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Fall Brian: Bundes­gericht lehnt Beschwerde ab, pocht aber auf Rechtsstaat

Brian alias «Carlos» will aus der Pöschwies verlegt werden. Das Bundesgericht weist das zurück, es spricht aber eine klare Warnung aus: Lange darf der Inhaftierte nicht mehr seinem einmalig restriktiven Haftregime unterworfen werden.

Von Brigitte Hürlimann, 20.04.2021

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Seit Mitte August 2018 schmort ein heute 25-jähriger Mann in der zürcherischen Justiz­vollzugsanstalt Pöschwies in der Sicherheits­abteilung und dort in strikter Einzelhaft. In der ganzen Zeit gab es nur drei kurze Unterbrüche, wovon zwei Aufenthalte in der geschlossenen psychiatrischen Anstalt waren.

Der junge Mann verbüsst nicht etwa eine Freiheits­strafe, er befindet sich in Sicherheits­haft. Das heisst, er wartet hinter Gittern auf seinen Berufungs­prozess, der am 26. Mai vor dem Zürcher Obergericht stattfinden wird. Thema des Prozesses unter anderem: versuchte schwere Körperverletzung, Drohung, Sachbeschädigung. Bei sämtlichen Vorwürfen geht es um Ereignisse innerhalb von Gefängnismauern.

Mit anderen Worten: Der Mann müsste eigentlich als ein Insasse behandelt werden, der auch unschuldig sein könnte, da noch kein rechtskräftiges Urteil vorliegt. Oder zumindest als einer, der vor der zweiten Gerichts­instanz eine mildere Strafe bekommen könnte, die er durch die lange Sicherheitshaft schon verbüsst hat – oder zu einem grossen Teil.

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Der Kampf von Brian, der als Jugendstraftäter «Carlos» bekannt wurde, geht weiter. Gegen die Isolationshaft, für seine Menschenwürde, gegen Schikanen – für seine Zukunft.

Unschuldsvermutung? Sollte, könnte, müsste? Der Regelfall gilt offensichtlich nicht, wenn es sich beim Insassen um Brian alias «Carlos» handelt. Dürfen die Mindest­standards eines humanen Justiz­vollzugs verletzt werden, weil sich einer renitent benimmt? Weil er als Straftäter seit Jahren schweizweit bekannt ist – und sich gegen Haft­bedingungen auflehnt, die als einmalig streng bezeichnet werden müssen?

Das Bundesgericht richtet in einem neuen Urteil klare Worte an den Zürcher Justiz­vollzug. Es sagt, die Unterbringung in der Pöschwies und die «sehr restriktiven Haft­bedingungen» liessen sich «zurzeit noch» rechtfertigen. Bei einem längeren Freiheits­entzug und einem unveränderten Regime könne sich aber die Frage eines «menschen­würdigen Vollzugs» stellen. Es brauche «alle möglichen Anstrengungen für angepasste und grundsätzlich zunehmend zu lockernde Haft­bedingungen».

Es gehe um die Würde Brians, schreibt das Bundesgericht – auch wenn sein Fall besondere Anforderungen stelle: «Der Rechtsstaat darf sich dieser Herausforderung und Verantwortung jedoch weiterhin nicht entziehen.»

Keine Kontakte, keine Beschäftigung, keine Ausbildung

Der 25-Jährige hat das höchste Gericht angerufen, weil er bisher vergebens um die Verlegung in ein Untersuchungs­gefängnis bat. Er macht darauf aufmerksam, dass seine Verurteilung noch aussteht und er deshalb nicht in einem Gefängnis untergebracht werden sollte, in dem lange Freiheitsstrafen und Massnahmen – beispielsweise die Verwahrung – vollzogen werden.

Trennungsgebot nennt man dies, wenn Inhaftierte anders behandelt werden sollten als rechtskräftig Verurteilte, bei denen die Sühne und die Resozialisierung im Vordergrund stehen; wobei die spezielle Situation der Verwahrten unterschieden werden muss. Sie bleiben aus Präventions­gründen auf unbestimmte Zeit eingesperrt (auch wenn sie ihre Strafe längst verbüsst haben), weil sie allenfalls irgendwann wieder ein schweres Delikt begehen könnten.

Das Bundesgericht lehnt Brians Verlegungs­gesuch ab, seine Beschwerde wird abgewiesen. Es sei als «Ausnahme», als «letzte Möglichkeit» zu akzeptieren, dass er die Sicherheits­haft in der Pöschwies verbringe; notabene in einem Gefängnis mit der höchsten Sicherheits­stufe und dort in der Sicherheits­abteilung – einem Gefängnis innerhalb des Gefängnisses. Das höchste Gericht begründet diesen Ausnahmefall mit der Gewalt­anwendung Brians gegenüber Personen und Einrichtungen. Er neige in Stress­situationen zu aggressivem Verhalten, das sei «gerichtsnotorisch».

Die Frage, ob das restriktive Haftregime und die jahrelange Isolierung des jungen Mannes allenfalls zur andauernden Stress­situation führen, wird vom Bundesgericht weder gestellt noch beantwortet. Immerhin hält es fest, es wäre wünschenswert, wenn Brian nicht von jenen Pöschwies-Mitarbeitern betreut würde, die ihn im hängigen Strafverfahren schwer belasten, als Zeugen gegen ihn ausgesagt haben.

Das Bundesgericht schildert in wenigen Worten, wie der Haftalltag Brians aussieht: 23 Stunden allein in der Zelle, eine Stunde Hofgang, wiederum ganz allein, in einem separaten Hof. Keine Kontakte mit Mitgefangenen, keine Beschäftigung, keine Ausbildung.

Was die Lausanner Instanz nicht erwähnt: dass der Häftling noch bis vor kurzer Zeit an den Wochen­enden nicht in den Hof durfte, also 48 Stunden am Stück in seiner Zelle eingeschlossen blieb. Und dass er während des einsamen Hofgangs unter der Woche an Händen und Füssen gefesselt blieb, nicht rennen und sich nicht austoben konnte, sondern schlurfen musste – mit geschwollenen Fuss- und Handgelenken.

Seit einigen Tagen befindet sich Brian in einer neuen Sonderzelle mit Sonder­spazierhof, den er ohne Bewacher und ohne Fesselung betreten kann, auch an den Wochen­enden. Das war zum Zeitpunkt der bundes­gerichtlichen Urteilsfällung noch nicht der Fall.

Das höchste Gericht erwähnt, dass es in der Haft immer wieder zu Zwischen­fällen kommt, die zu Dutzenden von neuen Anschuldigungen gegen den Insassen führten. Brian hat wegen seines Verhaltens zudem fast ein Jahr im Arrest verbracht – was allerdings keinen grossen Unterschied zu seinem übrigen Vollzug macht. Ob sich die Mitarbeiter dem Insassen gegenüber stets korrekt verhalten, wird im Urteil nicht thematisiert. Brian, seine Familien­angehörigen und seine Anwälte machen seit längerem Provokationen, Schikanen, Demütigungen und rassistische Äusserungen geltend.

«Öffentliche Diskussion hilft nicht bei Lösungsfindung»

«Mit seinem Urteil hat das Bundesgericht den strengen Haft­bedingungen Grenzen gesetzt», sagt der Zürcher Rechtsanwalt Markus Bischoff, der im Namen seines Mandanten die Frage der Gefängnis­verlegung nach Lausanne gezogen hatte. Bischoff war es auch gewesen, der im März vor dem Bezirksgericht Zürich einen bemerkenswerten Entscheid erstritten hat: Das Gericht taxierte die Haft­bedingungen, die Brian im Januar 2017 im Bezirks­gefängnis Pfäffikon erdulden musste, als «eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung». Damit seien menschen­rechtliche Standards, die in der Bundes­verfassung und in der Europäischen Menschenrechts­konvention festgelegt sind, verletzt worden.

Wie geht die Abteilung Justiz­vollzug und Wieder­eingliederung (JuWe) mit den beiden jüngsten Urteilen um? Sehen die Vollzugs­experten Handlungs­bedarf? Wird die Isolierung des 25-Jährigen demnächst aufgehoben oder zumindest ein bisschen gelockert?

Auf eine Anfrage der Republik antwortet Rebecca de Silva, Leiterin Kommunikation bei JuWe, per Mail (auf die Bitte um ein Telefongespräch wird nicht eingegangen): «Besten Dank für Ihr Verständnis, dass wir das Bundesgerichts­urteil nicht kommentieren. Wir diskutieren diesen komplexen Fall mit Fachleuten und suchen ständig nach neuen Lösungen. Die über Medien geführte öffentliche Diskussion hilft nicht bei der Lösungs­findung in diesem individuellen Fall. Personen­bezogene Auskünfte zu erteilen, ist auch aus Gründen des Rechts auf Persönlichkeits­schutz und des Amts­geheimnisses nicht möglich.»

Es gehört zur neuen Linie des Zürcher Justizvollzugs, Medien­vertretern mitzuteilen, sie sollen besser nicht mehr über die Haftbedingungen des jungen Mannes schreiben; das mache alles nur noch schwieriger. Deshalb sieht die Behörde auch Besuche von Journalistinnen bei Brian nur ungern. Da spielt das Obergericht allerdings nicht mit: Mitte März bewilligte es das jüngste Besuchsgesuch der Republik. Ein Treffen mit ihm ist für Mitte Mai angesetzt.

Das Urteil des Bundesgerichts vom 24. März 2021 (1B_52/2021) ist unter diesem Link publiziert.

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