Milkyways

Über die Schöpfungs­kraft und die Mythen

Wenn es zum Thema Geburt kommt, kennt die Kunst­geschichte weder Fehl- noch Totgeburten und auch keine Körper­flüssigkeiten. In der ersten Kolumne hinterfragt Camille Henrot die Schöpfungs­mythen von Kunst und Leben.

Von Camille Henrot (Idee und Kunst), Antje Stahl (Text) und Theresa Hein (Übersetzung), 17.04.2021

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«Milkyways», 2020, Wasser­farben, Acryl und Öl. Annik Wetter/Kamel Mennour Gallery

Tod und Geburt scheinen ebenso banal, unausweichlich – und doch bestimmend für die menschliche Existenz zu sein. Während der Tod allerdings immer und immer wieder zur Inspirations­quelle für Literatur und Philosophie, Film und bildende Künste wurde, sind die Darstellungen von Geburten doch recht beschränkt auf die Geburten von Gottheiten und mythischen Figuren.

Da ist zum Beispiel Venus, die nackt und schön auf einer Muschel an der Meeres­oberfläche auftaucht; Athene, die dem Kopf(schmerz) des Zeus entspringt; Eva, geformt aus der Rippe Adams – und natürlich die Jungfrau Maria mit dem Gottes­kind. Nur verdanken sie alle ihr Leben irgendwie keiner weiblichen, sondern einer männlichen beziehungs­weise göttlichen Frucht­barkeit. Sexualität und Leiden werden ausgeblendet. Es gibt weder Fehl- noch Totgeburten und auch keine Frauen, die bei der Geburt sterben: Alles ist wasser­dicht und frei von Körper­flüssigkeiten. Die weiblichen Erfahrungen von Fort­pflanzung und Geburt waren einer eingehenden künstlerischen Betrachtung ganz offensichtlich nicht wert.

Ein paar Monate nachdem ich selbst ein Kind zur Welt gebracht hatte, entschloss ich mich, an einer Serie von Bildern zu arbeiten, die ich diesem grund­legenden Kapitel unser aller Leben widmen wollte. Dafür habe ich eine App benutzt, die den Namen Procreate trägt. Sie wurde, wie es auf der Apple-Website heisst, für «professionelle Kreative und angehende Künstlerinnen» entwickelt und bietet eine Vielfalt an digitalen Pinseln. Diese kommen in meinen Gemälden zum Einsatz, helfen mir beispiels­weise, unter­schiedliche Ebenen zu entwerfen und auszuschneiden – mit der App lassen sich quasi per Hand Pinsel­striche setzen (die analogen nachgebaut sind). Während ich mich also mithilfe dieser App dem Thema Mutterschaft widmete, fiel mir auf, dass ihr Name Procreate eine recht amüsante Analogie zwischen der Produktion von Kunst und der Produktion von Kindern herstellt. Procreation ist auf Englisch ja gleich­bedeutend mit dem Begriff Fort­pflanzung oder Zeugung.

Sowohl die künstlerische als auch die menschliche Schöpfungs­kraft werden bis heute gerne als quasi mythische Phänomene betrachtet, die sich in der geheimen Sphäre von Ateliers, Schlaf­zimmern und Kranken­häusern ereignen. In der westlichen Kultur bleiben der künstlerische Genius und die Jungfrau Maria zwei einsame Figurationen. Es sind Arche­typen, die allerdings immer noch stark beeinflussen, wie wir künstlerisches, sexuelles und häusliches Leben wahrnehmen. Früher war Schöpfung ein gott­gegebenes Geschenk, denen vorbehalten, die zu den wenigen Auserwählten der Kirche, der Burg­herren und der Eliten gehörten. Nur das männliche Genie war fähig, Meister­werke wie die berühmten Venus- und Marien­darstellungen zum Leben zu erwecken – das machte die Kunst­geschichte blind für die Erfahrungen von Frauen. Im Rahmen dieser Kunst­tradition und ganz allgemein in unserer paternalistischen Gesellschaft wurde Zeugung für Frauen deshalb stets mit Selbst­aufgabe verknüpft – entweder sie opfern ihr Leben einem Kind oder, wenn es ihnen überhaupt erlaubt war, ihrer künstlerischen Berufung.

Interessant ist, dass diese ganze Moral und der Schöpfungs­mythos, welche die Kirche bis heute predigt, Risse bekommen, sobald die Technologie auf den Plan tritt: künstliche Befruchtung, das Einfrieren von Eizellen, Samen- und Eizellen­banken, vielleicht sogar bald Uterus­maschinen. Das alles entmystifiziert die Schöpfungs­geschichte, in etwa so, wie digitales Handwerks­zeug, das von Künstlern auf der ganzen Welt genutzt wird, die Produktion von Kunst entzaubert.

Bei Apple hat daran wahrscheinlich niemand gedacht, als die App auf den Namen Procreate getauft wurde. Der Titel ist ein Akronym aus den Worten professional und create und verfolgt eindeutig das Ziel, die Kunst von Amateuren herunter­zuspielen; gleichzeitig wird in der Werbung behauptet, wir könnten gänzlich auf jedes professionelle Setting verzichten und fortan «auf der Couch, im Zug, am Strand» oder während wir «in der Schlange stehen und auf unseren Kaffee warten» arbeiten. Procreation sei ein «Atelier zum Mitnehmen».

Diese unbeschwerte Seite muss für die Produktion von Kindern nun leider erst noch erfunden werden: Während Sex «auf der Couch» vermutlich so oft praktiziert wurde, wie es Sterne über uns am Himmel und im Universum gibt, muss die Vorstellung, sich besamen zu lassen, wenn wir «in der Schlange stehen und auf unseren Kaffee warten», Science-Fiction bleiben. Sexualität stellte in der Vergangenheit für Männer einen eher beiläufigen Akt dar – was also, wenn künstliche Befruchtung so einfach zu haben wäre wie eine Zeichnung mit einem Apple-Pinsel am Strand?

Zur Künstlerin

Tereza Mundilová

Das Werk der französischen Künstlerin Camille Henrot wurde unter anderem mit dem Silbernen Löwen auf der 55. Biennale Venedig ausgezeichnet. Die Geburt ihres Sohnes und die Konfrontation mit der neuen sogenannten Mutter­rolle lösten wider­sprüchliche Gefühle in ihr aus, mit denen sie sich intellektuell und künstlerisch auseinander­setzt. Zurzeit lebt Henrot mit ihrem Lebens­partner, dem Schweizer Komponisten Mauro Hertig, und ihrem Sohn Iddu in Berlin.

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