Hein (Übersetzung) und Mauro Hertig (Sound), 01.05.2021
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Als ich schwanger war, experimentierte ich damit, schweres Papier in Wasser einzutauchen, bevor ich mit Tinte darauf zeichnete. Die dabei entstandenen Bilder erinnerten an Fotografien, genauer: an jene Art medizinischer Abbildungen, die man als Sonografien oder Ultraschallbilder bezeichnet.
Bei einer Ultraschalluntersuchung werden Schallwellen (auch: Echos), die für unsere Ohren nicht wahrnehmbar sind, in Bilder von unseren inneren Organen übersetzt – von jenen Teilen des Körpers, die sonst unsichtbar blieben. Mit einem Ultraschall soll festgestellt werden, ob eine Eizelle befruchtet wurde und sich im Uterus eingenistet hat. Mit anderen Worten, ein Ultraschall kann feststellen, ob frau schwanger ist oder nicht. Aber er zeigt auch, ob der Embryo Anomalien aufweist, ob das Risiko mentaler oder körperlicher Beeinträchtigungen oder sogar eines Aborts besteht.
Ich habe die Serie «Soon» getauft, «Bald». Die Zeichnungen sind inspiriert von der Ambiguität, die ein Ultraschallbild bietet. Es ist schwierig, zwischen Abstraktion und Repräsentation zu unterscheiden – zwischen der Ab- und der Anwesenheit von Leben. Manche der Zeichnungen zeigen nichts ausser einer blanken, wässrigen Farbfläche, auf anderen erkennt man monströse oder deformierte Figuren.
In ihrem Buch «Psychologie et psychiatrie de la grossesse» beschreiben Luis Alvarez und Véronique Cayol, wie die Patientin während der Untersuchung im Behandlungsraum liegt: halb nackt in einer horizontalen und passiven Position, gespannt darauf, was der Arzt wohl zu sagen hat. Alvarez und Cayol weisen darauf hin, dass alles, was das medizinische Personal tut – vom Gesichtsausdruck über den Ton der Stimme bis hin zur Wortwahl –, anfällig ist für Überinterpretation durch die Patientin. «Der Arzt und die schwangere Frau stammen aus verschiedenen Welten», so Alvarez und Cayol. Mediziner suchen Aufschluss über den gesundheitlichen Zustand des Kindes, die Patientinnen dagegen nach der Bedeutung dessen, was sie da sehen.
In einem frühen Stadium meiner Schwangerschaft erkannte der Arzt eine Nierenfehlbildung auf dem Bildschirm. Im Gegensatz zu ihm konnte ich die Bilder nicht medizinisch einordnen – sie waren blosse Abstraktionen. Alvarez und Cayol sprechen von einem Konflikt zwischen dem Bild der Wissenschaft und dem enfant imaginaire – dem imaginären Kind. Einem Kind, das in unseren Köpfen heranwächst, auch wenn wir es niemals zur Welt bringen. Das enfant imaginaire ist das Traumkind, das wir uns ausmalen, wenn wir klein sind, sobald wir verstehen, dass wir eines Tages ebenfalls erwachsen sein werden. Dieses Kind bleibt für immer ungeboren.
Mein Sohn Iddu reagierte auf den Ultraschall häufig so, dass es aussah, als versuchte er, vor der Klang-Kamera zu fliehen. Ich konnte seinen Wunsch, unsichtbar bleiben zu wollen, nachempfinden; seinen Unwillen, in diesem schwarzweissen oder sepiafarbenen Überwachungsmaterial aufzutauchen, das von ihm angefertigt wurde.
Die Echos aus dem Ultraschall lassen mich an den Mythos der Nymphe Echo denken, wie er zum Beispiel in Ovids «Metamorphosen» erzählt wird: Zeus trug der Nymphe Echo auf, seine Frau Hera mit Geschichten zu unterhalten, weil er sich mit anderen Frauen amüsieren wollte. Hera kam hinter Zeus’ Plan und beraubte Echo ihrer Fähigkeit zu sprechen. Zur Strafe sollte Echo fortan nur noch die letzten Worte ihres Gegenübers wiederholen können. Echo konnte Narziss nicht sagen, dass sie ihn liebte – und er wies sie ab, wie alle anderen, die sich in ihn verliebt hatten. Die Nymphe zog sich mit gebrochenem Herzen in eine Höhle zurück, verweigerte das Essen. Sie siechte dahin, und ihre Knochen wurden zu Stein. Was blieb, war ihre Stimme – ihr Echo. Liebe und Kommunikation sind in dieser Geschichte zum Scheitern verurteilt.
Echos und Imitationen haben auch in die Kunst von Iddus Vater Eingang gefunden, des Komponisten Mauro Hertig. In seinem Stück «Mum Hum» platziert Mauro jeweils eine Gruppe von Musikern an den beiden Enden eines Dosentelefons. Während die Musiker auf der einen Seite aus der Partitur spielen, wie bei jedem gewöhnlichen klassischen Konzert, lauscht die andere Seite, imitiert die Klänge der Absender und kreiert so eine permanente Abfolge von Echos. Wie im Kinderspiel «Stille Post» werden die Melodien der Absender verzerrt und verfälscht, bis am Ende nur noch ein Strom aus Gemurmel und Pfeiftönen übrig bleibt.
Ausschnitte aus «Mum Hum», aufgenommen vom Ensemble Garage Köln, Nina Guo und Mauro Hertig.
Inspiriert von dem, was ein ungeborenes Kind im Mutterleib hört, schafft «Mum Hum» ein Setting, in dem die eine Seite des Telefons die Aussenwelt repräsentiert und die andere Seite die Geräuschkulisse des Fötus widerspiegelt: gedämpfte Sprache, erstickte Melodien. Der Körper der Mutter, der wächst und den Fötus schützt, entpuppt sich als Fälscher der Klänge von aussen: Er filtert sie durch Schichten von Haut, Fett und Flüssigkeit, bevor sie das Ohr des Fötus erreichen. Was das ungeborene Kind erreicht, ist also immer lediglich ein Echo der Aussenwelt.
Mauro Hertigs Komposition «Mum Hum», aufgenommen mit dem Ensemble Garage für WDR 3, wurde am 23. April zum ersten Mal ausgestrahlt und ist für 30 Tage online verfügbar. Bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik im April 2022 wird es live aufgeführt.
Das Werk der französischen Künstlerin Camille Henrot wurde unter anderem mit dem Silbernen Löwen auf der 55. Biennale Venedig ausgezeichnet. Die Geburt ihres Sohnes und die Konfrontation mit der neuen, sogenannten Mutterrolle lösten widersprüchliche Gefühle in ihr aus, mit denen sie sich intellektuell und künstlerisch auseinandersetzt. Zurzeit lebt Henrot mit ihrem Lebenspartner, dem Schweizer Komponisten Mauro Hertig, und ihrem Sohn Iddu in Berlin.