Die vier Politikerinnen Ezgi Akyol, Yvonne Apiyo Brändle-Amolo, Sibel Arslan und Sarah Akanji (von links).

Aber wehe, sie machen den Mund auf

Vier Frauen schildern den ganz alltäglichen Rassismus und Sexismus in der Schweizer Politik. Wie sie angefeindet werden, was sie darüber denken und wie sie sich wehren.

Von Carlos Hanimann (Text) und Johanna Hullár (Bilder), 19.03.2021

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Jetzt ist es schon wieder passiert. Dieses Mal war es ein rechtsextremer Querulant, der an der Haustür von Sibel Arslan auftauchte, rassistisch und sexistisch ausfällig wurde und seinen nackten Hintern am Brief­kasten der Nationalrätin rieb.

Die Demütigung hielt der Mann filmisch fest. Die Klick­portale der grossen Medien­verlage verbreiteten das Video in Windes­eile und halfen dem Angreifer dabei, sein Ziel zu erreichen: maximale Aufmerksamkeit.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Basler National­rätin Sibel Arslan rassistisch angegriffen wird. Und: Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.

Warum nimmt die Politik rassistische und sexistische Angriffe hin? Warum spielen die Medien Gehilfen? Wo bleibt die Reaktion der Öffentlichkeit, die länger als einen Tweet andauert?

Der rechtsextreme Querulant drängt schon seit Jahrzehnten immer wieder in die Basler Öffentlichkeit – und bringt sie damit in ein Dilemma: reagieren oder ignorieren? Nach dem jüngsten Angriff auf Arslan jedenfalls erklärten sich die Basler Liberalen in einer beispiellosen Stellungnahme solidarisch mit der linken Politikerin, und die lokalen Medien verzichteten darauf, das Video zu verbreiten. Doch nicht immer reagiert die Öffentlichkeit so.

Letzten Herbst trommelte SVP-Nationalrat Andreas Glarner vor dem Bundes­haus ein paar Journalisten zusammen für einen verbalen Schlag­abtausch mit der Grünen-National­rätin Arslan. Statt über die Anliegen der Protestierenden im Klima­camp vor dem Bundes­haus zu diskutieren, machte sich Glarner vor laufenden Kameras über den Namen seiner Ratskollegin lustig und sprach ihr ab, eine Schweizerin zu sein. Recht und Ordnung habe es in ihrem Staat nicht gegeben, sagte Glarner. Darum, so der Subtext seiner Anfeindung, erkenne sie die Unrecht­mässigkeit des Klimacamps nicht, darum sei ihr die Unordnung egal.

Im Nationalratssaal blieb diese Ungeheuerlichkeit ohne Folgen. Die Nationalrats­präsidentin fand Zeit, die Gewinnerinnen des Parlamentarier-Jassens zu ehren. Aber das rassistische Auftreten von Andreas Glarner verurteilte sie nicht.

Eine öffentliche Entschuldigung? Eine Verwarnung an den SVP-Politiker? Eine Protest­erklärung der Grünen-Fraktion?

Nichts. Wer in den offiziellen Parlaments­aufzeichnungen sucht, wird von dieser Attacke keine Spur finden.

Stattdessen: scheinheilige Empörung zwecks Klick­steigerung in den Medien und dann Rückkehr zum politischen Alltag. So, als dulde man den offenen Rassismus gegen eine gewählte National­rätin als ganz natürlichen Teil des politischen Zirkus.

Und vielleicht tut man das sogar.

Nur eine Woche nach Glarners Angriff auf Arslan trat die Zürcher Lokal­politikerin Ezgi Akyol von ihrem Amt als Gemeinde­rätin zurück. Ihr Rücktritts­schreiben müsste jede Gesellschaft, die sich für offen und demokratisch hält, zutiefst deprimieren. Sie berichtete darin von kräfte­zehrenden und verletzenden Jahren im städtischen Parlament, von mangelnder Repräsentation, von persönlichen Angriffen. Unter anderem beschrieb sie, wie ein mittlerweile verstorbener SVP-Gemeinderat sie einmal im Rat angefeindet hatte: Er gehe zwar davon aus, dass sie eingebürgert sei, sagte er, aber sie habe nicht verstanden, dass sie sich für ihre Wähler einsetzen müsse, nicht für «irgendwelche Leute aus dem Ausland». Sonst könne sie wieder dorthin zurück. Ein Raunen ging durch den Saal. Der Ratspräsident forderte den Redner zur Mässigung auf. Und weiter gings.

Rückblickend sagt Akyol, dass sie von der SVP nichts anderes erwartet habe. Überrascht habe sie vielmehr, dass im Parlament niemand reagierte. Gerade von den Linken hätte sie mehr erwartet. «Dass man solche rassistischen Angriffe einfach hinnimmt in einem Parlament mit linksgrüner Mehrheit, in einer Stadt, die sich für links hält – das hat mich erstaunt. Und verletzt. In diesem Moment fühlte ich mich sehr allein.»

Darüber reden oder schweigen?

Fast alle Frauen in der Politik (vielleicht auch: fast alle Frauen in der Öffentlichkeit) bekommen Diskriminierungen in der einen oder anderen Form zu spüren: vom Übergehen in Sitzungen über sexistische Anspielungen bis hin zu rassistischen Demütigungen – von anderen Parlamentariern, aus der Bevölkerung, über anonyme Schreiben.

Häufig ist der Rassismus auch in der Politik subtil: «Manchmal erzählten mir Ratskollegen ungefragt von ihren Türkei­ferien», sagt Akyol, deren Eltern einst aus der Türkei in die Schweiz flohen. Die Limmattaler Sozial­demokratin Yvonne Apiyo Brändle-Amolo erzählt: «Als ich in die Politik einstieg, fragten mich die Leute ständig, ob ich verstehe, worum es geht. Dann erklärten sie mir es ungefragt gaaaaaaanz laaaaangsaaam noch einmal. Anfangs dachte ich, die meinen das nett. Aber sie hörten nicht auf und redeten immer weiter so mit mir.»

«Ich weigere mich, in eine Opferrolle zu fallen, nur weil es Leute gibt, die die Realität nicht akzeptieren wollen»: Sibel Arslan.

Manchmal bleibt es nicht bei den alltags­rassistischen Erlebnissen. Dann erreichen die Politikerinnen Drohmails, hasserfüllte Direkt­nachrichten, von Hand geschriebene Gewaltfantasien.

Brändle-Amolo sagt, sie habe eine ganze Kiste mit solchen Briefen. «Wann immer ich mich öffentlich gegen Rassismus äussere, kriege ich solche Briefe.» Sie schickt Fotos eines älteren Briefes. Er beginnt mit dem N-Wort als Anrede. Ob sie sich nicht schäme, heisst es dann, ehe sie aufs Übelste rassistisch und sexistisch beleidigt wird. Er endet mit den Worten: «Spiel ist aus, Zeit ist um», «Sieg Heil» und zwei Haken­kreuzen. Auf dem Umschlag steht: «Gehe nach Auschwitz.»

Auch die Winterthurer SP-Kantons­rätin Sarah Akanji hat kürzlich einen ähnlichen Brief erhalten. Ein paar Tage zuvor war sie von der NZZ zu einem grossen Streitgespräch über die Nationalitäten­nennung in Polizei­meldungen eingeladen worden. Auf die Frage, ob es themen­abhängig sei, wann sie solche Hassbriefe erhalte, sagt Akanji: «Nein, das Thema scheint nicht so wichtig. Die Briefe kommen, wenn ich im Fernsehen aufgetreten bin oder ein Zeitungs­interview gegeben habe. Das ist das einzige Muster: dass ich mich in der Öffentlichkeit geäussert habe.» Die negativen Rück­meldungen seien selten inhaltlich. «Es sind persönliche Angriffe, diskriminierende Angriffe.»

Die Nationalrätin Sibel Arslan sieht solche Anfeindungen als Folge einer grossen Transformation. «Vieles ist im Umbruch: Die Macht der Alt­eingesessenen wird infrage gestellt. Frauen, junge Menschen und solche mit Migrations­geschichten nehmen nicht mehr alles hin. Sie stellen Forderungen und wollen mitgestalten. Diese Transformations­phase ist für alle Beteiligten herausfordernd.»

Die Literatur­wissenschafterin Pia Portmann hat das Phänomen Hatespeech in der Schweizer Politik untersucht. Für ihre Master­arbeit an der Universität Bern erhielt sie exklusiven Zugang zu Hassbriefen zweier nationaler Politikerinnen: E-Mails, Privat­nachrichten auf Social Media, Briefpost. In einer wissenschaftlichen Analyse der Hass­botschaften an diese Politikerinnen machte sie verschiedene Merkmale aus, wie die Frauen angegriffen wurden.

Erstens: auf das Geschlecht bezogene Erniedrigungen, die häufig eine Sexualisierung beinhalteten.

Zweitens: das Infrage­stellen der Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Die Politikerinnen wurden als nicht schweizerisch genug angegriffen, weshalb sie für das politische Amt ungeeignet seien.

Drittens: Angriffe auf den Charakter und die Persönlichkeit, wonach die Politikerinnen keine hehren Motive für ihr politisches Engagement hätten.

Auch wenn die Anfeindungen für viele Frauen in der Politik zum Alltag gehören, wollen längst nicht alle offen darüber reden. Fast immer, wenn sie öffentlich über Drohungen und Demütigungen reden, werden sie zum Ziel neuer Angriffe. Ausserdem gibt es eine ambivalente Haltung unter den Betroffenen: Soll man darüber reden, in der Hoffnung, dass die Angriffe aufhören? Oder soll man schweigen, damit sie nicht noch mehr Platz bekommen?

«Es müsste nicht Aufgabe der Betroffenen sein, diese Übergriffe zu kommentieren», sagt National­rätin Sibel Arslan. «Es ist Aufgabe der Institutionen, solche Angriffe nicht länger zu dulden.» Sie hat sich zu Glarners Attacken bewusst nicht geäussert. In der WOZ liess sie sich einzig in einer Fussnote zum Halbsatz bewegen, es gebe wichtigere Themen. Sie sagt dazu: «Ich weigere mich, in eine Opfer­rolle zu fallen, nur weil es Leute gibt, die die Realität nicht akzeptieren wollen.»

Ezgi Akyol: «Offenbar reicht es nicht»

Ezgi Akyol stammt aus einer durch und durch politischen Familie. Schon von Kindes­beinen an war sie an jedem 1.-Mai-Fest. Ihre Eltern gaben ihr mit, sich gegen Ungerechtig­keiten zu wehren. Aber lange haderte Akyol damit, ob der Parlamentarismus dafür der richtige Weg sei. «Das Parlament ist auf Kompromiss angelegt. Maximal­forderungen haben kaum Platz», sagt Akyol. Das habe sie immer gestört. Hinzu kam, dass das Parlament nicht ein Ort zu sein schien für Menschen mit türkischen Namen. «In Zürich, wo rund die Hälfte der Bevölkerung eine Migrations­geschichte hat, spiegelt das Parlament die Bevölkerung überhaupt nicht wider.»

Funfact: Ezgi Akyol ist weder Kurdin noch schwarze Aktivistin, auch wenn sie sich für deren Anliegen einsetzt.

Letztlich war das auch der Grund, warum Akyol vor sieben Jahren doch für das Stadt­parlament kandidierte. «Ich wollte andere Stimmen in den Rat bringen: Migrantinnen, Geflüchtete, Marginalisierte – Leute, die nicht im Parlament vertreten sind.»

So las Akyol im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste ein Statement schwarzer Aktivistinnen vor, weil im Stadt­parlament keine schwarze Person sitzt. Oder als der Kanton die Sozial­hilfe für Geflüchtete kürzte, verlas sie den Text eines Bekannten, der schilderte, was die Kürzungen für ihn bedeuteten.

Aber nach sechseinhalb Jahren hatte sie genug von diesem Parlament. Akyol sagt, man habe ihr immer zu spüren gegeben, dass sie nicht dazugehöre. «Ich wurde konstant daran erinnert, dass ich einen türkischen Namen habe. Als wüsste ich das nicht selber.»

Schon bei ihrer Wahl schrieb der «Tages-Anzeiger» erstaunt, dass Akyol perfekt Schweizer­deutsch spreche. In linken Organisationen konnten ihre Mitstreiter ihren Namen selbst nach jahrelanger Zusammen­arbeit nicht richtig aussprechen oder schreiben. Und weil Akyol sich für kurdische Anliegen einsetzte, glaubten viele im Parlament, sie sei Kurdin. «Funfact am Rande», sagt Akyol. «Ich bin keine Kurdin. Und das ist übrigens auch nicht mein Verständnis von Politik: dass man sich nur für eigene Interessen einsetzt.»

Dazu kamen offene Anfeindungen, wüste Drohungen.

«Alle Politikerinnen müssen viel einstecken», sagt Akyol. «Aber bei mir ging es selten darum, was ich sagte, sondern immer nur um meinen Namen: Was will diese Türkin? Warum sollen wir ihr zuhören?» Das habe sie mit der Zeit frustriert. «Denn ich hatte wahnsinnig viel zu sagen. Aber ich wurde nur auf meinen Namen reduziert.»

Auch in der Linken vermisste Akyol Feingefühl und Solidarität. Es werden alle angegriffen, hiess es in diesen Kreisen häufig. «Aber sie verstehen nicht, dass sie für ihre Positionen angegriffen werden. Ich aber für meine Person, für meine Identität.» Das sei nicht dasselbe, sagt Akyol.

«Viele Linke glauben an diesen ‹I see no color›-Bullshit. Sie glauben, sie hätten Antirassismus irgendwie internalisiert. Aber solange die Gesellschaft meine color sieht, mich auf meinen türkischen Namen reduziert, kannst du mir noch lange erzählen, dass du keine color siehst. Es nützt nichts. Es macht die Sache nur schlimmer, weil du damit negierst, dass ich von der Gesellschaft anders gelesen werde.»

Viele Linke seien in einer Art Paternalismus gefangen. «Zugespitzt ist es so: Sie waren früher oft in den Bereichen Asyl und Migration aktiv. Sie halfen den armen Geflüchteten, und die brauchten die Unter­stützung der Linken. Aber dann bekamen die Geflüchteten Kinder und die wieder Kinder. Und jetzt sind wir die zweite und dritte Generation, haben studiert und brauchen keinen Linken mehr, der uns hilft. Wir wollen selber am Tisch sitzen und mitreden. Aber die alte Garde der Linken hat Mühe damit, zur Seite zu treten.»

Im Rücktritts­schreiben von Ezgi Akyol gibt es eine Schlüssel­passage. Sie lautet: «Ich bin hier geboren, ich habe hier die Schule besucht. Ich bin sogar in die Pfadi. Ich arbeite hier, mein ganzes Umfeld ist hier, ich engagiere mich hier. Und trotzdem: Offenbar reicht es nicht.»

Sarah Akanji: «Wehe, ich mache einen Fehler»

«Ich las damals die Rede von Ezgi Akyol und sagte mir: Ich weiss ganz genau, was du meinst.» Das sagt Sarah Akanji, 27 Jahre alt, politischer Shootingstar der Winterthurer Sozial­demokraten. Sie machte bei den Wahlen 2019 als Newcomerin das mit Abstand beste Resultat und überflügelte selbst den Co-Präsidenten der Partei. Sie ist erst seit kurzem in der Politik, aber ihr ist schnell klar geworden, «dass ich anders behandelt werde als weisse Schweizer Männer».

Akanji machte nach ihrem Studium ein Praktikum bei der SP, dann arbeitete sie als Campaignerin für die Partei, ehe sie sich entschied, für den Kantonsrat zu kandidieren. «Ich wollte mitgestalten und Themen setzen, die zu wenig vorkommen. Und ich bin auch der Ansicht, dass das Parlament die Bevölkerung repräsentieren sollte.»

Nebenbei bemerkt: Sarah Akanji ist ganz offiziell Schweizerin ohne Migrationshintergrund.

Im Kantonsrat sah sie aber vorwiegend ältere, weisse Herren und dachte: Es kann doch nicht sein, dass die die Entscheide für alle treffen. «Ich fand, dass es auch andere Sicht­weisen braucht. Und ich bin ja das exakte Gegenteil von einem alten, weissen Mann.»

Akanji sagt, sie habe mit Rassismus in der Politik gerechnet. Denn sie ist es ein Leben lang gewohnt. «Ich erlebe ihn überall: im Alltag, im Fussball. Warum sollte Rassismus vor der Politik haltmachen? Wir alle sind rassistisch sozialisiert worden. Auch ich. Das sollten wir nicht tabuisieren.»

Sichtbar werde der Rassismus bei kleinen Begegnungen im Alltag: Man hält Akanji für eine Rassismus­expertin, bloss weil sie davon betroffen ist, man hält sie für eine gute Sportlerin, weil sie schwarz ist, man äussert sich bewundernd über ihre «lustigen Haare» oder interessiert sich übermässig für ihren Migrations­hintergrund.

«Streng genommen habe ich keinen Migrations­hintergrund», sagt Akanji. Ihr Vater stammt aus Nigeria, die Mutter aus der Schweiz, sie selbst ist in der Schweiz geboren. Gemäss der offiziellen Typologie des Bundes hat sie also keinen Migrations­hintergrund. Aber sie hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass sie dennoch in diese Gruppe eingeteilt wird – und dies ein Stück weit auch angenommen.

Woran merkt sie, dass sie anders behandelt wird als weisse Schweizerinnen?

«Weil ich mich immer wieder aufs Neue beweisen muss, mich immer wieder neu integrieren muss», sagt sie. «Ich muss zeigen, dass ich es gleich gut kann, dass ich die gleiche Sprache spreche, die gleiche Kultur habe. Ich muss immer freundlich sein, mich immer von der Top-Seite zeigen. Dann reicht es vielleicht, dann darf ich vielleicht mitmachen in der Politik. Aber wehe, ich mache einen Fehler: Dann bin ich sofort die Schwarze. Die Ausländerin.»

Durch Willkür zurück auf Feld eins. Was Akanji beschreibt, erlebte auch Sibel Arslan – der Angriff von Andreas Glarner machte das auf perfide Weise sichtbar: Selbst ein Sitz im Nationalrat schützt einen nicht davor, plötzlich aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Auf einen Schlag war Arslan nicht mehr eine gewählte Volks­vertreterin, sondern eine Ausländerin.

Sarah Akanji sagt: «Ich bin immer die Schwarze – und damit auch Ausländerin. Egal, wie schweizerisch ich mich gebe, ich werde in der Gruppe als Ausländerin wahrgenommen. Und damit bin ich nicht gleich berechtigt, am Diskurs teilzunehmen.» Vielmehr werde einem vermittelt, dass man geduldet sei. «Man gibt mir das Gefühl, dass ich eigentlich dankbar sein müsse, dass ich in der Politik mitmachen darf.»

Hat sie Angst, dass sie aus diesem Kreis plötzlich wieder ausgeschlossen werden kann?

«Angst nicht», sagt Akanji. «Aber ich spüre einen grossen Druck. Ich weiss, dass es sehr weite Folgen haben kann, wenn ich einen Fehler mache. Nicht nur für mich, sondern auch für andere Frauen, für andere People of Color.»

Akanji sagt, es sei nicht einfach, den Rassismus zu thematisieren, obwohl er sehr präsent sei. «Du wirst immer auf Hochdeutsch angesprochen. Man sagt dir, wie gut du Schweizer­deutsch sprichst. Die Leute sind erstaunt, dass du studiert hast. Sie starren dich an, bis du an dir runterschaust und fragst: Hab ich da was? Sie nehmen im Bus die Tasche näher zu sich, weil sie Angst haben, beklaut zu werden. Du wirst öfter angehalten und kontrolliert als andere. Es sind viele kleine Dinge. Auf Dauer sind sie sehr verletzend und ausgrenzend. Aber dann sagen die Leute: Das hast du dir eingebildet, du bist übersensibel, das war sicher nicht so gemeint. Bis du zweifelst und dich fragst: Ist meine Wahrnehmung so falsch?»

All das erschwere den Diskurs, sagt Akanji. «Es wird tabuisiert, man drängt es weg, man negiert es. In der Schweiz sind wir Expertinnen darin, Rassismus stummzuschalten.»

«Die Leute brauchen das Extreme», sagt Ezgi Akyol. «Wenn kein Betroffenheits­porno läuft, glauben sie es nicht. Erst wenn im Text das N-Wort ausgeschrieben steht, wenn die Gewalt­fantasie aus dem Drohbrief zitiert wird, wenn du Beweise lieferst, glauben sie, dass es Rassismus gibt.»

Sarah Akanji war in diesen Tagen zum ersten Mal bei der Polizei, um Anzeige zu erstatten, nachdem sie einen hand­geschriebenen Hassbrief erhalten hatte. Den Inhalt des Briefs will sie nicht veröffentlicht sehen. Wie meistens war er auf ihr Äusseres fixiert, sexualisiert und rassistisch. «Der Ton war: Wenn du Ausländerin schon hier sein darfst, halt gefälligst die Klappe.»

Akanji sagt, sie habe geahnt, dass solche Briefe zum politischen Alltag gehören würden. «Aber die Vorstellung, dass sich wirklich jemand hinsetzt und mir schreibt, nur um mich persönlich anzugreifen und zu bedrohen, finde ich befremdend.»

Ezgi Akyol erstattete ebenfalls einmal Anzeige, als jemand in einem Brief damit drohte, an ihrem Wohnort aufzukreuzen. (Die Anzeige endete im Nichts.)

Auch Sibel Arslan hat nach dem jüngsten Angriff zu juristischen Mitteln gegriffen und super­provisorisch verbieten lassen, das Video des rechts­extremen Querulanten zu verbreiten.

Yvonne Apiyo Brändle-Amolo sagt, sie würde heute auch zur Polizei gehen, wenn sie wieder Hassbriefe bekäme. Damals, als die ersten solchen Briefe bei ihr ankamen, wusste sie nicht, wie sie damit umgehen sollte.

Yvonne Apiyo Brändle-Amolo: «Wie es wohl wäre als weisser Mann?»

Das war im Sommer 2015. Brändle-Amolo hatte es bereits zuvor zu einiger Bekanntheit gebracht, weil sie 2012 einen Kurzfilm über Rassismus in der Schweiz gedreht hatte. Darin sang sie das kenianische «Jambo, Jambo Bwana» und den Jodel «Min Vater isch en Appezeller» – was man kurios fand und prompt auszeichnete. Die Pointe des Films aber war, dass sich ihr Mann von ihr scheiden liess, weil sie ihm zu schweizerisch geworden war, die Behörden sie aber ausschaffen wollten, weil sie zu wenig schweizerisch war.

Der Film bewegte und wurde an verschiedenen Festivals gezeigt. Die SP wurde aufmerksam auf Brändle-Amolo. Im Sommer 2015 wurde sie eingeladen, im zürcherischen Oberengstringen im Limmattal eine 1.-August-Rede zu halten. Das passte nicht allen. Brändle-Amolo wurde mit Briefen und Hassmails eingedeckt. Einmal wurde ihr gar Hundekot zugeschickt. Sie erhielt Drohungen, man wisse, wo ihre Familie lebe. Auch aus ihrer Partei, der SP, kamen Anfeindungen.

«Noch bevor ich aufgetreten war, erhielt ich so viele Briefe, dass ich dachte: Ich sage die Rede ab.»

Nein, mit Yvonne Apiyo Brändle-Amolo muss man nicht gaaaaaaanz laaaaangsaaam sprechen.

Brändle-Amolo nahm ein Time-out, ehe sie sich besann. «Mein Göttikind sagte mir: ‹Ich will, dass du diese Rede hältst. Ich will, dass Leute, die Haare haben wie du und ich, solche Reden halten. Ich will, dass das normal wird. Dass alle wissen: Auch Schweizerinnen können solche Haare haben.›»

Brändle-Amolo hielt die Rede. Die Briefe mit Beleidigungen kamen weiter.

Sie sagt, ihr sei sehr bewusst, dass sie auffalle. Aber das Ausmass an Zurecht­weisung, an Sexualisierung in Zuschriften und im direkten Kontakt mit anderen Politikern überschreite jedes Mass. «Bereits in der zweiten Sitzung im Gemeinderat waren meine Schuhe ein Thema. Meine Absätze, hiess es, würden den Boden kaputtmachen. Glauben Sie, das hätte man einer weissen Frau gesagt? Der Vorwurf kam von einer Politikerin, die selber Absatz­schuhe trug.»

Brändle-Amolo sagt: «Ich muss mir vor jedem Auftritt überlegen: Darf ich diese Ohrringe tragen, darf ich den roten Lippen­stift nehmen, ist mein Kleid wirklich okay? Wir schwarzen Frauen müssen immer extra überlegen, was wir tun. Dabei wollen wir uns bloss politisch engagieren. Aber wir müssen uns die ganze Zeit mit solchen Fragen herum­schlagen, dass wir am Ende gar nicht dazu kommen, unsere eigentliche Arbeit zu machen: Politik.»

Manchmal, sagt Brändle-Amolo, stelle sie sich vor, wie es wäre, ein weisser Mann zu sein. «Es muss sehr angenehm sein. Man ist in einer Macht­position. Man wird nicht ständig angegriffen, man muss nur wenig Verantwortung übernehmen. Ich kenne keine weissen Männer in der Politik, die für ihr Weisssein angegriffen werden. Ich stelle mir das leicht vor, ein weisser Mann zu sein. Man muss nicht dauernd überlegen: Was darf ich jetzt sagen, ohne dass es gleich auf mich zurückfällt? You can talk your way out of anything.»

Ab wann ist man von hier?

«Ich bin hier geboren, ich habe hier die Schule besucht. Ich bin sogar in die Pfadi. Und trotzdem: Offenbar reicht es nicht.»

Mit der Schlüssel­passage in ihrem Rücktritts­schreiben fasste Ezgi Akyol ein Gefühl in Worte, das viele Menschen kennen, die aus einer Familie mit Migrations­geschichte stammen: dass es nicht reicht – selbst dann nicht, wenn man sein ganzes Leben lang hier gelebt hat.

Ab wann ist man «von hier»?

«Es heisst, man sei von hier, wenn man selber das Gefühl hat, dass man von hier sei», sagt Sarah Akanji. «Aber es ist schwierig, das zu glauben, wenn einem ständig gesagt wird, dass man eben nicht von hier sei. Ganz ehrlich: Ich glaube, ich werde in meinem ganzen Leben nicht als ‹von hier› bewertet werden.»

Sibel Arslan sagt, es sei paradox, dass man in einer globalisierten Welt immer wieder erklären soll, dass man ursprünglich von woanders hergekommen ist. «Ich bin hier, weil ich gerne hier bin. Die Frage darf nicht mehr sein: Ab wann ist man von hier? Die Frage müsste vielmehr lauten: Wann wird endlich akzeptiert, dass wir vielfältig sind?»

Als Ezgi Akyol zurücktrat, erfuhr sie viel Anerkennung. Die Linken im Ratssaal gaben Standing Ovations. Ein altgedienter Partei­kollege sagte zu ihr, so etwas habe er noch nie gesehen. Akyol erhielt Gratulationen und Dankes­schreiben für ihr Engagement, für ihre Politik, für die klaren Worte zum Schluss.

Es war rührend.

Der Applaus wäre besser früher gekommen. Denn so wurde es ein Abschied nach Schweizer Art: Geklatscht wird erst, wenn die Türkin wieder geht.

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