Und siehe da, da ist sie: Die grosse weite Welt

Wer in der Pandemie reist, gilt als dekadent und unsolidarisch. Der Wiener Architekturjournalist Wojciech Czaja geht trotzdem auf Weltreise. Zumindest fast. Irgendwie.

Von Solmaz Khorsand (Text) und Wojciech Czaja (Bilder), 22.04.2021

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Man muss nur genau hinschauen: Hier wird aus Wien Buenos Aires.

Fernweh ist kein Weh, das besondere Empathie erfährt. Scheint es doch eher ein Wehwehchen zu sein. Eines, das jene Leute heimsucht, die mit zu viel Geld und zu viel Zeit geplagt sind. Ähnlich bemitleidenswert wie «Weltschmerz» etwa. Auch so eine ominöse Qual.

Es lässt sich daher erahnen, wie viel Verständnis in einer Pandemie den Fernwehigen entgegengebracht wird. Wie egozentrisch kann man denn auch sein, wenn inmitten von Angst, Trauer und Verlust darüber geklagt wird, so lange nicht mehr das Meer gesehen, den Sand gespürt und ein neues Panorama entdeckt zu haben? Also wirklich. Schluss mit dem Gesülze, und ab um den eigenen Block, da gibt es genug neues Panorama zu entdecken.

Genau das hat Wojciech Czaja getan. Wochenlang streifte der Architektur­journalist im ersten Corona-Lockdown vor einem Jahr durch seine Stadt Wien. Zuerst in der eigenen Strasse, dann im eigenen Viertel, später im Bezirk, und irgendwann schwang er sich auf seine Vespa und begann das zu tun, was er sonst nur in der Ferne tat: reisen. Weit weg an den Stadtrand, in die unprätentiösen Bezirke, ihre Nebenstrassen, auf unbekannte Plätze und verlassene Innenhöfe. Und siehe da, da war sie doch: die grosse weite Welt. Mitten in Wien.

Nach einem Monat Vespafahren stand er vor einem Haus in der Wolfgang­gasse, in Meidling, einem Wiener Arbeiterbezirk. Es war ein graublauer Wohnblock, erbaut um 1900. Unscheinbar eigentlich, wären da nicht die abgerundeten Balkone gewesen, die ihn so nach Bauhaus und Moderne aussehen liessen. «Ich wäre so gern in Tel Aviv», dachte Wojciech Czaja damals. Er war schlecht gelaunt. Noch nie war er so lange am Stück in Wien gewesen. Gestrandet quasi. Corona hatte ihn zwangsentschleunigt, so wie alle. Aus Frust und Sehnsucht postete Czaja sein erstes «Almost»-Bild auf seinen sozialen Kanälen: «Almost Tel Aviv».

Und hier sind wir in Tel Aviv, wenn auch nur fast …
Havanna.
Isfahan.

Hunderten gefiel das. Offenbar war nicht nur er gefrustet. Er machte weiter. 6 Tage und 15 Bilder später war die Idee für die Fotoserie «Almost. 100 Städte in Wien» geboren. Mittlerweile gibt es ein Buch und eine Ausstellung vor dem Wien-Museum am Karlsplatz, wo täglich Hunderte vorbeischlendern. Kichernd, staunend und sehnsüchtig betrachten sie Czajas Handy-Schnappschüsse. Alte Frauen sehen sich «Almost Brno» an und versprechen einander, so schnell wie möglich dorthin zu reisen, wenn die Dinge wieder ihren normalen Lauf nehmen; ein persisches Paar lächelt still in sich hinein, als es vor dem Bild «Almost Esfahan» steht und rätselt, in welcher Strasse dieses Wiener Esfahan denn liegen könnte; zwei Teenager ziehen sich vor «Almost Havanna» gegenseitig auf, dass sie mal wieder ihren Arsch hochkriegen müssen, um ein bisschen zu exploren.

Die Kunst des Scheuklappenblicks

Die Menschen sind hungrig auf die Welt. Und Czaja gibt sie ihnen, Bild für Bild. Er macht vor, wie einfach es sein kann, seinen Horizont zu erweitern, einen Blick über den Tellerrand zu wagen, ohne den eigenen Teller je zu verlassen, und alle Reisekalender­sprüche vor der eigenen Haustür zu beherzigen, wenn eine globale Pandemie uns eben keine andere Wahl lässt.

Die Kunst dabei ist der richtige Blick. Wer die Welt sehen will, muss ihn schärfen – und paradoxerweise auch manchmal verengen: «Es ist ein bewusster Scheuklappen­blick, der auf etwas fokussiert und alles andere ausspart», sagt Czaja – und zeigt gleich wie. Zum Beispiel in der Bahnhofs­halle am Praterstern vor einem Running-Sushi-Restaurant: Am Eingang sind zwei Stein­elefanten zu sehen, dahinter der hingekritzelte Hinweis, dass Eltern für ihre Kinder haften, wenn die Knirpse die Dickhäuter besteigen. Czaja geht in die Hocke, aus der Frosch­perspektive wirken die Elefanten viel grösser und sehen fast so aus, als stünden sie vor einem Tempel. Fast so wie an jenen Orten, wo sie auch tatsächlich anzutreffen sind und verehrt werden, etwa in Kandy, Sri Lanka.

Weimar.
Kandy.
Asuncion.
Hongkong.

Danach geht es nach Weimar, zu Fuss ein paar Strassen weiter, zum Depot der Wiener Strassen­kehrer. Es ist gut versteckt in einer Seitenstrasse, wo kaum jemand hinkommt. Man braucht sich nur an den Eingang zu stellen, und aus dem richtigen Winkel ist ein kitschiges Idyll zu erkennen, sattes Grün, Sträucher und Bäume, eine ruinenartige Backstein­mauer. Voila: Weimar.

Ein und dieselbe Kirche, zwei Kontinente

Um weiter zu reisen, heisst es einchecken, mit Helm und Klammergriff auf den Rücksitz von Czajas Vespa. Eine kleine Welttour hat er geplant, von Russland über Holland und die USA bis nach Sansibar. Geduldig coacht er seine Passagierin im richtigen Sehen. Es ist schwieriger als gedacht. Der erste Blick ist trügerisch, wie so oft. Bei «Denver» etwa. Zu sehen ist nur das schmucklose Gebäude einer Pensions­versicherung, mit zu viel Dekorations­gestrüpp am Eingang. Von der Rückseite offenbart sich hingegen eine ganz andere Welt: ein Glaskomplex, protzig und imposant, wie er hundertfach in amerikanischen Metropolen zu finden ist.

Nürnberg.
Denver.

Alles nur eine Frage der Perspektive also, so wie bei der Kirche am Mexikoplatz. Wer die Aufmerksamkeit auf das wuchtige Eisentor mit der Kassettierung legt, wird erinnert an die Hofanlagen der alten Sultan­paläste in Stone Town in Sansibar. «Je reichhaltiger und metallschwerer ornamentiert wurde, umso wohlhabender war der Hausherr», sagt Czaja. Wessen Auge eher am dunklen Holz am Eingang der Kirche hängen bleibt, kann hier eine kitschige Hommage an das Mittelalter entdecken, ein bisschen Nürnberg. Ein und dieselbe Kirche, zwei Kontinente, wenn nicht sogar mehr.

Vor Corona ist Wojciech Czaja fünfzig- bis sechzigmal im Jahr verreist, einen Tag bis einen Monat lang war er jeweils unterwegs. Seiner lokalen Reise­kompetenz kommt die Globetrotter-Schulung nun zugute. Wer weiss, wie Eisentore in Sansibar wirklich aussehen, erkennt sie eben auch zu Hause. Hinzu kommt sein Wissen über Architektur, Stadtgeschichte und Bausubstanz. So erkennt er in einer Häuserzeile gegenüber des Vergnügungsparks Prater ein kleines Stück Russland. Es ist ein frisch gestrichenes weiss-gelbes Wohnhaus, das sofort ins Auge sticht. «Almost Nowgorod», sagt er. In Russland sei es derzeit Mode, historische Architektur nicht «zu Tode zu sanieren, aber zu Tode anzufärben und anzuzuckern».

Entzückende Ferne oder unerwünschte Fremde?

In Wien hat es Tradition, sich die Welt nach Hause zu holen. Mal in Miniaturform, wenn venezianische Palazzi à la Dogenhof auf der Prater­strasse repliziert werden, und mal ganz gross, wenn die gesamte Welt auf 240 Hektaren mitten in der Stadt nachgestellt werden soll, wie in der Weltaus­stellung 1873. Vom Wigwam bis zur persischen Villa war alles dabei.

Die Ferne hat einen fixen Platz in der ehemaligen Residenz­stadt des Habsburger Reichs. Es ist unübersehbar. So wie in vielen Städten Europas. Erkannt wird das nicht immer. Anerkannt schon gar nicht. Dann wird aus der entzückenden Ferne ganz schnell das unerwünschte Fremde. Etwas Bedrohliches, Okkupierendes, etwas, das nicht zu «uns» passt, unser Stadtbild verschandelt. Da sprechen österreichische Politikerinnen schnell von Parallel­gesellschaften, etwa eine Integrations­ministerin, die vor Little Italys und Chinatowns warnt, die «wir» hier nicht wollen. Oder Schweizer Initiativen, die Minarettverbote durchsetzen, weil ein seltsam anmutendes Türmchen die «Ausbreitung der Islamisierung» im Land begünstigen würde.

Marseille.
San Francisco.
Coney Island.
Pere Lachaise Paris.

Wojciech Czaja verzieht das Gesicht: «Mir macht so etwas immer Angst.» Er zitiert die kanadische Stadtforscherin Jane Jacobs. «The point of cities is multiplicity of choice», hat sie einmal gesagt. Die Stadt ist die Vielfalt der Wahl. Anders ausgedrückt: So viel Vielfalt hält eine Stadt schon aus und mag sie für einige noch so parallel stattfinden. Ein paar Minarette, Dönerstände und Pizza­buden müssen zumutbar sein, ohne dass der Ausnahme­zustand ausgerufen wird. «Hört auf, euch anzuscheissen, dass euch irgendjemand etwas wegnimmt», sagt Czaja, «sie geben euch doch etwas dazu!»

Introvertierte Welt

Reisen ist das niederschwelligste Mittel gegen Fremdenhass. Dass es im vergangenen Jahr weniger zum Einsatz kam, hinterlässt seine Spuren. Das «Wir» wird wieder sehr eng gefasst, so eng, dass mitunter nur mehr die Kernfamilie und ein paar Freunde darin Platz finden, alle anderen sind potenzielle Viren­schleudern. «Im Augenblick ist alles sehr introvertiert, exklusiv und konservativ», sagt Czaja. «Die Welt ist sehr klein geworden, aber ich glaube, dass sich das wieder ändern wird und dass vielleicht auch die Präsenz des Fremden bewusster wahr­genommen und geschätzt wird.»

Vielleicht sollte das nächste Mal die eine oder andere Politikerin auf dem Rücksitz seiner Vespa Platz nehmen. Vielleicht gelingt es ja, ihren Blick zu schärfen für all das, was vor der eigenen Haustür auch zu Hause ist. Und nebenbei die Welt zu entdecken.

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