Die Schweiz könnte Impf-Champion sein

Kurz nach Ausbruch der Pandemie ignorierte der Bund ein Angebot von Lonza zur Impfstoff­produktion. Erst jetzt dämmert der Schweiz, was für eine Chance sie damals verpasste – nicht nur für sich selbst.

Von Olivia Kühni (Text) und Timo Lenzen (Bild), 27.04.2021

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Am regnerischen Morgen des Freitag, 1. Mai 2020, kommen im grossen Leuchter­saal des einstigen Hotels Bernerhof direkt neben dem Bundes­haus mehrere Personen zu einer dringlichen Sitzung zusammen. Es geht um die Produktion von Impf­stoffen der Firma Moderna in der Schweiz. Am Tisch sitzen unter anderem Lukas Bruhin, Leiter des bundes­rätlichen Krisen­stabs zur Bewältigung der Corona-Krise, der damalige BAG-Direktor Pascal Strupler und Nora Kronig, die Leiterin der Abteilung Inter­nationales beim BAG.

Sie empfangen eine Delegation, deren Angebot – zu diesem Schluss muss man ein knappes Jahr später kommen – sie in seiner Tragweite nicht erfassen: Angereist ist Lonza-Präsident Albert Baehny, gemeinsam mit seinem Wissenschafts­chef, einem hochrangigen Vertreter von Moderna und drei weiteren Kadermitarbeitern.

In der Schweiz ist zu diesem Zeitpunkt knapp zwei Monate zuvor der erste Mensch an Covid-19 gestorben. Fast ebenso lange gilt bereits die ausser­ordentliche Lage, die es dem Bundesrat erlaubt, über Notverordnungen zu regieren. Er hat das Land in einen ersten Shutdown geschickt, der im Mai nun langsam an sein Ende kommt.

Der Bund ignoriert das Angebot

Was dann geschieht, darüber gibt es unterschiedliche Versionen. Der «Tages-Anzeiger» berichtete am 11. März zum ersten Mal über diese Gespräche. Dabei schrieb er, Lonza-Präsident Baehny habe dem Bund vergeblich eine Produktions­linie angeboten, «die nur für die Schweiz produziert» hätte. Daraufhin dementierte Bundesrat Alain Berset öffentlich, Lonza habe damals «nur nach Staats­interventionen gesucht», die Zeitung publizierte eine Korrektur, mehr geschah nicht. Bis Lonza-Präsident Baehny zwei Wochen später nachdoppelte und der «NZZ am Sonntag» sagte, er habe damals dem Bund «einige Ideen skizziert». Auf Nachfrage, ob diese Ideen auch umfassten, dass sich der Bund «eine eigene Produktions­linie für Moderna-Impfstoff sichert», meinte Baehny: «Das wäre doch denkbar, oder?»

Seither herrscht Verwirrung. Wir haben die Protokolle von jenem Treffen studiert. Wenn man das tut und dabei im Hinter­kopf hat, wie der internationale Impfstoff­markt funktioniert, dann ist glasklar, was Lonza dem Bund an diesem Tag anbietet:

Lonza offeriert zu diesem frühen Zeitpunkt dem Bund die Möglichkeit, sich am Ausbau einer Produktions­stätte («Kit») des Covid-Impfstoffs von Moderna zu beteiligen. Geplant sind 3 Kits, die jeweils rund 60 Millionen Franken kosten, insgesamt also 180 Millionen Franken. In eines will Lonza selber investieren, für die anderen beiden sucht man noch Investoren. Die naheliegende erste Adresse: der Bund. Und der soll sich nun innert zweier Wochen entscheiden, ob er an Bord ist. «Lonza möchte eine Antwort des EDI in Bezug auf eine Beteiligung der Schweiz bis in 2 Wochen», heisst es später im Protokoll.

Viel direkter kann ein Angebot kaum daher­kommen. Am Bund wäre es gewesen, seine Vorstellung einer Gegen­leistung zu benennen für etwas, was fast nur Staaten können: innerhalb weniger Tage 60 oder 120 Millionen Franken mobilisieren – zu einem Zeitpunkt, als diese noch als Risiko­kapital gelten. Schliesslich war am 1. Mai möglich, aber nicht sicher, dass der Moderna-Impfstoff Erfolg haben würde. Mit anderen Worten: keine schlechte Verhandlungs­position für die Schweiz.

Doch der Bund lässt die Sache liegen.

Stattdessen fährt er den konventionellen Kurs. Am 9. Juni vereinbart der Bund mit Moderna, dass die Schweiz von der Firma «eine namhafte Menge von Impfstoff kauft» sowie: «dass Moderna in Visp mit Lonza produziert und dort investiert» – etwas, was zu dem Zeitpunkt zwischen den privaten Unter­nehmen sowieso längst beschlossen war. Unter­zeichnet wird dieser Vertrag letztlich am 6. August.

Diese verpasste Chance, möglicher­weise die ärgerlichste der letzten Monate, wäre vielleicht nicht passiert, hätte der Bund auf die Expertise von Ökonomen gehört – selbst von solchen, die die Pharma­branche kritisch betrachten. Denn dass Staaten Pharma­unternehmen mit sehr, sehr viel Geld subventionieren, ist keine neue Praxis: Neu wäre, dass sie dafür endlich anständige Gegen­leistungen aushandelten.

Ein klarer Fall für den Staat

Unter Ökonominnen herrscht ein breiter Konsens: Die Herstellung von Impfstoffen ist ein klassischer Fall, den Staaten nicht dem Privat­sektor überlassen dürfen. Dies, weil die Interessen völlig auseinander­gehen.

Für Pharmafirmen lohnt sich die Impfstoff­entwicklung nicht: Sie tragen allein Kosten, Aufwand und Risiko dafür – wie immer in der Forschung scheitert die Mehrzahl der Projekte –, bei einem seltenen Erfolg aber verdienen sie deutlich weniger daran als beispiels­weise an einem Krebs­medikament. Daher werden seit Jahren zu wenig Impfstoffe hergestellt. Für Staaten hingegen ist die Rechnung genau anders­herum: Impfstoffe sind besonders essenziell und wertvoll, weil sie nie nur Einzelnen helfen, sondern der gesamten Gesellschaft, im besten Fall weltweit.

Deshalb springen Staaten und finanz­kräftige Non-Profit-Organisationen wie die Stiftung von Bill und Melinda Gates seit einigen Jahren ein – und sorgen mit garantierten Abnahme­verträgen dafür, dass Pharma­unternehmen Impfstoffe erforschen und produzieren. Und in einer Pandemie gilt erst recht: Es ist wichtig, früh und viel Impfstoff zu bestellen.

Auch die Schweiz kennt diese Realität. Wie viele andere Staaten und die EU hat sie – wie eben mit Moderna am 9. Juni – frühzeitige Abnahme­verträge geschlossen. Die Sache ist nur: Vorbestellungen nützen überhaupt nichts, wenn das eigentliche Problem der Mangel an Produktions­kapazität ist.

Und hier haben mRNA-Impfstoffe wie die von Moderna oder Pfizer/Biontech gegenüber den traditionellen einen entscheidenden Vorteil.

«Investiert in Kapazitäten»

Für Produktions­ketten gilt, was auch Kuchen­bäcker wissen: Der knappste Faktor eines Produkts bestimmt, wie viel man davon herstellen kann. Die brillanteste Vorarbeit ist nutzlos, wenn auch nur eine einzige Zutat oder ein einziges essenzielles Werkzeug fehlt.

Üblicherweise kennt die Impfstoff­entwicklung mehrere solcher Flaschen­hälse. Einer der wichtigsten ist die Tatsache, dass traditionelle Impfstoffe mit biologischem Material arbeiten – Zellen oder Viren­teilen beispiels­weise –, und dass dieses unberechenbar ist. «Der Boss sind ein paar Mäuse und Zellen in einem Tank, und die scheren sich nicht darum, wie viel Geld du hast», sagt etwa der Chemiker Derek Lowe gegenüber der Republik. Darum braucht die Herstellung traditioneller Impfstoffe selbst mit viel Geld oft immer noch unberechenbar viel Zeit.

Doch die mRNA-Impfung ist anders. Sie schert sich darum, wie viel Geld du hast. Sehr sogar: Es macht einen wirklichen Unterschied.

Dies, weil der traditionelle Flaschen­hals wegfällt. mRNA-Impfstoffe enthalten keine sorgfältig zu züchtenden Viren­teile oder Zellen mehr. Stattdessen bestehen sie aus genetischem Material, das den Körper selber zum Herstellen von Anti­körpern anregt. (Die Details können Sie hier nachlesen.) Das bedeutet auch, dass sie sich skalieren lassen: Ist der Bauplan einmal bekannt, kann schnell und in grossen Mengen produziert werden. Flaschen­hälse kann es dabei immer noch geben – bis vor wenigen Monaten beispiels­weise die viel zitierten Fettmoleküle, die zur Herstellung nötig sind. Aber grundsätzlich gilt: Die kritischste Grösse ist die Kapazität an hochwertigen Produktions­stätten mitsamt entsprechenden Fachleuten. Bei mRNA-Impfstoffen sind sie eine Investition mit immenser Hebelwirkung.

«Investiert in Kapazitäten, nicht in Liefer­mengen», fasste daher ein Ökonomenteam im Fachmagazin «Science» kürzlich seinen Rat zum Ankurbeln von Covid-Impfstoffen zusammen. Länder sollten nicht einfach nur frühzeitig Impfdosen bestellen – sondern Pharma­unternehmen dafür bezahlen, Fabriken hochzuziehen.

Genau das ist das Angebot, das Lonza seinem Standort­land Schweiz – das im folgenden September auch noch Sitz des europäischen Headquarters von Moderna wurde – an jenem 1. Mai vorlegte.

Wenn also Bundesrat Alain Berset jetzt sagt, Lonza habe damals «nur nach Staats­interventionen gesucht», dann zielt das ins Leere. Ja, genau darum ging es. Und damit vor allem darum, möglichst rasch möglichst viel Impfstoff herzustellen. Aber nicht nur.

Denn politisch interessant ist die Frage, was die Schweiz als frühe und attraktive Risiko­investorin dafür ausgehandelt hätte. Ob sie darauf bestanden hätte, sich als Erste beliefern zu lassen («eine eigene Produktions­linie»), ob sie die Gelegenheit genutzt hätte, sich in der EU zu profilieren, über die internationale Impfallianz ärmere Länder zu unterstützen – oder gar noch Grundsätzlicheres.

Ein Land, das diese Frage jeweils schattenlos schnell beantwortet, sind die USA.

America first

Als die Schweiz wochenlang verhandelte, ob und zu welchen Bedingungen sie Moderna-Impfstoff allenfalls vorbestellen würde, stand Moderna in den USA bereits kurz davor, drei Produktions­stätten in Betrieb zu nehmen.

Dabei geholfen hatten unter anderem 483 Millionen Dollar, die die amerikanische Regierung bereits am 16. April für Moderna gesprochen hatte. Ein Teil des Geldes floss ab Mai auch in den Aufbau von Kapazitäten des amerikanischen Lonza-Standorts, wie Moderna damals bestätigte: «Ein Teil der Investitionen für den Aufbau von Produktions­stätten bei Lonza U.S.» stamme aus dem Vertrag mit dem Gesundheits­ministerium.

Dass das kein Einzelfall ist, zeigen die Akten des 10 Milliarden Dollar schweren Impf­programms «Operation Warp Speed», das der US-Kongress bereits am 27. März 2020 verabschiedete. (Drei Tage später floss eine erste Geldtranche an Johnson & Johnson.) Investitionen in Produktions­kapazitäten – und nicht nur in die Impfstoff­entwicklung – waren von Anfang an Teil der Initiative. Entsprechende Finanz­spritzen spezifisch für das Hoch­ziehen von Produktions­linien erhielten von Mai bis Oktober 2020: Astra Zeneca, Moderna, Johnson & Johnson, Emergent, Fujifilm, Texas A & M University, Grand River Aseptic Manufacturing und Cytiva.

Die USA liessen sich ihre Risiko­investitionen knallhart mit «America first» bezahlen: Die US-Produktion von Moderna geht nur in die USA, der ganze Rest der Welt – sogar Kanada – muss von woanders beliefert werden. Bis vor sehr kurzem war dies allein aus dem Lonza-Werk in Visp. Was zeigt, welche Bedeutung der Standort eigentlich hätte.

Und damit: welche politische Gestaltungs­macht die Schweiz.

Und jetzt?

Am 13. April 2021 sagte Moderna, man habe unterdessen 132 Millionen Dosen Impfstoff verkauft und geliefert. Überwältigende 117 Millionen davon gingen aus amerikanischen Werken in die USA (wo inzwischen jede zweite Bürgerin mindestens eine Impfdosis bekommen hat).

Nur drei Tage später, am 16. April, meldete das Unternehmen Liefer­verzögerungen für den Rest der Welt, insbesondere für Lieferungen ins Vereinigte Königreich und nach Kanada. Der Grund: Produktions­verzögerungen in Visp. Die dortige Liefer­kette, bemerkte Moderna subtil, hinke derjenigen in den USA eben um rund 3 Monate hinterher. Unter anderem deswegen hat sich Moderna entschieden – bislang von der Öffentlichkeit noch wenig bemerkt –, künftig Impfstoff auch bei der spanischen Rovi produzieren zu lassen.

Und die Schweiz?

Ein knappes Jahr nach den ersten Gesprächen prüft das EDI nach den Diskussionen der letzten Wochen, «in welcher Form der Bund die Herstellung und Entwicklung von Covid-19-relevanten Arznei­mitteln (inkl. Impfstoffe) in der Schweiz stärken kann», wie das Departement am 14. April mitteilte. Auch wenn die Verhandlungs­optionen jetzt, nachdem der Moderna-Impfstoff zugelassen ist und wirkt, natürlich andere sein dürften. Das EDI kommentiert die Entwicklungen auf Anfrage darüber hinaus im Moment nicht.

Auffallend ist, dass Moderna am 16. April gleichzeitig mit der Bekannt­gabe der Liefer­verzögerungen betonte, die Lieferungen in die Schweiz und in die EU seien davon nicht betroffen.

Gut möglich also, dass es ein Jahr später im Leuchter­saal von Bern doch noch zu einem Vertrags­abschluss kommt.

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