Die Leere füllen

Was macht es mit den Hinterbliebenen, wenn sich ein Mensch das Leben nimmt? Und wie lässt sich verhindern, dass es so weit kommt? Während Suizid­gedanken in der Pandemie stark zunehmen, fehlt in der Schweiz eine umfassende Strategie.

Von Sebastian Sele (Text) und Huber.Huber (Illustrationen), 09.04.2021

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Eine Warnung: Dieser Beitrag behandelt das Thema Suizidalität. Im Text werden Suizid­gedanken, Perspektiv­losigkeit, Armut und existenzielle Krisen thematisiert.

«Sind Sie Herr Loew?», fragte einer der zwei Zivil­polizisten, die um 4 Uhr morgens vor der Haustür standen. «Können wir uns setzen?» Etwas mehr als drei Jahre sind seit der Nacht vergangen, in der J.J. Loew erfuhr, dass sich sein Vater das Leben genommen hatte. «Im ersten Moment», erinnert sich der 26-Jährige, «zieht es einem die Welt weg.» Man befinde sich im Nichts. Man fliege. Ohne Ziel. «Man wird zum Spielball, sucht ununter­brochen nach irgend­einer Form von Kontrolle.»

«Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, mein Vater hat mir alles Schlimme angetan, was ein Mensch einem anderen antun kann. Für mich war es ein wildes Durch­einander von Emotionen: Ich fühlte mich betrogen, war wütend, hatte Schuldgefühle.»

Um 7 Uhr an jenem Morgen klingelte es erneut. Schon wieder Polizei. Dieses Mal mit einem Auto­schlüssel, einem Haufen administrativer Fragen und der Realität. «Das tat gut.» Der Boden, er war wieder da. Zumindest für diesen Moment.

Doch seit dieser Nacht führt J.J. Loew einen Kampf, den niemand sonst sehen, fühlen und verstehen kann. Da sind die Vorwürfe, die Wut, das Gefühl, mitverantwortlich zu sein. Da sind die Gedanken, die sagen: Das hat nichts mit dir zu tun. «Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen Emotionalität und Rationalität.» Alle Gefühle, die auftauchen, müssen reflektiert werden. Allen voran: die Schuldgefühle.

Als diese gekommen seien, sagt er, «habe ich sie betrachtet, eingeordnet und wieder abgelegt. Immer wieder. Bis mein Gehirn verstanden hat, dass diese Gedanken nicht konstruktiv sind.»

J.J. Loew weiss: Dieser unsichtbare Kampf wird für immer in seinem Leben sein. «Ich musste ihn als Teil von mir akzeptieren», sagt der freischaffende Schlag­zeuger. Verarbeitung möchte er es nicht nennen, denn das Wort suggeriere einen Prozess. Und ein Prozess hat ein Ende.

Krisen­verstärker Pandemie

Jährlich sterben in der Schweiz mehr als 1000 Menschen durch Suizid. Zum Vergleich: 2019 waren es im Schweizer Strassen­verkehr 187 Menschen – weniger als ein Fünftel davon. «Mitten unter uns lebt über eine halbe Million Menschen, die aktuell Suizid­gedanken haben», hiess es 2019 in einem Bulletin des Schweizerischen Gesundheits­observatoriums. «Über 200’000 haben in ihrem Leben mindestens einmal versucht, sich das Leben zu nehmen, davon rund 33’000 in den letzten 12 Monaten.»

Pro Jahr versuchen also so viele Menschen, sich das Leben zu nehmen, wie in Uster oder Sitten wohnen. Und dabei sind jene Gruppen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit suizidal werden, noch nicht einmal Teil der entsprechenden Gesundheits­befragung: Häftlinge, Asyl­suchende, Menschen in psychiatrischen Kliniken.

In der Pandemie kommt es vermehrt zu Krisen. Zwar stieg die Zahl der Suizide nicht an, doch laut der «Corona Stress Study» der Universität Basel weist in der zweiten Welle fast jede fünfte der über 11’000 Befragten Symptome schwerer Depressionen auf. Vor der Pandemie waren es gerade mal 3 Prozent. In einer Übersichts­studie des Bundesamts für Gesundheit zu den Auswirkungen von Corona auf die Psyche heisst es: Zu Suizidalität lägen noch keine Daten vor, doch gebe es Hinweise auf eine Zunahme von Suizid­gedanken. «Diese Entwicklung sollte im Auge behalten werden.»

Die Freiwilligen, die sich bei der Dargebotenen Hand um die Sorgen und Nöte der Anrufenden kümmern, sprachen in den letzten 12 Monaten öfter über Suizidalität. 2020 rund 14 Prozent häufiger als im Vorjahr. Allein diesen Januar waren es fast 500 Anrufe – 16 pro Tag. Jeder dritte Todesfall bei jungen Männern zwischen 20 und 29 ist ein Suizid.

Ein Suizid kennt dabei immer mehr als nur einen einzigen Grund. Es sind viele Faktoren, die zusammen­spielen und sich gegenseitig beeinflussen. Das Bundesamt für Gesundheit listet unter anderem auf:

  • frühere Suizid­versuche, Einsamkeit und Hoffnungs­losigkeit, Diskriminierung und Traumata;

  • Barrieren beim Zugang zur Gesundheits­versorgung;

  • genetische und biologische Faktoren;

  • gesellschaftliche Stigmatisierung;

  • finanzielle Schwierigkeiten oder Arbeitslosigkeit.

«Ich denke», sagt J.J. Loew, «auch mein Vater könnte die Frage nicht beantworten, wieso er es getan hat.» Sein Umfeld sei offen, fürsorglich und liebevoll gewesen. «Er hätte einfach sagen können, dass er etwas verkackt hat, und alle wären auf seiner Seite gestanden.» Die Schulden, von denen die Familie erst im Nach­hinein erfahren hat, hätten doch gemeinsam in Angriff genommen werden können.

J.J. Loew ist sich sicher: «Das wusste auch mein Vater.» Aber an dem Punkt, an dem er sich das Leben nahm, sei sehr vieles zusammen­gekommen. Die Schulden waren das Offen­sichtliche. Die strenge Erziehung und die Scham, die Geheimnis­krämerei und der empfundene Leistungs­druck liegen tiefer verborgen. «Der Mensch möchte immer überleben, das ist unser Urinstinkt.»

Welcher Faktor diesem Urinstinkt am meisten entgegen­steht, ist trotz aller Komplexität klar: psychische Erkrankungen. Auch wenn psychische Krisen nicht zu Suizid­gedanken führen müssen, sind doch fast 90 Prozent der suizidalen Krisen auch psychische Krisen.

Was tut die Schweiz, um solchen Krisen vorzubeugen? Nicht genug, sagen Fachleute:

  • «Bei psychischer Gesundheit gibt es Handlungs­bedarf. Die Schweiz hat hier ein strukturelles Problem», sagt Roger Staub, Geschäfts­leiter bei der Stiftung Pro Mente Sana.

  • «Suizidprävention ist in den Leucht­turm­projekten der bundes­rätlichen Gesundheits­strategien kein Thema», sagt Sabine Basler, Geschäfts­führerin bei der Dargebotenen Hand.

Am letztjährigen Tag für Suizid­prävention präsentierte Sabine Basler in Bern ihre Sicht der Dinge. 15 Minuten Zeit, immerhin 4 von 200 National­rätinnen waren mit dabei. «Wir sind das letzte Netz für diejenigen, die allein sind, sich schämen, mit Angehörigen oder Freunden zu sprechen, Angst vor einem Psychiater haben oder kein Geld, eine Therapie zu bezahlen», schrieb sie auf eine ihrer Folien. Und auf eine andere: «Suizide sind kein zwangs­läufiges Schicksal, sondern vermeidbar! Leider sind die Investitionen in die Prävention recht schmalbrüstig.»

Kantonales Durch­einander in der Prävention

Die Suizidprävention liegt grösstenteils in der Verantwortung der Kantone. Was das bedeuten kann, wissen wir spätestens seit den Massnahmen gegen die Pandemie: 26 Kantone, 26 politische Klein­wetterlagen, 26 Herangehens­weisen – ein Durcheinander.

Die Kantone orientieren sich zwar alle am gleichen Ziel, dem «Aktions­plan Suizid­­prävention Schweiz», trotzdem haben manche von ihnen Angebote wie Hotlines, andere, gerade die kleineren, haben das nicht. Entscheidend ist, wie viel Geld und Kapazitäten für Prävention da ist. «Sollten nicht alle Menschen eines Landes Zugang zu denselben Präventions­angeboten haben?», fragt Sabine Basler und meint damit: Ist die Suizid­prävention bei den Kantonen wirklich in den besten Händen?

Wären 2012 ein paar Dinge anders gelaufen, wäre diese Frage nichtig: Der Bund könnte sich um die Suizid­prävention kümmern. Doch eine Allianz um den Gewerbe­verband erhob mit Kampf­begriffen wie «Gesundheits-Taliban» die Debatte um geplante Präventions­kampagnen zur ideologischen Schlacht, der Ständerat wurde schwach – und versenkte die Vorlage. «Dass ein Gesetz, welches den effizienteren Einsatz der verfügbaren Mittel in der Gesundheits­förderung und Prävention ermöglichen sollte und keine zusätzlichen Ausgaben vorsah, an der Ausgaben­bremse scheitert, entbehrt nicht einer gewissen Ironie», analysierte die Gesundheits­­förderung Schweiz im Anschluss.

Für Roger Staub von Pro Mente Sana ist klar: Es braucht mehr Gesundheits­förderung und Prävention. In der gesamten Deutsch­schweiz hängen die Plakate seiner Kampagne «Wie geht’s dir?». Vor einigen Jahren holte er die in Australien etablierten Nothelfer­kurse zu psychischer Gesundheit und Suizid­gedanken in die Schweiz. Diese Kurse ersetzen keine Behandlungen bei Fach­personen, sie können Laien aber helfen, wenn sie mit jemandem konfrontiert sind, der womöglich an Suizid denkt.

«Könnte es denn etwas geben, was dir hilft?»

An einem Freitag­nachmittag im März nehmen 11 Frauen und 1 Mann via Video­konferenz an einem dieser Kurse teil. «Es wird vielfach keine einfachen Antworten geben», dämpft Kurs­leiterin Susanne Vonarburg schon gleich zu Beginn die Erwartungen.

Manche von ihnen sind hier, weil Familien­mitglieder oder Freunde mit Suizid­gedanken kämpfen, andere, um beruflich dazuzulernen – und wiederum andere behalten ihre Motivation für sich. Was aber alle von ihnen gemeinsam haben: Sie wollen sich von Vonarburg und einer weiteren Pädagogin zu Erst­helferinnen ausbilden lassen.

Im Kurs gelten Regeln. Eine lautet AFSOK: Alle Fragen sind okay. Zeigt jemand die Karte mit dem Daumen, der nach oben zeigt: Ich bin nur kurz auf der Toilette. Zeigt jemand die mit dem Daumen, der nach unten zeigt: Mir geht es schlecht. «In diesem Fall rufen wir euch sofort an», sagt Vonarburg.

Sechs Stunden, drei Verschnauf­pausen inklusive einer Tanzeinlage später sind zumindest die drängendsten der Fragen geklärt: Die Teilnehmerinnen kennen die Theorie der Ersten Hilfe bei Suizid­gedanken. Nun geht es an die Übersetzung in die Praxis.

«Das sind sehr viele Probleme, die du erwähnst», sagt eine Teilnehmerin im Rollen­spiel. «Und es gibt einen Weg, mit dem sie plötzlich weg sind?»

«Schön, dass du fragst. Aber das wird mir etwas zu privat.»

«Aber du hast mir doch schon sehr viel Intimes erzählt: von deinen Schulden, den enttäuschten Eltern und der Trennung von deinem Freund. Was gibt es denn noch Privateres?»

«Ja … also … kannst du dir etwa vorstellen, so zu leben?»

«Hast du Suizidgedanken?»

«Wer hat das schon nicht?»

«Ja, ich hatte auch mal eine solche Phase. Das war eine schwierige Zeit. Hast du dir schon überlegt, wie du es machen würdest?»

«Ich hab schon daran gedacht, einfach einmal mehr von den Pillen zu nehmen.»

«Ich verstehe … hast du solche Pillen zu Hause?»

«Nein, aber ich könnte mir jederzeit welche besorgen. Es wäre sowieso allen egal, vor allem meinen Eltern.»

Unterbruch.

«Jetzt habe ich ein Problem», sagt die Teilnehmerin in der Rolle der Nothelferin. Die Familie: ein schwieriges Thema. Eine andere Teilnehmerin gibt Feedback, und es geht zurück in die Rollen.

«Ich kann mir vorstellen, dass es deinen Eltern nicht egal wäre. Vielleicht ertragen sie es einfach nicht zu sehen, wenn es dir schlecht geht?»

«Du hast mich vorhin gefragt, wie es mir geht. Das haben meine Eltern zum Beispiel noch nie getan.»

«Ich mache mir Sorgen. Könnte es denn etwas geben, was dir hilft?»

«Geld vielleicht. Oder eine stabile Beziehung. Aber davon bin ich weit weg.»

«Es sind wirklich viele Probleme, da mache ich dir nichts vor. Aber ich denke, mittelfristig kann das schon wieder werden … Ich selbst stosse gerade an meine Grenzen. Vielleicht könnte es helfen, mal mit jemandem zu sprechen, die das professionell macht?»

Nach solchen Gesprächen, sagt Susanne Vonarburg, sei es wichtig, wieder zu sich zu finden. «Trefft jetzt bewusst die Entscheidung, die Rollen wieder abzulegen.» Auch wenn es schematische Abläufe waren, die sie in den letzten Stunden präsentiert hat: Jedes Gespräch über Suizid­gedanken sei so einzigartig wie die Menschen, die es führten, sagt sie: «Es ist wichtiger, dabei Einfühlungs­vermögen zu zeigen und Hilfe anzubieten, als immer das Richtige zu sagen.»

Zu den Mythen über Suizid

Der gesellschaftliche Umgang mit Suizidalität ist oft von Unsicherheit geprägt. Darum halten sich viele Vorstellungen, auch wenn sie falsch sind wie diese hier:

  • Menschen, die über Suizid reden, meinen es nicht ernst.

  • Wenn eine Person wirklich vorhat, sich umzubringen, kann man nichts dagegen tun.

  • Man muss psychisch krank sein, um an Suizid zu denken.

  • Menschen, die suizidal sind, wollen sterben.

  • Über Suizid zu reden, ist eine schlechte Idee, da es jemanden auf die Idee bringen kann, es zu versuchen.

  • Menschen, die sagen, dass sie sich das Leben nehmen wollen, suchen nur Aufmerksamkeit.

J.J. Loew lief nach dem ersten Besuch der Polizei mitten in der Nacht zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester durch Basel, um die anderen Geschwister aus dem Schlaf zu klingeln. «Als Familie sind wir sehr stark gewachsen, individuell, aber auch als Gruppe», sagt er rückblickend. «Der Suizid war das Ergebnis einer Geheimnis­tuerei», dadurch hätten sie alle einen guten Bullshit-Filter entwickelt. «Wir alle sagen, was wir denken. Wir müssen die Liebe zueinander nicht hinter­fragen und auch nicht konstant bestätigen. Wir können davon ausgehen, dass wir füreinander da sind.»

Trotz der Verbundenheit musste schliesslich jeder einen eigenen Weg finden, mit dem Suizid umzugehen. Denn jede hatte eine andere Beziehung zum Vater und Partner. «Der Suizid hat auch Distanzen zwischen uns geschaffen», sagt Loew. Die Leichtigkeit, sie fehle heute oftmals.

Armut kann lebens­gefährlich werden

Leichtigkeit fehlt derzeit vielen Menschen. Corona belastet vor allem jene, denen es schon vor der Pandemie nicht gut ging. «Die Armut in der Schweiz nimmt massiv zu», sagte Hugo Fasel, damaliger Direktor der Caritas, zu Beginn der zweiten Welle. Die Caritas befinde sich mitten in der grössten Hilfsaktion seit ihrer Gründung – im Jahr 1897. Damals entstand in Deutschland der erste Verband, die Caritas Schweiz folgte 1901.

Die Konjunktur­­forschungs­­stelle der ETH liefert die Zahlen zur Frage der Armut: Jene, die sowieso schon wenig hatten, mussten in der Pandemie mit noch weniger auskommen – sie mussten im Durch­schnitt einen Einkommens­rückgang von 20 Prozent hinnehmen. «Rund ein Drittel der Befragten aus Haushalten mit Einkommen unter 4000 Franken, die vor der Krise einer Erwerbs­arbeit nachgingen, wurden im Verlauf der Krise arbeitslos oder mussten Kurzarbeits­geld beziehen», heisst es im Bericht. Schon vor Corona war jeder fünfte Bewohner der Schweiz nicht in der Lage, eine unerwartete Ausgabe von 2500 Franken zu stemmen. Fast jede sechste Person hatte Schulden.

Bei der Caritas hiess es diesen Februar: «Die Situation spitzt sich weiter zu.» Und: «Den Betroffenen fehlen zunehmend die Perspektiven.»

Wie hängen soziale Ungleichheit und Suizidalität zusammen? Samaritans, eine britische Organisation zur Suizid­prävention, spannte 2017 mit diversen Public-Health-Experten und -Professorinnen unter anderem von der London School of Economics und der University of Glasgow zusammen. Gemeinsam wollten sie diese Frage beantworten. Das Fazit ihres 181 Seiten starken Berichts in Kürzestform:

Das Bekämpfen von Ungleichheit sollte im Fokus der Suizid­prävention stehen. Die Unterstützung sollte auf die ärmsten Gruppen ausgerichtet sein, die sie wahrscheinlich am meisten benötigen.

Etwas ausführlicher: Sozio­ökonomische Faktoren beeinflussen suizidales Verhalten auf individueller Ebene (Arbeits­platz­unsicherheit, geringes Einkommen, niedriger Bildungs­stand), auf der kommunalen (fehlende lokale Jobs und Anlauf­stellen) und der gesellschaftlichen (Rezession, Armut, Arbeitslosigkeit).

Wie relevant sind solche Erkenntnisse für die Schweiz? Stephen Platt, emeritierter Professor für Health Policy Research an der Universität Edinburgh, hat am Bericht mitgeschrieben und meint auf Anfrage: «Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Ungleichheit ein wesentlicher Faktor von Suizidalität ist und dass die Verringerung der Ungleichheit ein Hauptziel von Suizid­präventions­programmen sein sollte, sowohl in der Schweiz als auch in anderen Ländern mit hohen Durch­schnitts­einkommen.»

Beim Bund sieht man die Sache etwas anders. «Die Faktoren, die auf die Gesundheit einwirken, sind sehr oft sozial bedingt», bestätigt zwar Esther Walter vom BAG. «Das BAG macht aber keine Armuts­bekämpfung. Das liegt nicht in seiner Kompetenz.» Die Suizid­prävention sei so ausgerichtet, dass keine Gruppe speziell hervor­gehoben werde. «Weder die Männer, die eine höhere Suizidrate haben, noch sozio­ökonomisch Schwächere. Weil letztlich jede und jeder von Suizidalität betroffen sein kann.»

Bekannt ist der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und psychischer Gesundheit auch hierzulande. So führt etwa der Grundlagen­bericht «Chancen­gleichheit in der Gesundheits­förderung und Prävention in der Schweiz» der Gesundheits­förderung Schweiz evidenz­basierte Massnahmen auf, mit denen psychische Erkrankungen reduziert werden können. Dazu gehören:

  • Armutsabbau;

  • erleichterter Zugang zum Arbeitsmarkt;

  • Zugang zu qualitativ guten Betreuungs­angeboten für Kinder.

«Die Stabilisierung der ökonomischen Situation von Familien mit Kindern ist dabei von besonderer Bedeutung», heisst es im Bericht. Das bedeutet faire Mindest­löhne, Umverteilung von Geldern und die Vorbeugung gegen Schulden(fallen). Ob das auch für die Suizid­prävention gilt? «Da die Suizid­prävention in die Verantwortung von spezialisierten Organisationen fällt und nicht zum Kern­geschäft von Gesundheits­förderung Schweiz gehört, können wir zu diesem Thema leider keine Auskunft geben», heisst es auf Anfrage.

Eine Chance zur Entstigmatisierung

Die Pandemie trifft nicht nur Arme besonders, sondern auch Jugendliche. Diese laufen Gefahr, doppelt belastet zu sein. «Man weiss, dass die Hälfte aller psychischen Krankheiten vor dem Alter von 18 Jahren beginnt», sagt Roger Staub von Pro Mente Sana. In aller Regel würden die Symptome jedoch als Pubertäts­problem banalisiert. Lehrer wie Eltern, alle seien der Ansicht: Das kommt schon noch.

Oft komme es aber nicht. «Misslingt der Start ins Leben wegen einer nicht diagnostizierten psychischen Erkrankung», sagt Staub, «führt das zu einem schlechten sozio­ökonomischen Status.» Ein Teufels­kreis aus finanziellem und psychischem Druck kann losgetreten werden. «Ein Teufels­kreis, der im schlimmsten Fall durch einen Suizid unterbrochen wird.»

«Ich erinnere mich gut», sagt J.J. Loew, «was Suizid für mich war, bevor ich damit konfrontiert wurde.» Etwas Abstraktes, etwas, was woanders passiert, aber nicht in seinem Leben. Doch nun hatten Medien­artikel, die er vorher bestenfalls überflogen hatte, plötzlich eine Bedeutung. «Suizid wurde zu einer validen Option einer Biografie – bei anderen, aber auch bei mir.» Er weiss, dass das Suizid­risiko bei Suizid­hinter­bliebenen erhöht ist, und besuchte eine Selbsthilfegruppe.

Durch den Suizid musste er sich seinem Vater nochmals neu annähern. «Wie bekomme ich den liebenden und unterstützenden Vater ins gleiche Boot mit dem Vater, der sich umgebracht hat?»

Auch heute, mehr als drei Jahre später, nimmt sich J.J. Loew vor dem Einschlafen jeweils Zeit, um sich bewusst mit dem Verlust und den Emotionen auseinander­zusetzen. Er habe gleich zu Beginn beschlossen, sehr offen mit dem Suizid umzugehen: «Einerseits für mich, reden hilft, andererseits aber auch zur Entstigmatisierung. Ich denke, Hinter­bliebene wie ich haben eine Chance – keine Pflicht! –, für das Thema zu sensibilisieren. Suizidalität ist keine Krankheit, die einfach kommt. Suizidalität ist ein Symptom des gesellschaftlichen Umgangs mit psychischer Gesundheit.»

Zu Anlaufstellen für Hilfe: Sie haben Suizid­gedanken? Reden Sie darüber!

Die Erfahrung zeigt: Menschen, die einen Suizid­versuch überlebten, waren froh, noch am Leben zu sein. Holen Sie sich bei Suizid­gedanken anonym Hilfe:

  • Plattform für psychische Gesundheit, speziell in der Corona-Zeit: «Dureschnufe»

  • Notfallnummern:
    Dargebotene Hand: 143
    Psychosoziale Beratung der Pro Mente Sana: 0848 800 858 (auch für Angehörige, Bürozeiten)
    Elternberatung der Pro Juventute: 058 261 61 61 (24/7)
    Elternnotruf: 0848 354 555 (24/7)

Zum Autor

Sebastian Sele ist freier Journalist. Er beschäftigt sich haupt­sächlich mit den Themen Migration, soziale Gerechtigkeit, Proteste und Menschlichkeit. Für die Republik hat er zuletzt über Einsamkeit geschrieben.

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