Kiste, Palazzo, Pharaonengrab: Das neue Zürcher Kunsthaus
Der Chipperfield-Bau öffnete am vergangenen Wochenende zum ersten Mal der Öffentlichkeit die Tore – begleitet von den sphärisch durch die Räume flutenden Glockenklängen des Choreografen William Forsythe. Toten- oder Festgeläut?
Von Max Glauner, 26.04.2021
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Schuhschachtel oder Palazzo? Die Meinungen gehen auseinander. Die Wortbilder stecken in etwa die Bandbreite der feuilletonistischen Einordnungen ab, seit im November 2008 das in Berlin ansässige Büro des Briten David Chipperfield den Zuschlag für die dritte Erweiterung des Zürcher Kunsthauses am Heimplatz erhielt.
Für die Schuhschachtel spricht die schnörkellos stereometrische Form. Kein Pfeiler, kein auffällig profiliertes Portal oder Fenster stört die gleichförmige Kubatur und die Binnengliederung der Fassade aus horizontalen Gurtgesimsen und lammellenartigen, eng gereihten, rund profilierten Vertikalstrukturen, die sich über alle Geschosse ziehen, als wollten sie den Klassizismus des Gebäudes ins Orientalisch-Entrückte ziehen. Das Kunsthaus, ein Pharaonengrab? Solche Vertikalreihen hat es in der Architekturgeschichte zuerst an den Sed-Fest-Totentempeln der Djoser-Pyramide im ägyptischen Sakkara gegeben. Das von Chipperfield wie eine klassische Brüstung gestaltete dritte Geschoss gilt den Schuhschachtel-Verfechterinnen notabene als Deckel auf die Kunsthaus-Kiste.
Die Anhänger der Palazzo-These wiederum sehen für diesen Deckel sowie für die Proportionen des Gebäudes und die Geschossgliederung das Vorbild in den wuchtigen Bürgerpalästen der italienischen Renaissance. Dieser Bautyp reicht mit seinen ostentativen Stilelementen bisher bis Luzern und Solothurn, nie aber in die Reformationsstädte Basel oder Zürich.
Das Aussen und Innen
Doch treffen diese Metaphern überhaupt? Bilden sie ab, was seit gut einem halben Jahr den Passantinnen an der Rämistrasse, beim Pfauen vor der alten Kantonsschule, entgegenragt, baulich, sachlich und nicht zuletzt – bezüglich der Frage, was für eine Öffentlichkeit hier geschaffen wird – ideologisch? Letztere könnte man salopp auch so formulieren: Wer ist drinnen, wer draussen?
Wenn man die Baugeschichte des Kunsthaus-Monolithen nicht kennt, wird man im Vorüberfahren kaum darauf kommen, dass es sich hier um ein Museum handelt. Er könnte auch als Versandlager von Jelmoli in Otelfingen stehen. Dass er mit den Gebäuden gegenüber in Beziehung steht, erschliesst sich erst im Detail: Der cremefarbige Sandstein der Fassade nimmt die Materialität der Tempelfront des ersten Kunsthaus-Baus am Platz von Karl Moser auf; und die vertikale Fassadenstruktur antwortet auf die seriellen Rippen des brutalistischen Riegels, mit dem das Kunsthaus 1958 ein erstes Mal erweitert wurde und der, man glaubt es kaum, auf einen Wettbewerb von 1944 zurückgeht.
Im Dezember vergangenen Jahres feierte die Stadt coronabedingt im bescheidenen Rahmen die Schlüsselübergabe. Da war Chipperfields Kunsthaus-Erweiterung bereits ohne Gerüst. Es ist «ein echter Zürcher», sagte der Architekt in einem Interview dazu. Ein Bau, in dem sich «zwinglianische Bescheidenheit und britisches Understatement» treffen, ergänzte der Vorsteher des Hochbaudepartements André Odermatt bei der Schlüsselübergabe.
Seit Donnerstag und bis in den Mai kann Chipperfields neues Kunsthaus besichtigt werden, noch weitgehend ohne die Kunstwerke. Es ist eine einmalige Gelegenheit, sich selbst ein Urteil über den jüngsten Museumsbau der Schweiz vom Inneren her zu bilden. Um es vorwegzunehmen: Auch wenn er für ein kunstfernes Publikum keine Einladungsgeste macht, besticht der Bau mit seiner weit atmenden Raumfolge und der gediegenen, oft kecken Materialbehandlung von Sichtbeton, Marmor und Eichenholz für die Böden und Messingverkleidungen an Wänden und Türen.
Wer dazu noch einen Grund sucht, das neue Haus zu besuchen: Neben fest installierten Arbeiten von Urs Fischer, Lawrence Weiner, Robert Delaunay und Alexander Calder lockt ein betörendes skulpturales Klangerlebnis, die Installation von acht über das Haus verteilten Kirchenglocken durch den Choreografen und Performer William Forsythe, «The Sense of Things».
Historische Untergründe
Bis Pfingsten werden sich die Besucherinnen allerdings gedulden müssen, um das neue Kunsthaus direkt vom Heimplatz aus zu betreten. Der aus der zentralen Achse nach rechts gerückte Eingang bleibt bis dahin verschlossen. Wie kommt man rein? Über den Eingang des alten Kunsthauses, vorbei am Kassenschalter und nach links eine verschämt schmale Treppe hinunter, an deren Ende ein langer, sehr langer Gang unter dem Heimplatz hindurch zum Neubau führt. Eine helle Beleuchtungsleiste an der Decke und eine durchgehende Marmorbank, hinter der warmes Licht an die Wand flutet, geben dem leicht ansteigenden Gang den Eindruck einer Prozessionsstrasse, fast die Anmutung von Unendlichkeit. Da ist es wieder, das pharaonische Hallo.
Wohin steigt man da ab? Ist man hier nicht auf Augenhöhe mit den ehemaligen Bewohnern Zürichs, die an diesem Ort vor dem Lindentor zu Pestzeiten bestattet wurden? Der sogenannte Krautgarten zwischen mittelalterlicher Stadtmauer und Barocker Festungsanlage wurde noch bis 1848 als Friedhof genutzt. Der jung verstorbene Dichter, man würde heute sagen Aktivist, Georg Büchner wurde 1837 noch dort begraben, bevor seine sterblichen Überreste an den Rigiblick überführt wurden. Aber der Krautgarten lag einige Meter weiter westlich, dort, wo heute der Gebäuderiegel aus den 1950er-Jahren steht.
Der erste Kunsthaus-Bau wiederum steht auf dem Grundstück eines ehemaligen Guts vor den Toren der Stadt und somit auch der Tunnel. Er kreuzt keine Gebeine. Allerdings bestanden auch für den Chipperfield-Bau selber Befürchtungen. Würden beim Bauaushub Überreste eines jüdischen Friedhofs aus dem Mittelalter entdeckt, der von den Bastionen überbaut wurde? Es konnte Entwarnung gegeben werden.
Sonstige Leichen im Keller? Die Ikonografie des Ortes deutet es unterschwellig an: Die Achse vom neuen Kunsthaus führt über den Heimplatz nicht nur auf das alte Kunsthaus zu, sondern auch direkt auf Auguste Rodins monumentales «Höllentor». Es steht dort seit 1947. Ursprünglich eine Auftragsarbeit für ein Kunstgewerbemuseum in Paris, das nie gebaut wurde, geriet es dem Künstler zur Lebensaufgabe, eine skulpturale Bühne für die Abgründe menschlicher Existenz zu modellieren. Ikonografisch gesehen führt Rodins Werk also direkt in den Tartaros – in Zürich aber, historisch gesehen, in das wohl heikelste Kapitel der Kunsthausgeschichte. Denn das «Höllentor» kam durch den Waffenfabrikanten und Mäzen Emil Georg Bührle nach Zürich.
Der Chipperfield-Bau verdankt sich auch dem Umstand, dass die in Stiftungseigentum befindliche Privatsammlung des 1956 verstorbenen Bührle vorwiegend impressionistischer Kunst in einem Neubau gezeigt werden sollte. Und deshalb kann die Eröffnung dieses Baus auch schwerlich beschrieben werden, ohne auf diese gravierende Persönlichkeit einzugehen. Allein 200 Werke seiner Sammlung werden hier gezeigt. Trivial, aber nicht müssig zu betonen, dass der zu Lebzeiten reichste Schweizer seinen Reichtum nur im wohlgesonnenen Umfeld horten konnte.
Im Zürcher Patriziat war der in Pforzheim geborene Bührle zwar nie wirklich angekommen, aber mit seiner Oerlikoner Waffenfabrik – Exportschlager Flakgeschütze an alle Kriegsparteien – sicherte er Arbeitsplätze und hielt die Schweiz am Markt. Konventionell in seinem Geschmack, Altmeister und französische Impressionisten, sammelte er zusammen, was der Markt hergab. Das war ab 1933, was Migrantinnen aus Deutschland schnell verkaufen oder zurücklassen mussten. Nach Urteilen Schweizer Gerichte musste Bührle zwischen 1947 und 1948 dreizehn Gemälde an ihre jüdischen Vorbesitzer zurückgeben. Er erhielt dafür Entschädigungen und kaufte neun retour.
Ironie der Geschichte
Raub- oder Beutekunst aus der Nazizeit wird in Zürich also nicht zu sehen sein. Dennoch befällt einen beklemmende Ratlosigkeit, wenn es um den Zusammenhang zwischen Industriekapital aus Waffengeschäften, Zwangsarbeit, Antisemitismus und schöner Kunst geht. Um Klarheit zu schaffen, hatte die Stadt Zürich denn auch gemeinsam mit der Kunsthausgesellschaft und der Bührle-Stiftung bei der Universität Zürich eine Studie in Auftrag gegeben: «Kriegsgeschäfte, Kapital und Kunsthaus: Die Entstehung der Sammlung Emil Bührle im historischen Kontext».
Rodins «Höllentor» kam dabei jedoch nicht ins Visier. Dabei hätte seine bisher unaufgearbeitete Entstehungsgeschichte viel über den Nationalsozialismus und die Verstrickungen von Geld, Macht und Zürcher Kunstmonumenten erzählt.
Gesichert ist bisher nur, dass das Zürcher «Höllentor» 1947 über Bührle im Rahmen einer Ausstellung der Pariser Bildgiesserei Rudier an das Kunsthaus kam und anschliessend über den Baufonds der Kunstgesellschaft angekauft wurde. Woher kam es?
Es ist der vierte Abguss von neun, die nach dem Tod von Rodin mit Genehmigung des französischen Staates als Erbe des Künstlers in der besagten Giesserei Rudier hergestellt wurden. Bestellt 1942, bezahlt, fertiggestellt und nicht abgeholt. Nach der Befreiung 1945 wurde es von den Alliierten requiriert und war wohlfeil weiterzuverkaufen. Der Besteller nämlich soll der Fama nach Feldmarschall Hermann Göring gewesen sein, zweiter Mann im Staate Hitlers. Noch wahrscheinlicher scheint es jedoch, dass der Bildhauer Arno Breker, der mit der Giesserei Rudier zusammenarbeitete, entweder über die NS-Organisation «Sonderauftrag Linz» oder über Alfred Bormann, eine andere Nazi-Grösse, einen Auftrag direkt von Hitler höchstpersönlich für Rodins «Höllentor» weitergab. Das «Höllentor» hätte dann das geplante «Führermuseum» in Linz zieren sollen. Ironie der Geschichte: Es gehört deshalb nicht im strengen Sinn zur Beute- und Raubkunst.
Was macht diese Geschichte mit dem Werk? Es ist jedenfalls kein Zufall, dass der munterbunte Lichtmast Pipilotti Rists, der nächtens den gesamten Platz in ein psychedelisch versöhnliches Lichtmeer tauchen soll, an eine Mohnkapsel erinnert – jene Pflanze also, die seit jeher rauschhaftes Vergessen verspricht. Toten- oder Festgeläut? Kunstpalazzo oder Grabesmonument? Der neue Kunsthaus-Bau weckt Geister. Böse oder gute? Das bleibt uns überlassen.
Hinweis: Emil Georg Bührle wurde 1890 nicht im Land Baden-Württemberg geboren, dieses wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. Wir haben die Stelle abgeändert.
Max Glauner arbeitet als freier Kulturjournalist für den «Freitag», den «Tagesspiegel», die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», «Frieze», «Artforum» und «Kunstforum International». Er lebt in Berlin und Zürich und ist Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste.