Camille Henrot arbeitet mit all den widersprüchlichen Gefühlen, welche die neue Mutterrolle in ihr auslösen.

Kunst – geboren aus sanfter Liebe und ungeheurer Wut

Die französische Künstlerin Camille Henrot erkundet in der neuen Bildkolumne der Republik die Abgründe und Abenteuer von Schwangerschaft, Geburt und Elterndasein. Zum Start von «Milkyways» ein Atelier­besuch in Berlin und New York.

Von Antje Stahl (Text) und Tereza Mundilová (Bilder), 17.04.2021

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Einigermassen stolz dürfen wir Ihnen die neue Kolumnistin der Republik vorstellen: die Künstlerin Camille Henrot, geboren 1978 in Paris.

Sie wird uns ab sofort jeden Samstag einen Einblick in ihren Alltag gewähren, der nicht nur von der künstlerischen Arbeit in ihrem Atelier im Berliner Wedding und vom Aufbau unzähliger Ausstellungen in inter­nationalen Museen geprägt, sondern auch von ihrem Sohn Iddu mitgestaltet wird.

Im Mai vor drei Jahren kam Iddu in New York zur Welt, wo Henrot zusammen mit ihrem Lebens­partner, dem Schweizer Komponisten Mauro Hertig, bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie lebte – und konfrontierte die Künstlerin erstmals mit der neuen sogenannten Mutterrolle.

Die Mutter und ihre Pflichten stehen zwar seit eh und je im Zentrum von sozial­politischen Kämpfen und werden von den unter­schiedlichsten Parteien für ihre Gesellschafts­entwürfe instrumentalisiert. Allein in der Kunst­geschichte fiel die Mutter bis ins späte 20. Jahr­hundert eher als Mangel­ware denn als Motiv auf. Die Jungfrau Maria, auch bekannt als Maria lactans – die stillende Maria –, einmal ausgenommen, deren Empfängnis jedoch so unbefleckt ist, dass sie sich für Henrot kaum als ikono­grafisches Vorbild eignete.

Ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes besuchte ich Camille damals noch in ihrem Atelier auf der Lower East Side in Manhattan und hatte das Gefühl, in einen Eimer voller Farbe zu treten – überall lagen unzählige rot kolorierte Studien von Frauen­akten aus, an deren vollen Brüsten Milch­pumpen hingen, Abstraktes verschmolz mit Figurativem, alles schien in Fluss geraten zu sein. Ihr Werk, ausgezeichnet unter anderem mit dem Silbernen Löwen auf der 55. Biennale Venedig, scheute zwar nie den Sexappeal des bunten Pop. Aber wer sich wie ich in ihre früheren Arbeiten hinein­verliebt hat, weiss, dass sie eher zurück­haltend mit wilden Pinsel­strichen ist und in den komplexesten, scheinbar den gesamten Kosmos erklärenden Ausstellungs­projekten immer auch Leer­stellen zulässt.

Ob ihre Arbeit expressionistischer geworden sei, fragte ich sie am Karfreitag im Gespräch in Berlin, wo sie mit ihrer Familie seit etwas über einem halben Jahr lebt. «Ich widme mich schon immer den gesellschaftlichen, psychischen oder körperlichen Zuständen, die sich nicht auflösen lassen, Orten der Ambivalenz und des Konflikts», sagte sie. «Nach der Geburt meines Kindes empfand ich eine extrem sanfte und zärtliche Liebe, aber auch ungeheure Wut, vermutlich allem gegenüber, was wir allgemein als Gesellschaft oder Gesellschafts­system bezeichnen: dem Gesundheits- und Erziehungs­wesen gegenüber zum Beispiel oder dem Gewicht der Vorurteile, mit dem ja alle Frauen konfrontiert werden, nicht nur ich. Mit diesen Gefühlen, die miteinander auskommen müssen, wollte ich arbeiten.»

Im intellektuellen Zugang zum Mutter­dasein entdeckt Henrot ebenfalls «Schätze und Diamanten», wie sie sich ausdrückt:

«Ein Kind kann nicht sprechen, wir müssen uns daher buchstäblich in seine Lage versetzen, um uns so gut es geht um es zu kümmern. Während Iddu an meiner Brust hing, stellten sich mir daher unendlich viele Fragen: Küssen wir uns, weil wir dadurch am Anfang unseres Lebens überlebten? Welche Form der Sexualität wird zwischen Mutter und Kind ausgebildet? Wie erfahren sie den Trennungs­prozess? Wie werden die Worte in Iddus Gehirn abgespeichert und ja: bebildert? Eine Katze ist für ihn auch selten nur eine Katze, oft schenkt er einem Begriff eine Bedeutung, die ihn wie im Surrealismus oder in der Poesie in neue Zusammen­hänge entführt.»

Zudem erfahre jeder, der arbeite und ein kleines Kind betreue, diese Spaltung der Persönlichkeit, niemals mehr am richtigen Ort zu sein. Auch die eigene Kindheit schalte sich ohne Vorankündigung wieder in das Leben als Erwachsene ein.

Camille Henrot wird ihre Gedanken und künstlerischen Arbeiten dazu Kapitel für Kapitel in der Republik entfalten. Der Titel ihrer Kolumne «Milkyways» stammt von einem Gemälde aus Wasser­farben, Acryl und Öl, das ihrem ersten Beitrag voransteht. Wir freuen uns ungemein darauf, dass er uns in ein so vertrautes wie fremdes Universum hinein­tragen wird.

Zur ersten Folge von «Milkyways»

Wenn es zum Thema Geburt kommt, kennt die Kunst­geschichte weder Fehl- noch Totgeburten und auch keine Körper­flüssigkeiten. Warum eigentlich? Die neue Bildkolumne ist auch auf Englisch verfügbar: (Pro)Creation and its myths.

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