Das grosse Ich

Überall Pathos, Befindlichkeiten und exzessive Nabel­schauen – leider auch im Journalismus. Doch der öffentliche Diskurs braucht mehr als Sozial­pornos und Ich-Geschichten.

Von Solmaz Khorsand, 01.04.2021

Vorgelesen von Solmaz Khorsand
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Ich, ich, ich – wie der Befindlichkeits­journalismus um Aufmerksamkeit heischt. Matthieu Bourel

Wenn Sie die Republik lesen, kennen Sie Pathos. Sie sind vertraut damit, wie wir es einsetzen, um Sie in unsere Texte zu locken. Ob in der Sprache, der Auswahl der Themen, gar in der Inter­punktion. Sie sollen ja schliesslich auch dranbleiben – als handle es sich bei jedem Absatz eines Mammut­artikels um die Folge einer Telenovela, die Sie nicht missen möchten.

In unserem Metier, dem Journalismus, insbesondere dem Magazin­journalismus, ist Pathos essenziell. Frei nach Aristoteles’ Rhetorik­lehre wollen wir Sie erreichen mit unseren Inhalten, den Argumenten, dem Logos. Doch damit uns das gelingt, damit der Logos auch seine volle Wirkungs­macht entfalten kann, muss er beim Publikum auf fruchtbaren Boden fallen, und dafür brauchen wir, richtig: das Pathos. Wir können nicht umhin, uns gelegentlich seiner zu bedienen. Die einen exzessiver als die anderen.

Nun hat sich in den vergangenen Jahren ein besonders pathetischer Stil in den deutsch­sprachigen Magazin­journalismus eingeschlichen. Im postfaktischen Story­telling wird mehr gefühlt als beschrieben. Es mag unter anderem eine Reverenz an alte Zeiten sein, an jene Ikonen jenseits des Atlantiks wie Truman Capote, Hunter S. Thompson oder Joan Didion, die mit einem wunderbar subjektiv-hedonistischen Taktgefühl die eigenen Befindlichkeiten hautnah mit ihrem Publikum teilten und es an der Welt der Schönen, Reichen und Kaputten teilhaben liessen.

Gerne wird dieser Journalismus noch heute imitiert, umso mehr, wenn die Schreibenden aus behüteten Verhältnissen stammen. Dann müssen die Besuche beim Unbekannten, Rohen, Kriminellen, Wahnsinnigen, bei den bad boys und bad girls der Gesellschaft besonders an die Substanz gehen, jedes Detail, jeder Seufzer, jedes Nasenhaar muss ausgeleuchtet werden. Dem Erkenntnis­gewinn dient das nur bedingt. Viel eher scheint es die Hoffnung des Schreibenden zu stillen, dass die badass-Exzentrik der Protagonisten auf einen selbst abfärbt und im besten Fall die eigene Spiessigkeit verdeckt.

Nicht zu vergessen sind in dieser Kategorie natürlich auch jene unter uns, die sich an der eigenen Sensibilität berauschen, wenn sie besonders mitfühlend die arbeitslose Allein­erzieherin porträtieren, die Geflüchtete vom Krieg stammeln lassen oder die Flecken der Geschlagenen in all ihren Schattierungen wie eine Kunst­rezension wiedergeben.

Man verstehe mich nicht falsch: Armut, Flucht und Gewalt sind Themen, die den Journalismus Tag und Nacht beschäftigen sollten und bei denen wir gar nicht genau genug hinschauen können. Aber unsere Befindlichkeit hat darin nichts verloren.

Es ist ein schmaler Grat zwischen dem, was als würdevoll empfunden wird, und dem, was als pathetisch, schwülstig und kitschig wahrgenommen wird. «Man muss dafür kein Roman­autor sein, aber der Ton, der muss stimmen», schreibt die deutsche Medien­kritikerin Samira El Ouassil über die Kunst, andere zu porträtieren. «Es kommt darauf an, selbst im Lot zu bleiben und gleichzeitig den anderen nie ganz aus dem Blick zu verlieren. Eleganz und Beweglichkeit sind von Vorteil, ausserdem das Talent, leicht zu wirken, auch wenn es kompliziert ist.»

Es ist eine Frage des Augen­masses. Wie vieles im Leben ist auch das Pathos relativ. Des einen pathetisch ist des anderen hehr. Dennoch lassen wir Magazin­journalistinnen uns nicht selten mitreissen von der eigenen Befindlichkeit, um bei Ihnen, unserem Publikum, etwas auszulösen, Sie zu affizieren. Dabei geben wir alles, schliesslich versuchen wir Sie in der Aufmerksamkeits­ökonomie so lange wie möglich bei der Stange zu halten. Oft auch mit einem ganz grossen Ich.

Die exzessive Nabelschau

Das grosse Ich wird Ihnen aufgefallen sein. Kein Qualitäts­magazin, das etwas auf sich hält, will auf die Ich-Geschichte verzichten. Woche um Woche sollen Autorinnen von der eigenen Vergewaltigung berichten, von der eigenen Überfahrt auf dem Flüchtlings­boot über das Mittelmeer, von der eigenen Kindheit im Plattenbau, von der eigenen Depression – und all diese Storys sind wichtig. Das Problem ist aber, dass es nicht länger reicht, darüber zu schreiben, Protagonisten zu finden, Perspektiven – mitunter ganz andere als die eigenen – einzuholen. Sondern man kramt in der eigenen Anekdoten­sammlung nach dem persönlichen Drama, das sich publizistisch ausschlachten lässt. Irgendwo findet sich schon ein Trauma, das sich berührend aufschreiben und noch berührender redigieren lässt, um es am Ende für einen Journalisten­preis zu qualifizieren.

Die polnische Schrift­stellerin Olga Tokarczuk kritisiert in ihrer Nobelpreis­rede die Ich-Obsession und die sich im Wettstreit übertönenden Ich-Narrative unter Schreibenden: «Wir erfahren alles über die Erzähler, können uns mit ihnen identifizieren, ihr Leben wie unser eigenes durchleben. Trotzdem ist das, was der Leser erfährt, bemerkens­wert häufig unvollständig und enttäuschend, stellt sich doch heraus, dass die Expression des Autor-Ichs keine Universalität garantiert.»

Im Journalismus beflügelt die exzessive Nabel­schau nicht wenige zu voyeuristischen Experimenten. Um mitzuhalten im Wettstreit um Clicks und Quote, stöbert jeder und jede in der eigenen Biografie. Medien räumen dem publizistischen Striptease gerne Platz ein, vor allem jenem von marginalisierten Gruppen. Sie sollen regelmässig über ihr Marginalisiert­sein berichten, am besten mit Hinweisen auf die eigene Analphabeten­mutter, den eigenen prügelnden Vater, den Bruder, den der Türsteher vor dem Club immer abwies, die Freundin, die einem immer durch das krause Haar fahren wollte.

Nähe, das ist schliesslich das oberste Gebot. Nur wer ganz nahe dran ist, erreicht das Publikum, so der Glaube vieler Medien­macher. Und es hat einen angenehmen Nebeneffekt. Mit den berührenden Ich-Geschichten lassen sich bequem gewisse Themen und Personen auslagern. Wozu kontinuierlich und sachlich von der Systematik eines Problems berichten, wenn es die Kolumnistin mit ihrer Familien­geschichte Woche um Woche tut.

Die eigene Biografie verhökern

Das mag nun paternalistisch klingen. Schliesslich sind wir alle erwachsene Menschen, die frei entscheiden, wie viel sie von sich preisgeben. Und durchaus sind diese intimen Einblicke nicht nur ein Gewinn, sondern auch ein politischer Akt, der oft vormals Unsichtbares sichtbar macht.

Doch es ist auffallend, dass vor allem junge, unerfahrene und marginalisierte Gruppen für derartige Lebens­beichten in traditionellen Medien heran­gezogen werden. Es hat einen unangenehmen Beigeschmack, wenn ihre Lebens­realität nur in der ultimativen Exposition publizistisch berücksichtigt wird. Welche Praktikantin wünscht sich nicht, die Coverstory zu schreiben? Sich als grosse Stilistin, als Talent, als Edelfeder einen Namen zu machen? Selten schafft sie das mit dem Pitch eines wuchtigen Textes, der aus der Distanz nach den Regeln der alten Schule erklärt, analysiert, reflektiert. Das grosse Denken ist anderen vorbehalten, sie darf fühlen und nur mit der eigenen Geschichte glänzen, die sich nicht auslagern lässt.

Doch ist es die Coverstory wirklich wert, für ein paar Seiten im angesehenen Lieblings­magazin und ein paar Likes und Retweets die eigene Biografie zu verhökern?

«Wir müssen nach den Regeln von Social Media spielen»

Letztlich ist der aktuelle Befindlichkeits­journalismus auch eine Krise des Vertrauens der Branche in die eigene Wirksamkeit und Relevanz. Wie informieren, wenn man ungehört bleibt in der Kakofonie von empörten Tweets, rührseligen Insta-Storys und aufrüttelnden Facebook-Kommentaren, die im schlimmsten Fall noch von Troll­armeen dirigiert werden?

«Wenn wir gehört werden wollen, müssen wir nach den Regeln von Social Media spielen», sagte einmal Thomas Laschyk in einem Interview mit der TAZ. «Dazu gehört eindeutiges Framing, die richtigen Schlag­worte oder der Appell an Emotionen.» Laschyk ist Gründer des Anti-Fake-News-Blogs «Volksverpetzer», der es sich zum Ziel gemacht hat, mit Gegen­argumenten und Quellen Hass im Netz zu begegnen. 2019 wurde sein Blog mit dem Social-Media-Preis «Blogger des Jahres» ausgezeichnet. «Sie checken Fakten!», begründete die Jury ihre Entscheidung. Fakten­check. Selbst in dieser trockenen Materie spielt der emotionale Appell eine Rolle, und sei es nur in reisserischen Titeln, wie Laschyk im Interview gesteht.

Wir Magazin­journalisten sind keine trockenen Protokollantinnen der Wirklichkeit. Auch das wird Ihnen aufgefallen sein. Doch gelegentlich sollten auch wir auf die Bremse steigen, nicht jeden Voyeurismus bedienen, um im digitalen Pathos­konzert mitzuspielen. Ab und zu dürfen wir das Pathos runter­schrauben, mit etwas Vertrauen in das eigene Publikum. Vielleicht muss es nicht immer bis in den hintersten Winkel seines Seins erschüttert werden, um empfänglich zu sein für Inhalte. Denn um die geht es am Ende schliesslich. Logos vor Pathos lautete die Formel der aristotelischen Rhetorik­lehre. Argument vor Gefühl. Das Pathos ist Mittel zum Zweck. Nicht mehr.

Zum Buch

Republik-Autorin Solmaz Khorsand hat ein Buch zum Thema geschrieben: «Pathos». Kremayr & Scheriau, Wien 2021. 128 Seiten, ca. 27 Franken.

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