Am Gericht

Ein bisschen Licht in der Dunkelkammer

Der Kampf eines Klimaaktivisten für mehr Transparenz in der Zürcher Staats­anwaltschaft zeigt Erfolg: Endlich informiert sie auf ihrer Website, wie Strafbefehle eingesehen werden können.

Von Dominique Strebel, 07.04.2021

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Die Schweizer Bundes­verfassung hält es in Artikel 30 unmissverständlich fest: Alle haben das Recht, in Gerichts­säle zu sitzen und zuzuhören, wie Richterinnen Recht sprechen. Es gibt Ausnahmen, aber nur wenige, etwa wenn es ums Familien- oder Jugend­strafrecht geht.

Doch gibt es in hiesigen Gerichts­sälen nicht mehr viel mitzuerleben, wenn es um Straf­verfahren geht. Nur noch rund 2 Prozent der Fälle landen vor den Richterinnen. 98 Prozent aller Straf­verfahren werden von Staats­anwälten im einsamen Kämmerlein entschieden.

Darum hat das Bundesgericht 1998 in einem Leiturteil festgehalten, dass jedermann Strafbefehle von Staats­anwältinnen in nicht anonymisierter Form einsehen darf. Sie müssen bei den Staats­anwaltschaften aufliegen. «Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung», heisst es in einer häufig zitierten Formel aus diesem Leiturteil, «bedeutet eine Absage an jede Form geheimer Kabinetts­justiz und soll durch die Kontrolle der Öffentlichkeit dem Angeschuldigten und den übrigen am Prozess Beteiligten eine korrekte und gesetzmässige Behandlung gewährleisten.»

So viel zur Theorie.

Ort: Zürich
Zeit: 23. Februar 2021
Fall-Nr.: 2020/3111-RJ/MD
Thema: Einsicht in Strafbefehle

Fast 23 Jahre sind seit dem Leiturteil aus Lausanne ins Land gezogen – doch die Staats­anwaltschaft des Kantons Zürich hatte seither ihre liebe Mühe damit, die höchst­richterlichen Vorgaben bürgernah umzusetzen.

Das zeigt exemplarisch der Fall des Klima­aktivisten Marco Bähler, der am 7. Juli 2019 bei einer Protest­aktion vor der CS am Zürcher Parade­platz mitmachte und deswegen per Strafbefehl gebüsst wurde. Er wollte danach die Strafbefehle aller Klima­aktivistinnen einsehen, die an dieser Aktion beteiligt waren; die Republik berichtete letzten September ausführlich darüber.

Doch für dieses grundlegende Recht musste Bähler mehr als ein Jahr lang kämpfen. Erst nachdem er eine Aufsichts­beschwerde eingereicht hatte, bequemte sich die Zürcher Staats­anwaltschaft dazu, auf ihrer Website zu publizieren, wie man Zugang zu den Strafbefehlen erhält.

Blicken wir zurück auf diesen langen Weg zu ein bisschen mehr Transparenz: Am 11. Juli 2019, nachdem er zwei Tage in Untersuchungs­haft verbracht hatte und auch bestraft worden war, verlangte Marco Bähler Zugang zu den Straf­befehlen seiner Mitstreiterinnen.

Kein Einblick für den Aktivisten

Er wollte wissen: Wie wurden seine Aktivisten­kollegen bestraft? Und vor allem: Wurden ausländische Beteiligte härter angefasst? Bähler wollte auch kontrollieren, wie unterschiedliche Strafmasse begründet werden. Eine völlig legitime und auch sinnvolle Justizkontrolle.

Doch Bähler hörte wochenlang nichts von der Staats­anwaltschaft. Dazu muss man wissen, dass im Kanton Zürich die Strafbefehle nur gerade 30 Tage lang aufgelegt werden; und dies erst dann, wenn sie rechts­kräftig geworden sind.

Am 6. August 2019 fragte Bähler nach – und erhielt eine Absage. Christian Philipp, Leiter des Rechts­dienstes der Zürcher Oberstaats­anwaltschaft, teilte ihm mit, man könne erst «nach begründeter Geltendmachung des Einsichts­interesses» Strafbefehle einsehen. Zu Bählers konkretem Gesuch meinte der Staatsanwalt: «Die unbegründete, pauschale Einsichts­forderung von Ihnen in die besagten, grösstenteils noch nicht rechts­kräftigen Straf­befehle findet somit keine rechtliche Grundlage.»

Wieso wies Staatsanwalt Philipp den Gesuchsteller Bähler nicht darauf hin, dass während der Auflage­frist, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war, jedermann ohne Nachweis eines besonderen Einsichts­interesses Strafbefehle einsehen kann? So, wie es das Bundes­gericht bereits 1998 unmissverständlich festgelegt hatte?

Es gehe bei Bählers Gesuch «um Einsicht in Strafbefehle, welche es Drittpersonen ermöglicht, die politische Gesinnung bestimmter Personen und deren Welt­anschauung offenzulegen (Klima­aktivisten)», erklärte Staats­anwalt Philipp der Republik auf Anfrage. Die Ausgangs­lage sei somit nicht die gleiche, «wie wenn jemand Einsicht in einen Strafbefehl nehmen will, welchem eine Delinquenz zugrunde liegt, die keinen Zusammen­hang mit einer gesinnungs­bezogenen Ausrichtung der bestraften Person hat».

Freie Sicht für den Kantonsrat

Im gleichen Zeitraum, Ende Juli 2019, stellte auch SVP-Kantonsrat Claudio Schmid ein Gesuch um Zugang zu den Strafbefehlen aller Klima­aktivistinnen, ohne irgendein Einsichts­interesse darzutun. Dem Parlamentarier teilte Staats­anwalt Philipp am 5. September 2019 mit: «Ihr Einsichts­gesuch wurde innert dreissig Tagen nach Rechtskraft eines Teils der Strafbefehle gestellt, weshalb Sie ohne ein spezielles Einsichts­interesse geltend machen zu müssen (…) Einsicht in die Strafbefehle nehmen können.»

Kein Wort darüber, dass die Strafbefehle es Drittpersonen ermöglichen, «die politische Gesinnung bestimmter Personen und deren Welt­anschauung offenzulegen». Schmid schaute sich die 41 nicht anonymisierten Strafbefehle an und publizierte Strafmass, Nationalität und Namen von Verurteilten auf Twitter.

Bähler dagegen musste monatelang kämpfen, bis er Zugang zu den Straf­befehlen erhielt – und auch dann nur in anonymisierter Form. Der Klima­aktivist fand die ungleiche Behandlung stossend und reichte bei der Zürcher Justiz­direktion eine Aufsichts­beschwerde gegen Staatsanwalt Christian Philipp ein.

Mit Entscheid vom 23. Februar 2021 verweist die Justiz­direktion den Klima­aktivisten in wichtigen Fragen auf den ordentlichen Rechtsweg. Bähler hätte die Verfügung der Staats­anwaltschaft, in der sie ihm nur Zugang zu anonymisierten Entscheiden gewährte, ordentlich anfechten müssen. Auch die Verfahrens­verzögerung hätte er auf diesem Weg rügen müssen – und nicht mit einer Aufsichts­beschwerde; die kommt nur dann zum Tragen, wenn kein ordentliches Rechtsmittel gegeben ist.

Bähler hatte sich aus Kosten­gründen gegen den ordentlichen Rechtsweg entschieden. Und weil er nach mehr als einem Jahr dafür auch schlicht zu müde war.

In ihrem Entscheid gibt die Justiz­direktion dem Klima­aktivisten immerhin in einer zentralen Frage recht: «Durch diesen Hinweis der Ober­staats­anwaltschaft entstand der Eindruck, die Geltendmachung eines begründeten Einsichts­interesses sei Voraussetzung für die Einsicht. Diese Geltend­machung des begründeten Einsichts­interesses ist indes nicht der Grundsatz, sondern vielmehr die Ausnahme vom Grundsatz der Justiz­öffentlichkeit.»

Die Direktion von SP-Regierungs­rätin Jacqueline Fehr tönt zudem an, dass Staatsanwalt Philipp Klima­aktivist Bähler gegenüber SVP-Kantonsrat Claudio Schmid ungleich behandelte: «Des Weiteren hätten dieselben Überlegungen auch im Falle des Einsichts­gesuchs von Kantonsrat Claudio Schmid erfolgen müssen», schreibt sie. Kein Wort von Sonder­regelungen bei Delikten, die eine «politische Gesinnung» offenbaren.

Bürgernah wär anders

Doch solche Fehler haben für Staatsanwalt Christian Philipp und die Ober­staatsanwaltschaft keinerlei Konsequenzen: «Mit dieser Massnahme der Ober­staatsanwaltschaft (der Anpassung auf der Website, Anmerkung der Redaktion) zur Sicherstellung einer rechtsgleichen Behandlung in künftigen Fällen erübrigen sich weitergehende aufsichts­rechtliche Massnahmen.»

Die ergänzte Website ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Transparenz – doch in ihrem Entscheid verschliesst die Zürcher Justiz­direktion die Augen vor einem grundlegenden Missstand: Die Ober­staatsanwaltschaft des Kantons Zürich hat sich wiederholt als transparenz­feindlich gezeigt. Und ihr Rechtsdienst-Leiter Christian Philipp schien bisher rechtlich wenig gerüstet und auch wenig motiviert, die gesetzes- und verfassungs­mässig gebotene Transparenz umzusetzen.

Klimaaktivist Marco Bähler freut sich zwar über seinen kleinen Erfolg, zweifelt aber daran, ob die Anpassung einer Website genügt, um die Zürcher Staats­anwaltschaft zu transparentem und rechtsgleichem Handeln zu bewegen. «Bürgernahes und überzeugtes Einschreiten bei einem notabene erkannten und schon länger dokumentierten Missstand sieht anders aus, Frau Fehr», lautet sein kurzer Kommentar.

Christian Philipp teilt mit, die Ober­staatsanwaltschaft des Kantons Zürich verzichte auf weitere Stellungnahmen.

Illustration: Till Lauer

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