Strassberg

Lob der Meinungslosigkeit

Warum die Demokratie weniger kontroverse Debatten, aber mehr Skepsis braucht. Und weshalb Corona-Skeptiker das nicht verstanden haben.

Von Daniel Strassberg, 16.03.2021

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«Corona-Skeptiker» mögen vieles sein, aber Skeptiker sind sie bestimmt nicht.

Irgendwann Anfang des Jahres ist die Stimmung ihnen gegenüber umgeschlagen. Es begann mit einer unscheinbaren und doch zutiefst verstörenden Kolumne im «Tages-Anzeiger». Es bräuchte mehr Skeptikerinnen und Querdenker, hiess es da, denn sie befruchteten die Debatte, und diese sei für die Demokratie überlebens­wichtig. Meinungs­vielfalt sei schliesslich das Lebens­elixier der Demokratie.

Über Nacht wurden die Corona-Skeptiker als Hüterinnen der Demokratie geadelt. Vergessen waren die «Covidiotinnen» und ihre Verschwörungs­theorien, ihre Allianz mit Rassisten und Nazis, ihre menschen­verachtende Rücksichts­losigkeit. Hauptsache, die Corona-Skeptiker haben eine Meinung und tun sie kund. Hauptsache, es findet eine Debatte statt. Es dauerte nicht lange, und allerorten wurde das Hohelied der Skepsis, der Meinungs­freiheit und der demokratischen Debatte gesungen. Und meistens gipfelte solches Lob der Skepsis in einem flammenden Aufruf, das Gespräch mit allen zu suchen. Miteinander reden sei doch … irgendwie wichtig.

Begriffspiraterie sollte als neuer Straftat­bestand ins Straf­gesetzbuch aufgenommen werden. Personen, die sich widerrechtlich einen Begriff aneignen und diesen arglistig missbrauchen, dürfen für mindestens sechs Monate keine eigene Meinung mehr haben. Und auch sonst keine. Sie müssen ein halbes Jahr ganz ohne Meinung leben. Corona-Skeptiker dürften die ersten sein, die aufgrund des neuen Paragrafen vor Gericht gestellt würden. Die Anklage? Sie haben den Begriff der Skepsis gekapert und ihn bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Um den Begriff der Skepsis den Piraten wieder zu entreissen, habe ich mich bei dem in Zürich lehrenden Neoskeptiker Michael Hampe kundig gemacht. Doch statt mir eine historisch korrekte Definition der Skepsis zu liefern, erzählte er eine Geschichte. Wie es sich für einen echten Skeptiker gehört.

Pyrrhon von Elis (360–270 v. u. Z.) gilt als Begründer der Schule der Skeptiker. Von ihm selbst sind keine Texte überliefert, was wir über ihn wissen, stammt von seinem Schüler Sextus Empiricus und vom ersten europäischen Philosophie­historiker Diogenes Laertius, der im dritten Jahrhundert nach Christi Geburt lebte.

Im neunten Buch seiner Philosophie­geschichte berichtet Diogenes Laertius, Pyrrhon sei zuerst ein ziemlich mittel­loser Maler gewesen, habe sich aber dann einem philosophischen Lehrer, Anaxarchos, angeschlossen, der wiederum Alexander dem Grossen auf seinem Feldzug gefolgt war, der ihn ja bis nach Indien geführt hatte. Als embedded Hofmaler hat er es wohl zu einigem Wohlstand gebracht. In Indien seien sie dann auf nackte Weise («Gymno­sophisten») getroffen, und Pyrrhon habe, so geht die Legende weiter, mit den Goldstücken, die er von seinem König erhalten habe, vor den nackten indischen Weisen geprahlt. Diese hätten jedoch nur verächtlich reagiert: Was er sich eigentlich einbilde, vor ihnen mit seinem Reichtum zu prahlen, den er erhalte, weil er einem Eroberer schmeichle, der sie zu unterwerfen gedenke!

Die Begegnung mit diesen Leuten habe einen Sinnes­wandel bei Pyrrhon verursacht. Er sei wieder nach Hause zurück­gekehrt und habe fortan ein zurück­gezogenes Leben bei seiner Schwester geführt, Schweine gezüchtet und Gemüse auf dem Acker bestellt.

Was genau hat Pyrrhons Sinnes­wandel bewirkt und ihn zum Skeptiker werden lassen? Mit dieser Frage wurde ich dann alleingelassen.

Pyrrhon war nicht ein Skeptiker im landläufigen Sinn. Er behauptete nicht, man könne keine wahren Aussagen treffen, in der Art von: Wie kann ich sicher sein, dass dies ein Stuhl ist? Diese erkenntnis­theoretische Skepsis scheint mir altbacken und eher etwas für vorwitzige Gymnasiastinnen, die ihre Lehrer ärgern wollen. Die Skepsis des Pyrrhon war von anderer Art, sie war eine philosophische Lebens­einstellung, die auf Griechisch epoché, zu Deutsch Urteils­enthaltung heisst. Die Haltung der epoché besteht darin, auf Meinungen, Überzeugungen und sogar auf Behauptungen weitgehend zu verzichten. Die Erleuchtung Pyrrhons nach dem Erlebnis mit den indischen Weisen stelle ich mir deshalb so vor:

Als er seine Goldtaler den Gymnosophisten vor die Nase hielt, war er der Überzeugung, sein Reichtum, auf den er selbst stolz war, würde auch die Fremden beeindrucken. Er weitete also sein subjektives Erleben zu einer allgemein­gültigen Behauptung aus. Aus «Ich finde es grossartig, reich zu sein» wurde «Es ist für alle grossartig, reich zu sein. Und alle anderen werden mich deshalb toll finden.»

Er hatte sich damit eine Überzeugung zugelegt, die im Grunde lediglich die Überhöhung der eigenen Befindlichkeit zu einer allgemeinen Behauptung war. Das scheint mir ein allgemeiner Wesenszug von Meinungen zu sein. Vieles, was wir als solche betrachten, ist hingegen gar keine Meinung. Zum Beispiel, dass die Impfung die menschliche DNA verändere, ist einfach nur blanker Unsinn.

Damit eine Überzeugung eine Meinung ist, muss es sich entweder um eine Verallgemeinerung der eigenen Interessen oder um eine Prognose für die Zukunft handeln: Ich kann für das Burka­verbot stimmen, weil mich Muslime nerven und ich aus meinem Ressentiment ein allgemeines Gesetz machen möchte, oder weil ich glaube, dass das Wohl der Nation und unsere gemeinsamen Werte durch Burkas in Zukunft gefährdet sein werden. Laut wird allerdings immer nur das Zweite ausgesprochen.

Zudem sind Meinungen immer Bewertungen: Das eine finde ich gut, das andere schlecht. Etwas anderes geht nicht. Bewertungen lassen sich zwar leicht auf einer Skala von eins bis zehn eintragen, aber sie erlauben keine wertfreien Differenzierungen und keine Ambivalenzen. Mit anderen Worten: Sie erlauben keine genauen Beschreibungen. Meinungen nehmen einen erhöhten, quasi objektiven Standpunkt ein und distanzieren den Meinungs­starken von seinem Gegenstand. Und sie verschleiern seine eigenen Interessen am Gegenstand.

Mir scheint, als die Nackten seine Meinung nicht teilten, verstand Pyrrhon etwas, was die meisten Menschen in seiner Situation nicht verstanden hätten: Meinungen sind in der Regel eine Behinderung. Sie formen nämlich die Welt nach dem Bild des eigenen Selbst: So, wie ich denke und empfinde, müssen alle anderen auch denken, sofern sie nicht a) dumm, b) verrückt oder c) böse sind (mad or bad, sagen die Amerikaner dazu). Meinungen und Überzeugungen stabilisieren das soziale Selbst und festigen unsere Identität, aber gleichzeitig schliessen sie den Überzeugten in seiner eigenen Welt ein, weil sie implizit alles andere, alles Fremde entwerten.

Wer eine Meinung hat, sieht in der Welt im Grunde nichts anderes als ein ins Unendliche vergrössertes Ich und in den anderen nur noch das Negativ des eigenen Selbst, jene eben, die noch nicht so weit sind. Selbst­verständlich muss man nicht zwingend Über­zeugungen haben, die nichts anderes als schlecht kaschierte Ressentiments sind. Man kann zum Beispiel auch gegen seine eigenen Interessen für eine gerechte Sache eintreten, sich etwa für Steuer­erhöhungen aussprechen, obschon dadurch die eigene Steuer­belastung erheblich steigt.

Doch gerade dieses Beispiel zeigt, so scheint mir, was Pyrrhon begriff, als ihn die nackten Fremden mit ihrer heiligen Verachtung straften: Auch «gute» Meinungen sind letztlich nur die Puzzle­teile, aus denen wir unser Selbst­bild basteln. Menschen tragen ihre Überzeugungen wie Rüstungen, die sie zwar schützen und schmücken, aber sie zugleich blind für andere und alles Andersartige machen.

Nochmals O-Ton Neoskeptiker Michael Hampe: «Pyrrhon verstand, dass jedes soziale Streben, auch das Ansammeln von Über­zeugungen, mit denen wir andere beeindrucken oder als Rechthaber verbal unterdrücken können, nur in Illusionen über unsere vermeintliche Grandiosität oder gar Unsterblichkeit führt, mit der wir uns über die Banalität unseres Lebens hinweg­zutäuschen versuchen.»

Entsprechend können aus Meinungen keine Gespräche entstehen, sondern nur Debatten, lächerliche Hahnen­kämpfe, deren einziges Ziel darin besteht, den Kampf­platz stärker, schöner und strahlender zu verlassen. Das Wort Debatte kommt schliesslich aus dem Altfranzösischen und heisst «sich schlagen» oder «miteinander kämpfen». Oder haben Sie schon einmal eine Debatte im Parlament oder in der «Arena» mitverfolgt, in der eine der Debattantinnen nachdenklich zugab, einen Sachverhalt nun völlig anders zu sehen als vorher?

Doch genau das wäre ein Gespräch: sich dem anderen schutzlos aussetzen. Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas beschreibt das Gespräch als nacktes Zugehen auf den anderen, nackt wie unsere indischen Weisen. Im Gegensatz zur Debatte ist ein Gespräch also äusserst voraus­setzungs­reich und verlangt den Beteiligten enorm viel an psychischer Vorleistung ab. Deshalb klingt das mantraartig wiederholte Bekenntnis zum Miteinander­reden meist so hohl. Pyrrhon wurde zum Skeptiker, nicht um alles zwanghaft in Zweifel zu ziehen, sondern um sich Meinungen, Überzeugungen und Bewertungen zu enthalten, um die Dinge anders zu sehen, ja vielleicht, um sie erstmals überhaupt zu sehen.

Diese Skepsis funktioniert, als ob man sich einem Alltags­gegenstand, zum Beispiel einem Messer, so stark annäherte, dass die Gestalt zwar verschwindet und es nicht mehr als Messer erkennbar ist, die Oberfläche dafür aber plötzlich eine überraschende und beeindruckende Struktur oder ein vielfältiges Farbenspiel preisgibt. So kann man auch auf Menschen zugehen, versuchen Sie es einmal.

Auf diese Weise lässt sich keine Politik machen, werden Sie einwenden. Politik bestehe in der Konfrontation von Meinungen, im Ringen um das bessere Argument. Nun, das scheint mir eine Verklärung der Politik zu sein, die sich für eine 1.-August-Rede eignet, nicht aber für eine politische Analyse. In einer Demokratie werden nicht Meinungen, sondern Interessen verhandelt, und zwar nicht mit Argumenten, sondern mit Macht. Dies geschieht meist in den Hinter­zimmern der Politik und der Konzerne. Die Meinung ist lediglich das schmucke Mäntelchen, mit dem hernach das Interesse an die Öffentlichkeit tritt. Volks­initiativen zum Beispiel haben es deshalb in der Regel so schwer, weil die Kampagne der Gegner meist damit droht, dass die Meinung zwar edel und kleidsam sei, den Interessen der Abstimmenden aber zuwiderlaufe. Da ist schon manch einer umgefallen.

Der zweite zu erwartende Einwand ist, dass es ein eklatanter Selbst­widerspruch sei, wenn eine Kolumne die Meinung vertritt, Meinungen seien schädlich. Dieser Einwand sticht zwar, aber wir leben eben in Wider­sprüchen. Gerade dass sie alle Wider­sprüche wegbügeln und vereindeutigen, macht Meinungen so kontra­produktiv. Als würde man ein Bild von Jackson Pollock mit weisser Dispersion über­tünchen, damit alles schön sauber und ordentlich aussieht.

Klar, niemand kommt ohne Meinungen aus. Sie reduzieren Komplexität und ermöglichen dadurch, überhaupt zu handeln und nicht wie Hamlet in Ambivalenzen zu versinken. Zudem sind sie im sozialen Spiel eine zentrale Währung, die den Einzelnen in den gesellschaftlichen Landschaften verorten.

Aber vielleicht lohnt es sich, von Zeit zu Zeit den Weg des Skeptikers Pyrrhon zu beschreiten und, wie manche einen alkohol­freien Januar einschalten, den Juni meinungs­frei zu halten und seine Überzeugungen abzulegen wie eine unbequeme Rüstung. Einen Monat lang keine Likes, keine Bewertungen, keine Debatten, keine Behauptungen. Nur Beschreibungen und Erzählungen.

Das ist zugegebener­massen anstrengend, aber den Versuch wäre es wert. Ohne Rüstung kann man nämlich viel näher an Dinge und Menschen heran­kommen. Plötzlich werden dann Eigenschaften sichtbar, die vorher verborgen gewesen sind, vielfältig und farbig zwar, aber eben auch voller Wider­sprüche. Vielleicht entwickelt sich daraus sogar ein Gespräch.

Vielleicht auch nicht.

Illustration: Alex Solman

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