Briefing aus Bern

Frauen pochen auf gerechte Renten, Arme leiden mehr unter Corona – und Nest­wärme im Bundeshaus

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (144).

Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler und Cinzia Venafro, 29.04.2021

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Wagen wir ein Gedanken­experiment: Stellen Sie sich vor, Ihre Renten­gelder steckten in Spar­strümpfen – einer für die AHV, einer für die Pensions­kasse. Beide haben Löcher. Und die Löcher werden immer grösser.

Wir müssen die Löcher stopfen, ruft die Politik von links bis rechts. Und das schon lange: Bereits über 20 Jahre dauert die Suche nach einer mehrheits­fähigen Lösung zur Sanierung der Alters­vorsorgewerke.

Zuletzt scheiterte 2017 Innen­minister Alain Berset mit einer Vorlage an der Urne, die das AHV- und das Pensions­kassen-System in einem Aufwasch reformieren sollte. Bachab geschickt wurde das Geschäft vor allem von Frauen und den Jungen, die unverhältnis­mässig stark hätten bluten müssen. Berset hatte beide Socken gleich­zeitig flicken wollen – und blieb auf zwei Löchern sitzen.

Jetzt gibt es einen neuen Rettungs­plan – dabei soll eine Socke nach der anderen gestopft werden. Zuerst ist die AHV dran. Der Ständerat hat der neuen Vorlage bereits zugestimmt. Doch nun verlangt der über­parteiliche Dach­verband Alliance F, der mehr als 100 Frauen­organisationen vertritt, beide Socken seien parallel zu flicken – nicht zu einer Vorlage verknüpft wie 2017, aber zeitgleich.

Das Problem ist nämlich: Frauen haben viel weniger in der Pensions­kassen-Socke als Männer. «Die fehlenden oder tiefen Pensions­kassen­renten führen dazu, dass die Frauen nach ihrer Pensionierung im Schnitt 37 Prozent tiefere Renten­einkommen als Männer haben», sagt Maya Graf, grüne Baselbieter Stände­rätin und Co-Präsidentin von Alliance F. Darum ist es für sie «undenkbar», das Loch in der AHV-Socke durch die Erhöhung des Frauen­alters zu stopfen, ohne gleichzeitig den «System­fehler» in der zweiten Säule zu beheben.

Dieser Systemfehler liegt im sogenannten Koordinations­abzug. Erst ab 25’000 Franken Einkommen ist jemand pensions­kassen­pflichtig. Das Resultat: Wer in einem kleinen Pensum oder zu einem tiefen Lohn arbeitet – das betrifft mehrheitlich Frauen –, hat keine oder eine sehr tiefe zweite Säule.

Um in der Analogie zu bleiben: Die Frauen sollen die AHV-Socke stopfen, indem sie länger arbeiten, während viele von ihnen kaum Geld in der Pensions­kassen-Socke haben – und darum dort auch nicht viel verlieren können.

SP-Co-Präsidentin und National­rätin Mattea Meyer hat darum in der Sozial­kommission den Antrag eingereicht, die Frauen­renten­erhöhung erst dann zu behandeln, wenn es auch einen anständigen Plan für Teilzeit­erwerbende und ihre zweite Socke gibt. Unter­stützung erhält sie von der GLP. FDP und SVP hingegen wollen das nicht. Für FDP-National­rat Damian Müller etwa kommt «eine Koppelung der beiden Vorlagen nicht infrage». Die Fronten sind verhärtet, und so wird am Ende wohl die Mitte-Fraktion das Zünglein an der Waage spielen. Allerdings zeigt Ruth Humbel, Präsidentin der Sozial­kommission des National­rats, wenig Gehör für ihre Geschlechts­genossinnen: «Wenn über zwei derart umstrittene Vorlagen zusammen abgestimmt wird, kumuliert das nur die Zahl der Gegner.»

Im Sommer wird der Nationalrat über die Zukunft der Alters­vorsorge streiten. Sicher ist: Die Löcher werden bis dahin nicht kleiner.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Rahmen­abkommen: Wieder keine Einigung

Worum es geht: Am Freitag kam es in Brüssel zum Minister­treffen auf höchster Stufe. Bundes­präsident Guy Parmelin wollte mit EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen im vertrackten Dossier des institutionellen Rahmen­abkommens einen Schritt voran­kommen. Die Ernüchterung danach war gross: Die Differenzen mit der EU seien «fundamental», sagte Aussen­minister Ignazio Cassis: «Der Knackpunkt der Differenzen mit der EU ist die unter­schiedliche Auslegung der Personen­­freizügigkeit.» Ebenfalls nicht einig wurde man sich bei den flankierenden Massnahmen, also dem Lohnschutz.

Warum Sie das wissen müssen: Der vorliegende Vertrags­entwurf gilt innen­politisch weit­gehend als tot. Und so stellt nun auch Cassis klar, dass «ohne zufrieden­stellende Lösungen» beim Lohn­schutz und bei der Auslegung der Personen­freizügigkeit das «Abkommen nach Ansicht des Bundes­rates nicht ausgewogen» sei.

Wie es weitergeht: Der Ball liege nun klar bei der EU, sagt Ständerat Christian Levrat. Er beschwichtigt, dass ein Abbruch dieser Verhandlungen nicht zu einem «Brexit à la Schweiz» führen werde. Und so fordert die Aussen­politische Kommission des Ständerats im Gegen­satz zu jener des Nationalrats keine weiteren Verhandlungen vom Bundesrat. Ein Total­schaden beim Rahmen­abkommen scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.

Armut: Covid zeigt, wie gross die Schere wirklich ist

Worum es geht: Die Corona-Pandemie trifft wirtschaftlich schlechter­gestellte Menschen härter. Dies zeigt eine neue Studie des Berner Epidemiologie-Professors und ehemaligen Taskforce-Präsidenten Matthias Egger. So mussten vom ärmsten Zehntel der Schweizer Bevölkerung doppelt so viele Personen auf Intensiv­stationen behandelt werden wie von den reichsten 10 Prozent – und sie sterben auch häufiger an oder mit Covid. Dieser Unter­schied bleibt auch dann bestehen, wenn man das Alter oder das Geschlecht aus den Zahlen herausrechnet.

Warum Sie das wissen müssen: Die Pandemie verschärft die bestehenden Ungleich­heiten in der Gesellschaft. Ärmere Menschen sind oft auch weniger gesund, leben in beengten Verhältnissen und haben weniger Möglichkeiten, im Homeoffice zu arbeiten – was zu mehr Infektionen, schlimmeren Verläufen und mehr Todes­fällen führt. Wie Menschen durch die Pandemie in der Schweiz in der Armuts­falle landen, zeigt exemplarisch der Fall einer jungen Frau, den der «Tages-Anzeiger» beschrieb: Die Mutter verlor die Putzstelle, die Unter­mieterin musste wegen Corona ausziehen, die Einkünfte fielen von einem Tag auf den anderen weg.

Wie es weitergeht: Die Hilfs­organisation Caritas ist gefordert wie nie zuvor. So haben im Corona-Jahr 2020 rund 10’000 Hilfe ­suchende Menschen Beratungen in Anspruch genommen. Zudem bereitet das Test­verhalten der ärmeren Bevölkerung Expertinnen Kopf­zerbrechen: Reichere Menschen lassen sich deutlich öfter testen als ärmere – und können so Infektions­ketten unter­brechen. Manche Menschen hingegen würden sich nicht testen lassen, «um nicht in Quarantäne gehen zu müssen und ihren Verdienst zu verlieren», sagt Caritas-Sprecherin Lisa Fry. Dies führe zu einem Teufelskreis.

Kranken­versicherung: Bundes­rat will Kinder schützen

Worum es geht: Kinder sollen nicht länger für die nicht bezahlten Kranken­kassen­­prämien ihrer Eltern haftbar gemacht werden können. Der Bundesrat will zudem die «schwarzen Listen» abschaffen, auf denen einige Kantone säumige Versicherte an den Pranger stellen – mit der Konsequenz, dass die Betroffenen dann nur noch Notfall­­behandlungen in Anspruch nehmen können.

Warum Sie das wissen müssen: Seit der Revision des Kranken­versicherungs­gesetzes im Jahr 2011 können Kantone «schwarze Listen» führen. Inzwischen tun das aber nur noch der Aargau, Luzern, Thurgau und Zug. Mehrere andere Kantone haben solche Listen wieder abgeschafft, zuletzt St. Gallen im Februar. Gegen Listen säumiger Versicherter spricht sich nun auch der Bundesrat aus: Nicht nur, weil ihr Nutzen nie habe nach­gewiesen werden können, sondern auch, weil die Listen «die medizinische Grund­versorgung der Versicherten in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen beeinträchtigen könnte». Bekannt ist etwa der Fall eines Mannes mit HIV-Infektion, der 2017 starb, weil sich seine Kranken­kasse weigerte, die medizinische Behandlung zu übernehmen – er hatte offene Betreibungen und stand auf einer «schwarzen Liste». Schon damals sagte Gesundheits­­minister Alain Berset: «Man sieht jetzt ziemlich brutal, dass diese Listen nicht funktionieren.»

Wie es weitergeht: Über die Vorschläge, die teilweise auf einen Bericht der stände­rätlichen Gesundheits­kommission zurück­gehen, werden der National- und der Ständerat befinden. Die «schwarzen Listen» dürften kontrovers diskutiert werden. In der Kommission jedenfalls hat der Wind gedreht: Im letzten Sommer sprach sich noch eine Mehrheit für die Abschaffung aus, nun will eine Mehrheit den Kantonen aus föderalistischen Über­legungen das Führen der Listen doch weiterhin ermöglichen.

Premiere: Erste Strategie zur Gleich­stellung der Geschlechter

Worum es geht: Der Bundesrat ist sich bewusst, dass er einen historischen Schritt macht, und betont darum: «Es ist die erste nationale Strategie des Bundes mit dem Ziel, die Gleich­stellung der Geschlechter gezielt zu fördern.» Vier Themen stehen im Fokus: Gleich­stellung im Erwerbs­leben, bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Prävention von Gewalt sowie Bekämpfung von Diskriminierung.

Warum Sie das wissen müssen: Die Gleich­stellung von Frau und Mann ist in der Bundes­verfassung seit 1981 festgeschrieben. «Trotzdem ist die Gleich­stellung in der Schweiz noch nicht erreicht», hält der Bundesrat fest. Frauen würden im Durch­schnitt 19 Prozent weniger verdienen als Männer. Und: «Über 55 Mal pro Tag wird eine Straftat im häuslichen Bereich begangen, in 70 Prozent der Fälle ist das Opfer weiblich.»

Wie es weitergeht: Die Themen wurden mit den Kantonen gemeinsam erarbeitet, nun macht der Bund auch Druck auf die Gemeinden – man will Interessen­gruppen vor Ort an Bord holen. Bis Ende Jahr wird die Strategie mit einem detaillierten Massnahmen­plan konkretisiert. Ende 2025 soll eine erste Zwischen­bilanz vorliegen.

Drogenpolitik: Bundes­rat stellt Jugendliche ins Zentrum

Worum es geht: Der Bundesrat will die Schweizer Drogen­politik künftig vermehrt auf Substanzen ausrichten, die Jugendliche in der Freizeit konsumieren. Dazu zählt er vor allem Cannabis.

Warum Sie das wissen müssen: Anders als zu Zeiten der offenen Drogen­szenen in den 1990er-Jahren gehe es heute meist nicht um schwere Formen der Abhängigkeit, schreibt der Bundesrat in einem diese Woche verabschiedeten Bericht. Jetzt stünden Freizeit­drogen wie Cannabis, Kokain oder Ecstasy im Vorder­grund, bei denen vor allem exzessiver Konsum oder die Kombination mit Alkohol zu Problemen führe. Deshalb will der Bundesrat die Gesundheits­förderung und die Prävention insbesondere in der frühen Kindheit verstärken und mehr Instrumente zur Früh­intervention schaffen. Zudem sollen Vor- und Nachteile des geltenden Sanktions­­systems geprüft werden: Denn Straf­massnahmen hätten «kaum eine abschreckende Wirkung» auf die Konsumentinnen und Konsumenten, stellen jedoch ein Hindernis «für die Betreuung und Resozialisierung» dar. Ein vom Bundesrat in Auftrag gegebener Bericht hatte 2017 ergeben, dass das Ordnungs­bussen­verfahren – seit 2013 können erwachsene Cannabis-Konsumierende 100 Franken bezahlen und so einer Verzeigung entgehen – die Ungleich­behandlung vor dem Gesetz verstärkte.

Wie es weitergeht: Der Erfolg der neu ausgerichteten Sucht- und Drogen­politik hänge im Wesentlichen von ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz ab, schreibt der Bundesrat. Sie werde inter­national wie auch in der Schweiz umstritten bleiben, weil es nicht nur um die Bewältigung eines Problems der öffentlichen Gesundheit gehe, sondern um fundamentale Fragen – etwa das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgerinnen, Eigen­verantwortung und Solidarität.

Aussendepartement: Keine Koopera­tionen mehr mit Glencore und Philip Morris

Worum es geht: Seit Anfang Jahr gelten beim Schweizer Aussen­departement EDA strengere Richt­linien für die Zusammen­­arbeit mit Sponsoren. Nun wird es konkret: Führte das EDA auf der Liste seiner privaten Partner für das Jahr 2020 noch 83 Firmen auf, sind es 2021 gemäss «NZZ am Sonntag» nur noch 36.

Warum Sie das wissen müssen: Mehrfach gerieten Aussen­minister Ignazio Cassis und die EDA-eigene Image­behörde «Präsenz Schweiz» in den letzten Jahren in die Kritik, weil sie eng mit umstrittenen Firmen kooperierten. Am heftigsten 2019, als sie sich die Feier zur Eröffnung der neuen Botschaft in Moskau vom Tabak­multi Philip Morris bezahlen liessen und sich den Schweizer Pavillon an der Welt­ausstellung in Dubai sponsern lassen wollten. Wie Recherchen der Republik zeigten, setzte sich das EDA damals im Gegenzug für Philip Morris ein, als sich der Tabak­­konzern beim Gesetz­gebungs­­prozess in der Republik Moldau benachteiligt fühlte. Nun gehen Schweizer Botschaften keine Kooperationen mehr ein mit Firmen aus der Tabak-, Rohstoff- und Rüstungs­branche: Leidtragende sind neben Philip Morris beispiels­weise Glencore und die Ruag. Unwahrscheinlich wäre gegenwärtig auch eine Sponsoring-Partnerschaft mit dem Schokolade­produzenten Läderach, der regelmässig kritisiert wird, weil sein CEO ein radikaler Abtreibungs­gegner ist. «Wenn der Ruf einer Firma leidet, ist kein positiver Image­transfer möglich», sagt «Präsenz Schweiz»-Chef Nicolas Bideau dazu.

Wie es weitergeht: Die neuen Richt­linien dürften nicht zuletzt zum Ziel haben, im Hinblick auf die Gesamt­erneuerungs­wahl des Bundes­­rats im Dezember 2023 eine Quelle der Kritik an Aussen­minister Cassis zum Versiegen zu bringen. Denn die FDP bangt um einen ihrer zwei Sitze – und gegenüber Cassis hat Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter gegen­wärtig wohl die Nase vorn.

Nestbau der Woche

Nationalratspräsident Andreas Aebi (SVP) ist als ehemaliger Landwirt nicht nur dem Rindvieh verbunden, als passionierter Ornithologe hat er auch ein Herz für Vögel. Und darum hat er angeregt, am Bundes­haus Nist­hilfen für Alpen- und Mauer­segler anzubringen. Diese Zugvögel sind in der Schweiz geschützt und bauen ihre Nester am liebsten an Gebäuden. Und so liess sich der höchste Schweizer am Montag per Kran unters Dach des Bundes­hauses hochfahren, um eigenhändig einen Nistkasten zu montieren. Ignazio Cassis, der sich als Aussen­minister womöglich von Amts wegen mit den Zugvögeln verbunden fühlt, schaute das Prozedere von einem offenen Fenster aus mit an. Wir sparen uns blöde Sprüche und freuen uns, dass es im Bundes­haus nun zumindest für Mauer­segler ein bisschen Nestwärme gibt.

Illustration: Till Lauer

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