Entzauberberg

Davos steht für: Jetset, Hockey, Global Village. Und darum trifft die Pandemie den Ort mit voller Wucht. Was tun? Das muss ausgerechnet Philipp Wilhelm beantworten, 32, langjähriger WEF-Kritiker und erster Sozial­demokrat an der Spitze der Stadt.

Von Anja Conzett (Text) und Maurice Haas (Bilder), 24.04.2021

Synthetische Stimme
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Einst schlugen die Davoser Bauern in der Not mit der Garbe auf den Boden, damit Hilfe kommt. Der junge Davoser Landammann Philipp Wilhelm verlässt sich auf seine Lawinen-Schneeschaufel.

Etwas verloren schaut sie aus, die Gucci-Tasche, die an der Schulter einer Touristin in der Sonne baumelt. Wie ein exotischer Vogel, der sich in den falschen Wald verirrt hat.

Nur dass es eigentlich der richtige Wald wäre.

Es ist ein Mittwoch Mitte März; eigentlich wäre Ende Hochsaison – für gewöhnlich ist das Klackern der Skischuhe auf der Davoser Promenade um diese Zeit so laut, dass man Flamenco dazu tanzen könnte. Aber nicht dieses Jahr. Und nicht letztes Jahr.

Die Pandemie trifft alle alpinen Ferienorte hart. Davos trifft es härter. Während andere Destinationen das Fehlen ausländischer Gäste wenigstens zum Teil mit der heimischen Nachfrage kompensieren können, wird Davos ausgerechnet das zum Verhängnis, was es lange Zeit krisen­resistent machte – die Ausrichtung als Kongressort.

Nebst dem World Economic Forum (WEF) finden in Davos jährlich 400 weitere Veranstaltungen und Kongresse statt. Ein Drittel davon ist laut dem Branchen­blatt «Hotelrevue» international, oft geht es um Medizin und Forschung. Dabei hat Davos in der Schweiz kaum Konkurrenz – nicht einmal in Europa wirklich. Die Rivalen heissen Dubai, Las Vegas oder Singapur.

15 Prozent der Tourismusaktivitäten werden nach Schätzungen der Gemeinde aus Kongressen generiert, einige grosse Hotels haben sich ganz auf diesen Zweig spezialisiert. Doch die meisten Veranstaltungen fallen seit der Pandemie aus. Auch das WEF.

Dazu musste der Spengler-Cup abgesagt werden, das älteste internationale Hockey­turnier und mit alljährlich 100’000 Besuchern um die Weihnachts­tage einer der grössten Sport­anlässe der Schweiz.

Das geht den Davosern an die Substanz, nicht nur finanziell.

Philipp Wilhelm sieht man das erst einmal nicht an. Mit über­rumpelnder Begeisterung reisst der Davoser Land­ammann die Tür zu seinem Büro im zweiten Stock des Rathauses auf, das 1564 gebaut wurde und dem Ende der 1920er-Jahre das ebenso berühmte wie berüchtigte Davoser Flachdach aufgepfropft wurde.

Wilhelm ist seit dem 1. Januar Landammann von Davos, also Gemeinde­präsident. Dass er das Steuer des Schiffs mitten im Sturm übernommen hat, sieht man ihm nicht an. Aber seinem Büro, das fast noch gänzlich von seinem Vorgänger eingerichtet ist.

Wilhelm – blaues Jackett, grauer Pullunder, die obersten beiden Knöpfe des Hemds offen und die braunen Haare mit Gel zum Scheitel gelegt – sieht zwischen den altbackenen Vorhängen und verbrauchten Möbeln aus wie ein Tourist im Buckingham Palace. Er hat auch wenig gemein mit seinen 18 Vorgängern, deren Porträts wie eine Ahnen­galerie im Treppen­haus hängen.

100 Jahre lang stellte die FDP verlässlich jeden Davoser Landammann. Dann kam Wilhelm: Sozial­demokrat, bis vor kurzem Präsident der SP Graubünden, langjähriger WEF-Kritiker, Zweit­wohnungs­initiativen-Befürworter, Gegner von olympischen Spielen in Graubünden – und gerade einmal 32 Jahre alt.

Kein Wunder, hat die Tourismus­organisation, die ihm jetzt unterstellt ist, seine Gegen­kandidaten zur Wahl empfohlen – alle, nur nicht ihn. Kein Wunder, war sich der Kandidat der FDP, der im zweiten Wahlgang noch übrig geblieben war, so sieges­sicher, dass er von seinem Posten als CEO der Lenzerheide Bergbahnen präventiv zurücktrat.

Doch Ende November erhielt Wilhelm 2164 Stimmen. Der Mann der FDP 1960.

Philipp Wilhelm ist wirklich eine unwahrscheinliche Wahl. Aber Davos ist wirklich ein unwahrscheinlicher Ort.

Die anderen 360 Tage im Jahr

Das Landwassertal ist geprägt von weiten Berg­fluchten und malerischen Seitentälern – dem Sertig, Dischma, Flüela. Davos selbst ist dagegen maximal hässlich. Beliebig und uninspiriert kleben die Häuser der höchst­gelegenen Stadt Europas am Hochtal­boden – als hätte ein Kleinkind im Zorn Bauklötze umgestossen. Und doch hat der Ort eine unerklärliche Anziehungskraft.

Im Lauf der Zeit machten etliche Künstler und Intellektuelle hier Station. Die meisten kamen zum Urlaub oder zum Kuren; einige haben sich gleich ganz nieder­gelassen. Und viele haben sich in ihren Werken von Davos inspirieren lassen: Expressionisten wie Ernst Ludwig Kirchner und Philipp Bauknecht. Literaten wie Arthur Conan Doyle, Hugo Marti oder Thomas Mann mit seinem «Zauberberg». Architekten wie Rudolf Gaberel oder Sigfried Giedion, die beide Einfluss auf die damals avant­gardistischen Flach­dächer hatten – und sie schliesslich in der ganzen Welt verbreiteten.

Davos brachte sogar selbst kreative Köpfe hervor, wie die Malerin Sophie Taeuber-Arp, den Regisseur Marc Forster oder Alfred Neweczerzal, Sohn tschechischer Immigranten, dessen Name zwar weit weniger bekannt ist, der aber wohl das schweizerischste Objekt des Design­lands Schweiz entworfen hat – den Sparschäler «Rex».

Kurz: Davos ist ein gutes Stück grösser und weltgewandter, als es sich für einen Ort an dieser Lage gehört.

Nichts demonstriert das eindrucks­voller als das WEF: Seit seiner Gründung vor 50 Jahren tagt das World Economic Forum in Davos – und während fünf Tagen im Jahr steht das 11’400-Seelen-Städtchen im Zentrum des Welt­interesses; einer der begehrtesten Orte des Planeten. Jährlich bringt dies Davos 60 Millionen Franken Umsatz ein.

Bislang fand das WEF nur ein einziges Mal nicht im Landwasser­tal statt – nach den Anschlägen auf das World Trade Center wurde es aus Solidarität nach New York verlegt. Dieses Jahr wurde die Tagung nach Singapur verlagert, wo sie im Sommer stattfinden soll.

Zwar soll das WEF nächstes Jahr wieder zurück nach Davos kommen, doch schon vor Covid gab es Kritik an den hiesigen Gastgeber­qualitäten. Schuld sind die schamlos teuren Mieten, die Private und Geschäfte während des WEF selbst für winzigste Bruch­buden verlangen.

«Dass der Wucher, zu dem freie Markt­wirtschaft führen kann, nicht wünschens­wert ist, müssen Sie einem Sozial­demokraten im Fall nicht erklären», sagt Wilhelm und kichert.

Dann sagt er, was man vom Davoser Land­ammann erwartet: Davos müsse grundsätzlich ein guter Gastgeber sein, natürlich sei das WEF wichtig, sie seien froh, dass es zurück­kommt, und würden daran arbeiten, den Standort weiter attraktiv zu halten … Dann, abrupt, als würde er sich selbst langweilen: «Aber Davos gibt es auch noch in den 360 Tagen im Jahr, an denen das WEF nicht stattfindet – und um die müssen wir uns genauso kümmern.»

Und damit meint er nicht nur den Tourismus, die Kongresse, die Sport­veranstaltungen. «Natürlich ist es wichtig, bewährte Stand­beine zu pflegen. Aber wir müssen uns auch weiter­entwickeln, neue Wege, neue Strategien ausprobieren», sagt Wilhelm.

Für ein Objekt hatte er bei der Einrichtung seines Büros doch Zeit. Es ist das Bild gegenüber von Wilhelms Schreib­tisch. Normaler­weise hat der Land­ammann das Privileg, für diese Stelle ein Bild aus der Sammlung des Kirchner-Museums auszuleihen. Stattdessen hängt dort nun ein blauschwarzer Holzschnitt des zeitgenössischen Davoser Künstlers Gian Häne. Darauf abgebildet ist Monstein, der noch dorfartige Teil von Davos, aus dem Wilhelm stammt.

«Kirchner hat ja schon ein eigenes Museum, wo ich die Bilder jederzeit mit dem Rest der Öffentlichkeit ansehen kann», sagt Wilhelm. «Warum nicht lieber einen Künstler nehmen, der noch lebt und wirkt?» Statt eines millionen­schweren Kirchners hängt im Büro des Davoser Land­ammanns also ein Häne für knapp 5000 Franken.

Herr Wilhelm, wie viele neue Zöpfe kann man flechten, bevor man die alten abschneiden muss?

«Das wird sich zeigen. Aber für den Fall, dass die alten Zöpfe von selbst abfallen, ist es entscheidend, sich neue wachsen zu lassen.»

Wir fragen in vier Jahren noch mal.

Wilhelm will Davos verjüngen. Grüner, digitaler, «Davos ganzjährig lebenswerter machen».

Wie er das bewerkstelligen will, darauf hat Wilhelm keine Antwort. Er hat eine Flut von Antworten.

Wilhelm ist eigentlich Architekt. Er denkt in Prozessen, hat jede Schnitt­stelle im Kopf. Es ist unmöglich, mit ihm über das Dach zu sprechen, ohne dass er das Fundament ins Spiel bringt – in einem Nebensatz ausführt, warum die Fenster genau dort hingehören –, mit einem kurzen Neben­vortrag, welche Plättli im Bad gut aussehen würden. Dabei spricht Wilhelm zeitweise so schnell, dass es als Zuhörerin ratsam ist, nicht zu blinzeln, weil sonst der Überblick verloren geht.

Die Amtsvorgänger sind immer mit dabei: Der Landammann im Davoser Rathaus.

Wilhelm steht auch sonst nie still, hat ständig etwas in den Händen, eine Kaffeetasse, ein Buch, fährt sich durch die Haare, richtet sich das Hemd. Energisch? «Andere würden sagen: ‹nervös›», sagt Wilhelm und lächelt verlegen. Manche vielleicht auch «etwas ungeduldig».

Das WEF und der Punk

Davos ist die Geschichte eines rasanten Aufstiegs. Am Anfang standen zwei Dinge: ein bis zu vier Mikrometer langer Bazillus namens Mycobacterium tuberculosis und eine gescheiterte Revolution. Letztere führte den Mediziner und Revoluzzer Alexander Spengler 1849 als Flüchtling aus dem Gross­herzogtum Baden in die Schweiz. Sein Bleiberecht hatte er sich damit zu verdienen, dass er sich in einem abgelegenen Bergdorf als Landarzt verpflichtete. 1853 kommt er in Davos an. Spengler erkennt das Potenzial des sonnigen, allergen- und schadstoff­armen Hochgebirgs­klimas im Kampf gegen die noch namenlose Seuche, die in den Städten Europas wütet.

Bald tut sich Spengler mit dem nieder­ländischen Investor Willem Jan Holsboer zusammen. Unter ihnen wird Davos zum «Mekka der Lungen­kranken». Die gut betuchten Tuberkulose­patienten bringen Geld und Kultur, die erste rhätische Bahnlinie wird unter Holsboer Richtung Davos statt ins Engadin gezogen, und der Ort wächst in den 50 Jahren ab 1860 ums Fünffache – von 1700 Einwohnern auf fast 10’000.

Ähnlich steil verlief über 100 Jahre später Philipp Wilhelms Polit­karriere. Am Anfang standen zwei Dinge: das WEF und Punk.

Wilhelm gründet als Teenager eine Punkband mit dem Namen «Legal Crime». Er ist Gitarrist und Sänger, schreibt Songs mit dem Titel «United» und «We Feed the World»; er wird Stammgast in der «Box», einer legendären linken Beiz, auch genannt: «the other Spirit of Davos». Aus dem Punker wird ein Politiker. Er tritt den Juso bei, bekämpft das WEF, organisiert Gegen­demonstrationen wie «Zombiewalks» – und baut Schnee­männer, die die 99 Prozent symbolisieren sollen, das Motto der Occupy-Bewegung.

Nein, Steine habe er nie geworfen. Höchstens einmal Schuhe, inspiriert vom irakischen Journalisten, der den damaligen US-Präsidenten George W. Bush 2008 an einer Presse­konferenz mit seinen Slippern bewarf. Aber auch das ohne Sachbeschädigung.

Der Entscheid, in die Politik zu gehen, kommt bei einem Nachtessen in Zürich – es gibt Ebly –, als seine damalige Freundin ihm vorhält, dass er sich nur aufrege, Musik darüber schreibe, aber eigentlich nichts mache. «Sie hatte recht», sagt Wilhelm.

Dann geht es schnell. Mit 20 kandidiert Wilhelm für das Davoser Parlament, den Grossen Landrat – und wird im zweiten Wahlgang gewählt. Im gleichen Jahr gründet er die IG offenes Davos mit, einen Verein, der sich für die in der Gemeinde untergebrachten Asyl­bewerberinnen engagiert und der unterdessen als preisgekröntes Vorbild für ähnliche Vereine dient. Im Studium an der ETH befasst er sich in mehreren Arbeiten mit zahlbarem Wohnraum in Zürich und Davos.

2016 wird Wilhelm Partei­präsident der SP Graubünden, 2018 Grossrat des Kantons.

Als WEF-Kritiker machte er sich zuletzt vor drei Jahren bemerkbar, als er gegen ein Demonstrations­verbot beim Besuch von Donald Trump protestierte.

Jetzt ist er Landammann und Gastgeber des nächsten Forums. Wie geht das?

«Die Veranstaltung selbst war für mich nie das Problem. Meine Kritik richtete sich gegen jene Mächtigen, die zum WEF geladen waren und ihre Verantwortung gegenüber Menschen und Umwelt unzulänglich wahr­genommen haben. Also immer inhaltlich, nie formal. Das WEF darf sein – es ist die Welt, die besser werden muss.»

Sind Sie zahm geworden, Herr Wilhelm?

Der Landammann lächelt: «Ich glaube, die Welt ist weit grüner und sozialer geworden als ich zahmer. Aber klar, früher war das Feind­bild der Krawatten­träger, heute trage ich selbst Krawatte. Ich halte das nicht für unauthentisch – unauthentisch wäre es, die Welt nicht zunehmend differenzierter wahrzunehmen.»

Ein Demoverbot wie damals bei der Trump-Visite werde es unter ihm aber nie geben. «Das darf in einer Demokratie nicht sein.»

Wirken solche Aussagen nicht abschreckend auf die Veranstalter des WEF, die es zurück­zugewinnen gilt?

«Nein. Im Gegenteil. Bei einer Veranstaltung wie dem WEF, das als Stätte des progressiven Diskurses wahrgenommen werden will, ist eine intakte Demokratie ein Standortvorteil.»

Herr Wilhelm, wie viel Punk verträgt die Politik?

«Ich glaube, die Politik verträgt nicht nur mehr Punk – sie braucht mehr Punk. Mehr Offenheit, Lockerheit. Mehr Lust auf neue Ideen, weniger Angst vor dem Scheitern.»

Und wie viel Politik verträgt der Punk?

«Uff», sagt Wilhelm und zuckt die Schultern.

Wir fragen in vier Jahren noch mal.

In dieser Zeit muss Wilhelm mit einem konservativen Parlament und einer konservativen Regierung zurechtkommen.

Neue Wege brauchen Brücken

In Davos weht grundsätzlich ein offener Geist. So ist überliefert, dass John Addington Symonds, Schriftsteller und Vorkämpfer für die gleich­geschlechtliche Ehe, der sich 1880 aus gesund­heitlichen Gründen in Davos niederliess, jeweils beim Heuen mit den Bergbauern anzutreffen war.

Gehört zu Davos wie Berge und Hockey: Ernst Ludwig Kirchner, «Bahnhof Davos», 1925, Öl auf Leinwand. akg-images
Ernst Ludwig Kirchner: «Davos mit Kirche. Davos im Sommer», 1925, Öl auf Leinwand. akg-images

Doch trotz aller Toleranz und Durchlässigkeit, die die globale Avantgarde und die heimische Berg­bevölkerung gern pflegten – Davos ist und bleibt ein Ort gegensätzlicher Pole. Und somit ein Ort mit Spannung. Zwischen Fortschritts­verfechtern und Traditionalisten, Stadt und dörflichen Fraktionsgemeinden, Landwirten und Managern, Mountain­bikern und Wanderern.

Letzteres klingt wie ein Witz, aber es ist ein echtes Problem. Dass Zweiräder und Zweibeiner künftig nicht mehr so arg aneinander­geraten, ist eines der vielen Probleme, um die sich der Landammann in dieser Legislatur kümmern will.

Wilhelm bedankt sich lieber zweimal als gar nicht bei den Gemeinde­angestellten, die Kaffee und Akten bringen. Das Mittag­essen bestellt er beim Familien­betrieb, der lokale Bioprodukte verarbeitet und auf Velokuriere setzt; er entschuldigt sich, dass das Wasser wegen Covid aus PET-Flaschen kommt und nicht aus dem umwelt­freundlichen Hahn; und in den Botschaften, die auf seinem Schreib­tisch liegen, hat er die männliche Form von Hand um die weibliche ergänzt – samt Gendersternchen.

Wilhelm ist so nett und rücksichtsvoll, dass man zwischen­durch laut fluchen möchte, damit die Welt am Ende nicht noch aus dem Gleichgewicht fällt.

Seine zwischenmenschlichen Qualitäten werden auch von seinen politischen Gegnern betont. Auch dass er viele Ideen hat, wird ihm attestiert. Darunter leider sogar ein paar gute. Und ja, ein Macher sei er ebenfalls, einer der Ideen durchaus zu Boden bringe.

Die Fragen, auf die Kritiker ihren Schein­werfer richten: Schafft Wilhelm es, Brücken zu bauen und bei der Umsetzung seiner Ideen auch alle abzuholen? Der Land­ammann für ganz Davos zu sein? Hat er die Reife, sich von seiner Rolle als Partei­präsident zu lösen?

«Klar kann ich nichts so umsetzen, wie ich es am Reissbrett plane», sagt Wilhelm. «Aber Meinungs­pluralismus ist die Stärke der Demokratie, nicht ihre Schwäche.»

Dass Wilhelm zumindest die Bereitschaft hat, Brücken zu bauen, hat er mit einem verblüffenden Personal­entscheid signalisiert. Er machte seine schärfste und scharf­sinnigste politische Gegen­spielerin zur Chefin der Regional­entwicklung – und damit zu einer seiner wichtigsten Partnerinnen: die Davoser SVP-Grossrätin Valérie Favre Accola, Gattin des ehemaligen Skistars Paul Accola und im ersten Wahlgang noch Wilhelms Konkurrentin um den Posten des Landammanns.

Zwar hat Wilhelm den Entscheid, die SVPlerin einzustellen, gemeinsam mit Gemeinde­präsidenten aus dem Prättigau gefällt – aber wenn der Landammann von Davos Nein gesagt hätte, hätte niemand widersprochen.

«Hätte ich die beste Frau für den Job nicht nehmen sollen, einfach weil mir nicht passt, was in ihrem Partei­büchlein steht?» Wilhelm schüttelt den Kopf und verzieht das Gesicht, als wäre der fünfte Kaffee diesen Morgen durch Essig ersetzt worden.

Favre Accola zog ihre Kandidatur nach dem ersten Wahlgang zurück, obwohl sie nur etwas über 100 Stimmen hinter FDP-Mann Peter Engler lag. Zur Unterstützung des bürgerlichen Tickets, wie die «Südostschweiz» schrieb. Doch von ihren rund 1200 Stimmen muss ein erheblicher Anteil auf Wilhelm entfallen sein.

Das heisst: Wilhelm hat bis tief ins rechts­bürgerliche Lager mobilisieren können. Und: In Davos scheint von links bis rechts Konsens zu herrschen, dass sich etwas ändern muss.

Eine logische Wahl

Mit 32 Jahren ist Philipp Wilhelm ein junger Landammann, aber nicht der jüngste in Davos. Christian Jost war ein Jahr jünger, als er 1956 ins Amt gewählt wurde. Auch Jost war ein unwahrscheinlicher Kandidat, und auch damals steckte der Ort in einer Krise.

Während des Dritten Reichs gilt die Alpenstadt als Schweizer Nazihochburg – aber was die Davoserinnen weitaus tiefer erschüttert, ist die Erfindung des ersten wirksamen Tuberkulose-Medikaments Ende der Vierzigerjahre.

Jost baut den Kurort zum Wintersport­ort um, erkennt, dass Davos für die Medizin auch über die Luftkur­häuser hinaus ein wichtiger Ort bleiben kann: 1969 baut die Gemeinde den Ärzten ein Kongress­haus. Zwei Jahre später findet dort zum ersten Mal das European Management Forum statt, das ab 1987 World Economic Forum heisst.

Davos war bisher stets aussergewöhnlich gewieft darin, Impulse von aussen aufzunehmen und weiter­zudrehen und es rechtzeitig zu erkennen, wenn die alten Tricks plötzlich alt aussehen – und wann jemand kommen muss, der neue erfinden will.

So gesehen war Wilhelm in der Davoser Tradition die logische Wahl.

Es ist Samstag, und Wilhelm empfängt in der Wohnung, die er vor ein paar Wochen mit seiner Partnerin Mara Sprecher bezogen hat, direkt an der Promenade in einem ehemaligen Gästehaus für Kurgäste. Davor hat das Paar ein Jahr in einer Zweizimmer­wohnung Home­office gemacht. Wilhelms Vater, ein Klein­unternehmer mit eigener Schreinerei und noch immer Mitglied der FDP, hat gerade die Schränke vorbei­gebracht, die der Sohn entworfen hat. Nach dem Studium arbeitete Wilhelm bis zu seiner Wahl als Land­ammann im Familien­betrieb regelmässig als Schreiner­gehilfe. Auch das half ihm bei der Wahl – Baustellen­glaubwürdigkeit.

Sein politisches Engagement hat Wilhelm immer an Davos gebunden, auch im Studium. Die meisten seiner Mitschüler aus dem Gymi sind längst weggezogen. Gut ausgebildete Arbeits­kräfte hier zu behalten und neue zu gewinnen, «das ist das Ziel», sagt er.

Welche Bedürfnisse sind für den Erfolg von Davos wichtiger – die der Einheimischen oder die der Touristen?

«Ich glaube, die Bedürfnisse sind grösstenteils die gleichen. Von einer funktionierenden Infra­struktur, städtischen Angeboten und einer intakten Umwelt profitieren beide Seiten. Und Touristen kommen lieber an einen Ort, an dem die Menschen gerne leben – und nicht gern an Orte, wo die eigene Anwesenheit etwas kaputtmacht.»

Wilhelms Partnerin arbeitet als Projekt­leiterin bei der Schulden­prävention der Stadt Zürich, lebt aber hauptsächlich in Davos – und fährt ein- oder zweimal pro Woche für Sitzungen ins Unterland. Wilhelm glaubt, dass dieses Modell Zukunft hat. «Dank der Homeoffice-Verordnung sind unsere Zweitwohnungs­betten wärmer denn je.» Daraus schliesst Wilhelm auf das Bedürfnis der Städter, sich in die Berge zurück­zuziehen. Und im Gegensatz zu anderen Alpen­gemeinden habe Davos einen entscheidenden Vorteil: «Wir haben die Natur, das Ländliche, aber wir sind auch eine Stadt, und das urbane Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft.»

Wilhelm schaut hoch zu den Bergen. Die Sonne scheint in den frisch gefallenen Schnee – Lawinen­gefahr. «Hoffen wir, die Touren­fahrer sind vorsichtig», sagt Wilhelm und klopft mit den Fingern auf den Tisch.

Mit Zürich mithalten

So schön er auch ist, der Berg, er bändigt immer ein bisschen mehr, als er sich bändigen lässt. In Davos gibt es Winter, in denen die Gipfel Schnee spucken wie Eisvulkane. Mehr als drei Dutzend verheerender Lawinen­winter soll es hier seit 1600 gegeben haben – zuletzt 1968, schreibt die «Davoser Revue», ein Magazin, das 1925 von einem russischen Kurgast gegründet wurde.

Durch die besondere Häufigkeit und Heftigkeit ist Davos prädestiniert für die Lawinen­forschung. Seit 1936 werden in Davos Schnee­gänge erforscht. Heute ist das Davoser Institut weltweit führend. 40 neue Arbeits­plätze entstehen dort gerade. Auch darin sind die Davoser geschickt – aus der Brache einen Garten zu machen.

Abseits vom Schnee wird ebenfalls geforscht, bei dem, was in Davos in Fülle vorhanden ist: Knochenbrüche, Allergien, Energie und Strahlung. Wilhelm führt zudem Gespräche über die Gründung eines Literatur­instituts. «Es kann und muss hier noch sehr viel mehr geforscht, geheilt, unterrichtet werden.»

Im Wettbewerb um clevere Köpfe muss die Stadt in den Bergen aber mit Zentren wie Zürich oder Genf mithalten. Deshalb will Wilhelm Davos familien­freundlicher machen: mehr Kinder­betreuung, mehr Gleich­berechtigung, bessere Dienst­leistungen, das (beeindruckend hässliche) Stadtbild verschönern – mehr Kultur. Die Kultur­strategie, die er als Land­ammann umsetzen muss, hat Wilhelm damals noch als Landrat gegen den Willen der damaligen Gemeinde­regierung durchgedrückt.

Wilhelm hat eine Menge Pläne. Und alle kosten Geld. Doch er hat Glück: Dank der geschickten Finanz­politik seines Vorgängers Tarzisius Caviezel ist die Stadtkasse saniert. Das ermöglichte es im Jahr 2020, rekordhohe Investitionen zu beschliessen von über 50 Millionen Franken. Höher als die des dreimal grösseren Churs, der einzigen anderen echten Stadt im Kanton.

Ebenfalls noch unter Wilhelms Vorgänger angedacht: eine Steuer­senkung um 4 Prozent. Wilhelm will daran wenn irgendwie möglich festhalten.

Ein Sozialdemokrat, der Steuern senken will – Herr Wilhelm?

«Sicher ungewöhnlich. Aber die Leute haben ja geholfen, die hohen Investitionen zu finanzieren. Es wäre der Versuch, wenn Covid es zulässt, den Leuten, die hier ihr Geld hart verdienen, etwas zurück­zugeben.» Besonders jetzt, sagt er, wo das Gewerbe von der Pandemie massiv gebeutelt wird.

Wilhelm will in die Zukunft schauen. Gleichzeitig muss er im Jetzt eine Krise managen. Und die zwingt den jungen Land­ammann zu etwas, was ihm eigentlich widerstrebt – Struktur­erhalt um jeden Preis.

Hunger

Bevor die Kurgäste und mit ihnen der Komfort der Moderne nach Davos kamen, war das Leben hier nur eins: hart. Das Landwasser­tal ist karg, rau, mit langen, unerbittlichen Wintern. Eines jener Täler Graubündens, in denen nur die Stämme der Walser waghalsig genug waren, Land­ausbau zu betreiben.

Bis zum Bersten füllten die frühen Davoser im Sommer und Herbst die Gaden und Spiicher – von der Witterung schwarz gebrannte Holzställe, die man an den Hängen der Seiten­täler noch heute findet. Manchmal reichte es nicht. «Wenn die Speicher einer Familie leer wurden, schlug der Vater jeweils mit der leeren Garbe auf den Stallboden», sagt Wilhelm. Ein Signal an die Nachbarn. «Wenn die Familie Glück hatte, wurde ihr Klopfen erhört, und sie fand am nächsten Tag eine Spende im Stall von den Nachbarn, die noch genug hatten.»

Bei Gesprächen mit Wirtschaftsvertretern stellte Wilhelm im Januar fest, dass die Leute trotz grosser Not keine Hilfe beanspruchten. «Teils aus Stolz, teils aus Überforderung.» Deshalb hat der Land­ammann eine Treuhand­firma damit beauftragt, eine Hotline einzurichten, auf der die Davoserinnen auf Wunsch anonym beraten werden, was ihnen an Unter­stützung zusteht; wie und wo sie diese erhalten. Garben­klopfen im 21. Jahrhundert.

Weiter hat der Landammann die Unter­nehmen entlastet, indem er ihnen die Tourismus­abgabe dieses Jahr teilweise erlässt. 1,6 Millionen kostet das die Gemeinde. «Einzelfall­betrachtung, Existenz­sicherung – das können wir als Gemeinde nicht machen», sagt Wilhelm. «Das müssen Bund und Kantone übernehmen.»

Eine seiner ersten Amtshandlungen war im Januar, zusammen mit anderen Gemeinde­präsidenten einen Brief aufzusetzen, in dem er die Regierung zum Handeln aufforderte. «Jetzt, und nur jetzt – in einer Krise, die dermassen nicht selbst verschuldet ist –, muss der Staat alles daran­setzen, die Strukturen zu erhalten. Es kann nicht sein, dass Bund und Kantone weiter die Verantwortung hin und her schieben und alles auf die Bevölkerung abwälzen!» Es ist das einzige Mal im Gespräch, dass sich der Land­ammann erbost.

Danach wird er ruhig wie die Luft nach dem Sturm, die Hände für einmal still vor sich auf dem Tisch. «Hier oben geht vielen die Luft in der Lunge aus», sagt Wilhelm. Denen, die nichts haben sowieso, den Angestellten in Kurzarbeit. «Und auch viele KMUler und Selbstständige leben jetzt von ihren Reserven, dem Ersparten. Der Betrieb überlebt am Ende vielleicht – aber alles, was sie sich erarbeitet, erträumt, erspart haben: puff.»

Das Virus hat auch Wilhelm viel gekostet. Einen Tag vor seiner Wahl stirbt sein Grossvater an Covid. Er spricht darüber, wenn er gefragt wird, aber politisieren wolle er nicht damit, sagt er.

Warum nicht?

«Man sollte nie zu sehr Politik aus persönlicher Betroffenheit machen. Die Gefahr ist zu gross, dass man irgendwann die Betroffenheit der anderen geringer schätzt als seine eigene.»

Du, Herr Land­ammann

Auf der Strasse schaut Wilhelm mit gerunzelter Stirn einer Polizei­kontrolle zu. «Wir haben etwas viel Verkehrs­bussen», flüstert er. Das Chaos auf der Strasse ist nicht zuletzt das Verdienst einer desaströsen, von Zweit­wohnungs­bau und Gier geprägten Raum­planung, die auch massgeblich zur Hässlichkeit der Stadt beigetragen hat.

Wilhelm ist zu sehr Architekt, um abzustreiten, dass Davos keine Schönheit ist. Und er ist zu sehr Davoser, das ohne Widerspruch stehen zu lassen. Deshalb hat er zusammen mit Architektur-Ikone Köbi Gantenbein und seinem ehemaligen Bürokollegen Jürg Grassl ein Buch über die baugeschichtlichen Perlen in Davos geschrieben. Beim Spazier­gang zeigt er immer wieder auf Bauten, erzählt von ihrer Entstehung und erklärt, warum die Häuser so weit auseinander­stehen – «optimale Sonnen­einstrahlung».

Die Heimat im Rücken: Philipp Wilhelm vor dem Bild «Monstein Mäschenboden» des Künstlers Gian Häne. Wer genaue Angaben wünscht: Holzschnitt und Öl auf MDF, 81,5 × 81,5 cm, 2019.

Bei seinen Ausführungen wird Wilhelm immer wieder mal unterbrochen. Die ältere Dame sorgt sich wegen Handy­strahlung, die Langläufer haben einen Vorschlag, wie die Übergänge von der Piste zur Strasse besser gelöst werden, der Familien­vater erzählt von der Schliessung seines Laden­lokals und die Geschäfts­führerin des Imbisses im stadteigenen Langlauf­zentrum rät davon ab, das Restaurant künftig zu verpachten.

Kaum ist ein Gespräch zu Ende, ruft es von irgendwoher «Du, Herr Landammann!». Für die Bürger von Davos ist Wilhelm wie ein wandelnder Sorgen­briefkasten. Und er hört zu, fragt nach, nimmt sich Zeit – und sein Gegenüber immer ein wenig ernster als sich selbst.

Allgemein scheint ihm Empathie wichtiger als Gravitas, Vernetzung wichtiger als das Durch­drücken der eigenen Meinung. Auch versucht er seine Schwächen nicht zu kaschieren, sondern legt sie entwaffnend offen auf den Tisch – zum Beispiel, wenn er in den ersten fünf Minuten des Interviews erzählt, dass er ein Coaching macht, um eine bessere Führungs­person zu werden.

Wilhelm ist ein Politiker einer neuen Generation. Einer der ersten Millennials in der Exekutive, die mit dem Internet heran­gewachsen sind und gar nichts anderes kennen als eine globalisierte Welt.

Vielleicht ist der neue Landammann von Davos ein Prototyp für die Regierenden der Zukunft – sein Stil auch andernorts eine Antwort auf die Krise.

Vielleicht auch nicht.

Wir fragen in vier Jahren noch mal.

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