Wir machen das schon

Die Grünen sind in Deutschland auf dem Weg zur Volkspartei. Nun haben sie auch ihre Kanzler­kandidatin bestimmt. Doch die grosse Frage ist: Wie lange gelingt der Partei der Spagat zwischen links und konservativ noch?

Von Nils Markwardt (Text) und Agnès Ricart (Illustration), 20.04.2021

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Nun ist es also Annalena Baerbock geworden. Sie – und nicht Robert Habeck – wird für die Grünen als Kanzler­kandidatin in die Bundestags­wahl am 26. September gehen. Es ist die erste Kanzler­kandidatur der Partei überhaupt. Doch vielleicht muss man, wenn man über die Grünen in diesem deutschen Super­wahljahr 2021 reden will, bei Angela Merkel anfangen. Oder bei «Father Ted».

In dieser Comedyserie, die aus den 1990er-Jahren stammt und sich um das Leben dreier irischer Priester dreht, bemerkt der titel­gebende Protagonist einmal: «Das ist das Tolle am Katholizismus: Er ist so vage, dass keiner wirklich genau weiss, worums geht.» Das beschreibt nicht nur das Erfolgs­rezept einer welt­umspannenden Religion. Es ist auch eine Formel für politischen Erfolg – allen voran die des Merkelismus. Schliesslich speiste sich die nun fast sechzehn Jahre währende Amtszeit der deutschen Bundes­kanzlerin nicht zuletzt aus ihrer beeindruckenden Fähigkeit, durch einen möglichst deutungs­offenen Stil immer wieder zur Projektions­figur zu werden.

Indem Angela Merkel immer daran gelegen war, sich nicht vorschnell festzulegen oder unumstössliche Positionen einzunehmen, blieb sie ideologisch stets so flexibel, dass jede in ihr genau das erkennen konnte, was sie wollte. Während die einen sie deshalb als Pragmatikerin mit grund­liberalem Moral­kompass schätzen, imponiert anderen ihr macht­taktisches Gespür zur Dezimierung der politischen Konkurrenz, wiederum andere sehen in ihr die strenge Hüterin konservativer Fiskalpolitik.

Unabhängig davon, ob sie all das – oder vielleicht auch nichts davon – wirklich ist, verkörpert Merkel wie keine Zweite das Prinzip Volks­partei: ein programmatischer Gemischt­warenladen, der ein breites Angebot besitzt, aber dennoch nicht komplett beliebig wirkt – und dessen Präsentation vor allem möglichst wenig Leute verschreckt.

Wie erfolgreich und stilbildend Merkel dieses Prinzip persönlich übersetzte, wird in den letzten Monaten ihrer Amtszeit gleich doppelt deutlich. In der Union, wo der Merkelianer Armin Laschet (CDU) und der im Eiltempo zum Neo-Merkelianer mutierte Markus Söder von der Schwester­partei CSU um die Kanzler­kandidatur buhlen. Und ausgerechnet beim mittler­weile grössten Konkurrenten der Christ­demokraten: bei den Grünen.

Die Partei, die gestern Annalena Baerbock zu ihrer Kanzler­kandidatin kürte, ist nämlich nicht nur auf personeller, sondern auch auf struktureller Ebene merkelianisch geworden.

Oder grundsätzlicher: Die Grünen, die bis heute mit dem Image der Verbots- und Privilegierten­partei kämpfen, haben sich institutionell wie habituell Merkels flexible Vagheit zu eigen gemacht.

Mittlerweile hat niemand erfolgreicher die merkelsche Losung verinnerlicht, dass es, um möglichst breit wählbar zu werden, oft weniger darauf ankommt, was man sagt und tut; sondern vielmehr darauf, was man beschweigt und unterlässt. Das alles ist umso bemerkens­werter, je weiter man in die Geschichte der Partei zurück­schaut. Historisch gesehen mutet es geradezu wie eine Quadratur des Kreises an.

Wie also sind die Grünen von einem einst radikal­demokratischen, streitsüchtigen Ein-Milieu-Protest­haufen zu jener harmonie­bedürftigen Proto-Volks­partei geworden, die ihre Kanzler­kandidatin zumindest nach aussen gerade ostentativ geräusch- und debattenlos kürte?

Drei Gründe für das neue Grün

Der erste Grund liegt auf der Hand. Über vierzig Jahre nach ihrer Gründung im Januar 1980 haben die Grünen so viele Konsolidierungs-, Etablierungs- und Häutungs­prozesse hinter sich, dass sie schlichtweg zu einer durch­professionalisierten, links­liberalen Partei mit klar artikuliertem Regierungs­anspruch geworden sind.

Der zweite Grund liegt ebenfalls nahe: Mit der Zeit hat sich auch die Wählerschaft der Grünen verändert. Und zwar nicht nur, weil die Partei nun insgesamt mehr Zustimmung erhält (bundesweit lag sie in Umfragen zuletzt stabil über 20 Prozent). Sondern auch, weil sich die Alters­struktur ihrer Wählerschaft gewandelt hat: Nach wie vor werden die Grünen zwar über­durchschnittlich stark von jungen Menschen gewählt. Während aber in ihrer Anfangs­phase über 80 Prozent der Grün-Wählerinnen unter 35 Jahre alt waren, liegt der Anteil dieser Gruppe inzwischen nur noch bei 10 Prozent.

Es gibt aber noch einen dritten und sehr entscheidenden Grund, wieso die Grünen dieser Tage so betont moderat, integrativ und versöhnend auftreten. Warum sie allerorten Begriffe wie «Verantwortung», «Verbinden» und «Zusammen­führen» in den Vorder­grund schieben sowie ihr Bundes­tags­wahl­programm mit dem Slogan «Deutschland. Alles ist drin» überschrieben. Und weshalb sie die amtierende Koalition aus Christ- und Sozial­demokraten nicht viel härter etwa für ihre unzureichende Pandemie­politik kritisieren, obschon das Aufmerksamkeit und Zustimmung im eigenen Milieu verspräche.

Die Kurzantwort dafür lautet: «neue Mittelklasse». Die ausführlichere Variante davon beschreibt das zentrale Dilemma der Partei.

Denn einer der grössten strategischen Vorteile der Grünen ist gleichzeitig auch ihr wunder Punkt.

Einerseits profitieren die Grünen enorm vom Zeitgeist. Ihr Kern­anliegen, der Umwelt- und Klima­schutz, ist das zentrale Thema der Gegenwart, was exemplarisch durch das aktuelle «Time»-Cover deutlich wird, auf dem es heisst: «Climate is everything».

Zudem sind die Grünen die Partei, die am stärksten jenen sozialen Struktur­wandel verkörpert, den der Soziologe Andreas Reckwitz Singularisierung nennt. Gemeint ist damit die gesellschaftliche Aufwertung von allem Besonderen und Einzigartigen.

Menschen, Identitäten, Dinge, Erfahrungen oder Orte gelten in unserer Gegenwart zunehmend dann als wertvoll, wenn sie als singulär erscheinen. Im Gegensatz zur «Logik des Allgemeinen», die bis zum Ende des Zeitalters der industriellen Massen­gesellschaft in den späten 1970ern vorherrschte, entwickelte sich mit dem Aufstieg der postindustriellen Wissens­ökonomie sukzessiv die «Logik des Besonderen»: Lebens­stile und Konsum­güter gelten als begehrens­wert, wenn sie «einen Unterschied machen», also wenn sich der Designer­stuhl, der individuelle Wander­urlaub oder das eigene Selbst­bild vom Durchschnitt abheben – zumindest gefühlt.

Nun ist die Wählerschaft der Grünen in den letzten Jahren zwar weitaus heterogener geworden, und der typische Grünen-Wähler unterscheidet sich in puncto Haushalts­einkommen kaum von Wählerinnen anderer Parteien. Laut einer Analyse der «Zeit» haben 27 Prozent der Grünen-Wähler sogar weniger als 1500 Euro im Monat zur Verfügung. Gerade bei jungen Grün-Wählerinnen relativiert sich dieser Befund aber dadurch, dass viele von ihnen in absehbarer Zeit einen signifikanten Einkommens­zuwachs erhalten dürften. Denn die Anhänger der Grünen zeichnen sich immer noch deutlich dadurch aus, dass sie über­durchschnittlich hohe Bildungs­abschlüsse besitzen.

Damit repräsentiert die Wählerschaft – ebenso wie viele Amtsträgerinnen – der Grünen en gros relativ genau jene, wie Reckwitz es nennt, «neue Mittel­klasse», die in hohem Masse aus universitär gebildeten, tendenziell urbanen und ökologisch sensibilisierten Milieus besteht. Wenn nun diesen Milieus im Zuge der Singularisierung zunehmend eine kulturelle Leit­funktion zukommt, profitieren die Grünen davon.

Deshalb wundert es auch nicht, dass sie aktuell bereits in 11 von 16 Bundes­ländern mitregieren und im Autoland Baden-Württemberg mit Winfried Kretschmann sogar den Minister­präsidenten stellen. Auch im restlichen (West-)Europa sind grüne Regierungs­beteiligungen nunmehr zum Normalfall geworden – aktuell etwa in Österreich, Belgien, Finnland, Irland, Luxemburg und Schweden.

Einerseits also gilt: Die Grünen sind die Partei des Zeitgeistes.

Andererseits: Das ist für die Grünen auch ein erhebliches Problem.

Fluch des Zeitgeistes

Denn derselbe gesellschaftliche Struktur­wandel, der den Grünen wachsende Wähler­zahlen beschert, hat auch seine Kehrseiten, die wiederum ebenso auf die Grünen zurückfallen. Wird durch die Singularisierung das Besondere aufgewertet, bedeutet das nämlich im Umkehr­schluss, dass das Standardisierte, Durch­schnittliche und «Normale» abgewertet wird. Dementsprechend kreisen die hitzigen identitäts­politischen Debatten der Gegenwart nicht zuletzt um die Frage, ob die «kleinen Leute», einfache Arbeiterinnen und Angestellte, zunehmend vergessen würden, weil politische Parteien verstärkt Anerkennungs- und Gleichstellungs­politiken betrieben.

Diese These erscheint zwar schon deshalb seltsam, weil etwa gerade viele Migranten aus dem unteren Lohn­segment tagtäglich Rassismus erleben oder Kassiererinnen und Pflege­kräfte im Alltag ganz besonders von Sexismus betroffen sind, sodass sich Identitäts­politik grundsätzlich überhaupt nicht im Widerspruch zu den «kleinen Leuten» befindet. Dennoch stehen innerhalb des Parteien­spektrums besonders die Grünen im Verdacht, am Ende nur Politik für linksliberale Öko-Eliten und Minderheiten zu betreiben.

Entsprechend oft firmieren die Grünen bei politischen Gegnern als Vertreter jenes gleicher­massen privilegierten wie «hyper­moralischen» Prenzlauer-Berg-Altbau-Milieus, das Diesel­fahrerinnen zu Umwelt­schweinen erklärt, aber selbst zweimal im Jahr zum Yoga-Retreat in die Toskana fliegt.

Das ist zwar ein polemisches Klischee. Aber es schwebt so oder so ähnlich im Diskurs eben permanent über den Grünen. Anders formuliert: Kaum eine andere Partei steht im politischen Wettbewerb so sehr unter dem Verdacht der Doppel­moral wie die Grünen.

Das mag unfair erscheinen oder nicht, ist aber eine diskursive Realität, mit der die Grünen umgehen müssen. Und tatsächlich machen sie das mittler­weile auch.

Besonders deutlich sieht man das an Robert Habeck. In einem Mitte März erschienenen Porträt beschrieb der Autor Robert Pausch, der den Co-Vorsitzenden der Grünen lange begleitet hatte, sehr eindrücklich, wie Habeck sukzessive sein öffentliches Auftreten veränderte, nachdem sich «der Hype in Häme verwandelt» hatte. Führte Habecks joviale Art immer öfter zur Kritik, es handle sich bei seinen Auftritten um Politkitsch für Privilegierte, war auch der Doppelmoral-Vorwurf stets nicht weit.

Nachdem Habeck sich etwa im Juli 2020 bei einer Wanderung in Schleswig-Holstein in überladener Pose mit Konik-Pferden hatte ablichten lassen, wiesen die Schlag­zeilen in den nächsten Tagen darauf hin, dass diese Ponys früher unterernährt waren und aus einem gescheiterten Natur­schutz­projekt stammten, bei dem auch Pferde an Mangel­ernährung gestorben seien. Die Botschaft dabei lautete: natur­romantische Fassade, bittere Realität.

Bei Auftritten, Interviews oder auf Instagram zeigt sich deshalb mittlerweile ein anderer Habeck. Einer mit weniger Pathos und weniger Direktheit. Einer, der nüchterner und mehr im Vagen bleibt. Doch nicht nur auf habitueller, sondern auch auf inhaltlicher Ebene scheinen die Grünen um ihre Angriffs­flächen zu wissen. So greift Habeck in seinem jüngst erschienenen Buch «Von hier an anders» etwa die Debatte um Singularisierung und Identitäts­politik ganz konkret auf. Man merkt, dass er seinen Reckwitz gelesen hat. Wiederholt verweist Habeck darauf, dass eine grosse politische Heraus­forderung der Gegenwart sich im «Paternoster­effekt» zeige: Während der gesellschaftliche Aufzug für manche gerade nach oben geht, geht er für andere nach unten.

Oder wie Habeck ausführt: «Diejenigen, die nichts Besonderes zu bieten haben, die einfach nur ein durch­schnittliches Leben führen, drohen emotional zu Verlierern zu werden. Sie haben im Wettbewerb der Identitäten wenig zu bieten.»

Diese Sätze sind auch deshalb bemerkens­wert, weil sie im Kern nicht allzu weit weg sind von denen Sahra Wagenknechts. Die Linke-Politikerin, die öffentlich wie kaum eine Zweite die Grünen und deren Stamm­klientel polemisch angeht, schreibt in ihrem ebenfalls gerade erschienenen Buch «Die Selbstgerechten»: «Die Herkunft aus sozial schwierigen Verhältnissen, Armut oder ein Job, in dem man seine Gesundheit ruiniert, sind eher ungeeignet, um im Rahmen der Identitäts­politik als Opfer zu gelten.» Wobei man aber bei aller Ähnlichkeit in der Analyse auch direkt den markanten Unter­schied in der Form erkennt. Habecks Ton ist eher deskriptiv, der von Wagenknecht auf Konfrontation und Zuspitzung ausgelegt.

Grüne Merkelianer

In diesem Kontrast wird deutlich, was im Kern die Strategie der gegenwärtigen Grünen ausmacht: Es soll moderat und mitnehmend zugehen. Nicht der Konflikt, Distinktion oder Abgrenzung werden gesucht, sondern grösstmögliche Anschluss­fähigkeit. Und bei all dem gilt es noch die Kritik der Konkurrenz zu antizipieren und schon im Ansatz zu relativieren.

Die Grünen wissen also mittlerweile sehr genau, wie schnell sie bestimmte Vorwürfe triggern können, seien sie gerecht­fertigt oder nicht. Dementsprechend scheint die Devise zu lauten, sich auf einen grünen Merkelismus zu verlegen: Breit wählbar werden, indem man das Gefühl erzeugt, dass man einerseits zwar Haltung hat, die Dinge am Ende aber auch irgendwie «unideologisch» regeln wird.

Vor diesem Hintergrund wirkt es dann auch geradezu folgerichtig, dass die Grünen sich nun auf Annalena Baerbock als Kanzler­kandidatin geeinigt haben, obwohl diese noch nie ein Ministerinnen­amt innehatte – im Gegensatz zu Habeck, der von 2012 bis 2018 stellvertretender Minister­präsident und Umwelt­minister in Schleswig-Holstein war. Insgesamt lassen sich bei der studierten Völker­rechtlerin zwar kaum inhaltliche Unter­schiede zu Habeck ausmachen. Aber abgesehen davon, dass sie innerhalb und ausserhalb der Partei ob ihrer Kompetenz sowie fachlichen Detail­arbeit geschätzt wird und als Frau zudem den feministischen Anspruch der Partei untermauert, macht sie bis dato vor allem eines: keine Fehler.

Gerade im Vergleich zum derzeit chaotischen Macht­kampf in der Union, zum kommunikativ oft unabgestimmten Auftreten der SPD-Spitze, zur Dauer­zerstrittenheit der Linken oder zum immer etwas zu grossen Ego von FDP-Chef Christian Lindner wirkt Baerbocks freundliche Professionalität wie ein performativer Regierungs­anspruch. Zumal sie diesen mit einem ostentativ unprätentiösen Habitus kombiniert.

In einem Fragebogen, den sie jüngst für das Magazin «Frankfurter Allgemeine Quarterly» ausfüllte, umschrieb sie ihre Vorstellung des vollkommenen irdischen Glücks etwa mit «Ein Banana-Split-Eis, mit Schoko- statt Vanillekugeln, bei Sonne in der Eisdiele, zusammen mit meiner Familie»; als Lieblings­komponisten gab sie «klassisch Beethoven, zeitgenössisch Amy Winehouse» an; und als Lieblings­tugend verbuchte sie «Empathie». Viel deutlicher lässt sich auf habitueller Ebene wohl kaum kommunizieren, dass man niemanden verschrecken will.

«Keine Sorge, wir machen das schon»: So liessen sich die Auftritte des Duos Habeck/Baerbock zuletzt auf ihre Kernbotschaft bringen.

Ob diese Strategie der freundlichen Vagheit am Ende wirklich aufgeht, ist allerdings fraglich. Schon deshalb, weil unklar bleibt, wie lange das Teile der Partei mitmachen. Als Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg kürzlich die grün-schwarze Koalition mit der CDU fortsetzte, obwohl auch eine Ampel­koalition mit SPD und FDP möglich gewesen wäre, machte die Jugend­organisation der Partei etwa ihrem Unmut darüber überdeutlich Luft. Und auch in der Wählerschaft der Grünen gibt es nach wie vor nicht unerhebliche Teile, die von der Partei in puncto Klima-, Gesellschafts- oder Verkehrs­politik wesentlich bestimmtere Botschaften fordern.

Vor allem ist die Frage, ob die Grünen, wenn sie nach der Bundestags­wahl die dann vermutlich einzig mögliche Regierungs­konstellation mit der Union eingehen, von den Christ­demokraten nicht politisch abgekocht werden. Da mit einer Regierungs­beteiligung immer ein Aufweichen bestimmter Forderungen und Über­zeugungen einhergeht, wird entscheidend sein, wie viel dann von ihren Positionen noch übrig ist, wenn sie zumindest kommunikativ bis dato kaum rote Linien ziehen. Aus macht­politischer Perspektive gibt es für die Grünen derzeit allerdings auch kaum plausible Alternativen zu diesem Kurs der freundlichen Vagheit. Zumindest dann nicht, wenn die Grünen nicht auf halbem Weg zur Volkspartei stecken bleiben wollen.

Aktuell bietet sich der Ökopartei die Chance, jenes macht­politische Vakuum zu füllen, das durch den baldigen Abgang Angela Merkels entsteht. Und deren politische Kern­botschaft, dass man kein glühender Fan sein müsse, aber von ihr immerhin solide und pragmatisch regiert werde, ist letztlich auch die neue Botschaft der Grünen. Es ist, in den Worten von Annalena Baerbocks gestriger Rede, das Angebot der Grünen «für die gesamte Gesellschaft», mit dem sie nach sechzehn Jahren auf der Bundes­ebene wieder in die Regierung wollen – und zwar nicht als kleiner Juniorpartner.

Vor diesem Hintergrund darf man Baerbocks persönliches Motto deuten, das sie im genannten Frage­bogen angegeben hat: «Wenn nicht jetzt, wann dann.»

Zum Autor

Nils Markwardt, 1986 in Mecklenburg-Vorpommern geboren, studierte Literatur- und Sozial­wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist leitender Redaktor des «Philosophie Magazins». Für die Republik schrieb er unter anderem über die Krise der Sozial­demokratie, die Landtags­wahlen in Ostdeutschland und die Lage der Unions­parteien am Ende der Ära Merkel.

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