#NoNonsense bitte!
Neue, digitale Formen des zivilgesellschaftlichen Aktivismus entstehen. Das ist eine gute Nachricht – die aber auch auf erbitterte Ablehnung stösst.
Von Daniel Binswanger, 27.03.2021
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Es mag zum Teil an der Pandemie, zum Teil am Wandel der demokratischen Öffentlichkeit und an der Fortentwicklung der Technologien liegen: Wir werden zu Zeugen markanter Veränderungen der Kommunikations- und Mobilisierungsformen in der Schweizer Politik.
Nicht alle Neuerungen wird man als positiv bewerten können. Aber diese Woche hat die digitale Demonstration #NoLiestal gezeigt, welch erstaunliche Wirkung innovative aktivistische Methoden entfalten können. Und dass die Zivilgesellschaft über neue und erfreulich basisdemokratische Mittel verfügt, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.
Bei der Aktion #NoLiestal geht es darum, ein Gegengewicht zu erzeugen zu den Demonstrationen, die organisiert werden von den Lockdown-, Impf- und Maskengegnerinnen, denen es gelungen ist, am letzten Wochenende in Liestal polizeilich geschätzte 8000 Anhänger auf die Strasse zu bringen. Zu empörten Reaktionen in der breiteren Öffentlichkeit führte diese Kundgebung nicht nur deshalb, weil die Radikalität der Parolen und die verwendeten Symbole – etwa der Judenstern für «Ungeimpfte» oder Protestplakate gegen «Nazi-Impfmörder» und «Bundesrats-Diktatur» – eine verschwörungstheoretische und rechtsextreme Anmutung hatten, sondern auch weil die Demonstrantinnen grösstenteils keine Masken trugen.
Sämtliche Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung hinter den Massnahmen des Bundesrates steht und fahrlässige, schutzkonzeptfreie Massenveranstaltungen missbilligt. Und nicht nur das: Angesichts der Führungsschwäche unserer Behörden wird offensichtlich auch das Bedürfnis immer stärker, diesem Unmut Ausdruck zu verleihen.
Dennoch wäre es keine Option gewesen, ganz einfach eine Gegendemonstration zu veranstalten: Ein erneuter Grossauflauf hätte wiederum zu hohen Ansteckungsrisiken geführt. Die «digitale Demonstration» jedoch – gewissermassen das politaktivistische Äquivalent der Videokonferenz – löst dieses Dilemma auf elegante Weise: Die Massenmobilisierung kann ganz ohne Infektionsgefahr stattfinden, wenn auch «nur» in den sozialen Netzwerken.
Bemerkenswert an der digitalen Demonstration sind jedoch noch weitere Wesenszüge: Sie kann äusserst einfach durchgeführt werden und ist deshalb nicht auf die logistischen Ressourcen und das Mobilisierungspotenzial einer bestehenden politischen Organisation angewiesen. Es reicht, einen Hashtag sowie eine Regieanweisung für ein Posting festzulegen und ein paar prominente Multiplikatoren an Bord zu holen. #NoLiestal hat auf diese Weise in 24 Stunden knapp 31’000 Tweets generiert: ein spektakulärer Erfolg!
Natürlich dürfte die rege Teilnahme nicht nur darin ihren Grund haben, dass sehr viele Bürgerinnen ihrem Ärger über rücksichtslose Massnahmen-Verächter unzweideutigen Ausdruck geben wollen. Eine Rolle spielt sicher auch, dass die digitale Demonstration ihren Teilnehmerinnen nicht besonders viel abverlangt. Ein Foto von sich selbst online zu stellen, ist keine grosse Sache und erfordert keinen übermässigen Heroismus (full disclosure: Auch der Autor dieser Zeilen hat ein Maskenfoto gepostet). Doch weshalb soll es schlecht sein, wenn die Schwellen für politische Partizipation durch technologische Mittel gesenkt werden?
Im Grunde ist #NoLiestal näher mit einer Onlinepetition verwandt als mit einer traditionellen Kundgebung. Gerade Petitionen haben ja pandemiebedingt eine neue Wichtigkeit bekommen, so etwa «Lockdown stop!», die von den Jungfreisinnigen und der SVP lanciert wurde und in den gut zweieinhalb Monaten seit ihrem Start mehr als 250’000 Unterschriften gesammelt hat.
Zwischen «Lockdown stop!» und #NoLiestal gibt es jedoch – unabhängig davon, dass die beiden Aktionen eine diametral entgegengesetzte Agenda verfolgen – zwei wichtige Unterschiede: Während die digitale Demo schon nach 24 Stunden mehr als 30’000 Tweets generiert hat, brauchte die (sehr erfolgreiche) Petition gut dreieinhalb Tage, um auf dieselbe Anzahl Unterschriften zu kommen. Und während «Lockdown stop!» eine im Grunde völlig klassische, von politischen Parteien organisierte Aktion ist, wurde #NoLiestal weitgehend von unabhängigen Einzelpersonen lanciert, auch wenn unter den Initiatoren die eine oder andere Politikerin zu finden ist. Hier spricht die Stimme einer nur sehr lose organisierten, breiten Zivilgesellschaft: jener anonymen politischen Macht, von der alle Parteien immer zwanghaft behaupten, sie würden sie vertreten, die inzwischen aber völlig eigene Wege gehen muss, um gehört zu werden.
Bereits die Form der Meinungsbekundung nimmt in den sozialen Netzwerken eine viel individuellere und vielfältigere Gestalt an als auf einem Unterschriftenbogen. Nicht nur können Hashtags nach freiem Belieben kombiniert werden. Auch die Art und Weise, wie die Nutzer der sozialen Netzwerke sich hinstellen mit ihrem (maskierten) Gesicht, ist ihrer eigenen Fantasie überlassen. Diese Form der Mobilisierung erzeugt eine andere Form der Öffentlichkeit als die Unterschrift für eine Petition. Es würde nicht wundern, wenn sie auch eine andere Dynamik entwickelte.
Schon im Anschluss an das erfolgreiche Referendum gegen das E-ID-Gesetz kam der Politologe Claude Longchamp kürzlich zum Befund, dass der «Aufstieg digitaler Aktivistinnen» zum «ernst zu nehmenden Machtfaktor» werde in der Schweizer Politik – und dass Parlament und Parteien sich warm anziehen müssten angesichts der zunehmenden Wichtigkeit von zivilgesellschaftlichen Mobilisierungsformen, die themenbezogen und unabhängig von institutionellen Bindungen erfolgen. Natürlich ist es etwas anderes, einen Abstimmungskampf zu gewinnen, als eben mal schnell eine digitale Demonstration auf die Beine zu stellen. Aber letztlich handelt es sich hier um dasselbe Phänomen: Eine schweigende, politisch nur punktuell engagierte Mehrheit kann heute sehr viel einfacher aktiviert werden.
Mit Recht weist Longchamp jedoch darauf hin, dass die beeindruckenden Erfolge des digitalen Aktivismus weitgehend im Versagen des traditionellen Politiksystems begründet sind. Netzaktivisten können nur dann zur relevanten Gegenmacht werden, «wenn wirtschaftliche Interessen mittels Lobbying in die Räte getragen werden» und «die stimmberechtigte Bevölkerung übergehen».
Genau dies ist ja das traurige Spektakel, das uns der Parlamentsbetrieb die letzten Wochen geboten hat: Anstatt umsichtig dafür zu sorgen, dass wir möglichst gut durch die extrem bedrohliche dritte Welle kommen, machten sich die bürgerlichen Parteien zum Sprachrohr von Gastrosuisse und anderen Interessenverbänden – und stellten die groteske Schutzbehauptung auf, sie würden lediglich als «Volksvertreter» handeln und der Stimmung in der breiten Bevölkerung Rechnung tragen. In Zukunft, dank der sozialen Netzwerke und Aktionen wie #NoLiestal, dürfte es deutlich schwieriger werden, mit solchen Heucheleien durchzukommen.
Jetzt verschärft sich die epidemiologische Lage wieder in dramatischer Weise – und es scheint mehr als zweifelhaft, ob die Schweiz mit dem aktuellen Massnahmendispositiv über die Runden kommen wird. Nicht nur bei uns, auch in allen Nachbarländern steigen die Fallzahlen stark. Frankreich steht wieder an dem Punkt, an dem die Intensivbetten knapp werden. Die ältesten Bevölkerungsgruppen sind geimpft – aber die schweren Fälle und die Todesopfer werden jünger. Österreich wird über die Ostertage in einen strikten Lockdown gehen – die Intensivkapazitäten sind aktuell wieder zu 90 Prozent ausgelastet.
Vor diesem Hintergrund könnte nichts willkommener sein als eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die auf friedliche Weise einfordert, dass wenigstens die bestehenden Schweizer Schutzmassnahmen einigermassen eingehalten werden. #NoLiestal aber stösst an den erstaunlichsten Orten auf ätzenden Hohn und Verachtung.
Zum Beispiel bei den lieben Kolleginnen von der NZZ. Inland-Chefin Christina Neuhaus fällt zum Onlineprotest lediglich ein, dass er keinen «Mut» koste, ja dass er zu nichts anderem diene, als sich «das wohlige Gefühl zu basteln, zu den Guten zu gehören». Schwer bedenklich findet Neuhaus zudem, dass sich #NoLiestal gegen «die Meinungsfreiheit Andersdenkender richtet».
Die NZZ-Berichterstattung zu Lockdown-Kritikern wird ohnehin jeden Tag verblüffender: Am 6. März erschien unter dem Titel «Alles soll bedingungslos öffnen» ein äusserst wohlwollender Bericht über die Aktivistinnen von «Mass-voll!», einer Gruppe um das FDP-Mitglied Nicolas Rimoldi, die auch an der Organisation der Kundgebung von Liestal beteiligt war. Zu den hässlichen Auswüchsen, zu welchen die Demonstration in Baselland dann geführt hat, liess die NZZ allerdings die längste Zeit fast gar kein Wort verlauten, bis sie am Donnerstag dann auf die digitalen Gegendemonstranten einzudreschen begann. Man kann sich mit dem besten Willen kaum mehr des Eindrucks erwehren, inzwischen stelle sich die Falkenstrasse de facto auf die Seite der Kräfte, welche die «Corona-Diktatur» des Bundesrates denunzieren.
Wir sind bei der Impfstrategie im Hintertreffen, haben bei der Digitalisierung katastrophale Rückstände und gehen mit sehr lockeren, teilweise von den Behörden nicht einmal durchgesetzten Schutzkonzepten in die dritte Welle. In einem Land, dessen «bürgerliches Leitmedium» im Zustand der NZZ ist, muss man sich allerdings auch über systemische Defizite nicht mehr wirklich wundern.
Die Schweizer Zivilgesellschaft jedoch ist nach wie vor ressourcenreich – und findet gerade neue Wege, sich zu artikulieren. In der politischen Öffentlichkeit der Schweiz dürfte sich in den nächsten Jahren tatsächlich so einiges ändern. Es wäre zu hoffen.
Illustration: Alex Solman