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Pommes Shits

16.03.2021

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Liebe Leserinnen und Leser – and everyone beyond

Pommes frites gehen gar nicht. Egal, ob frittiert oder gebacken: Sie taugen einfach nicht für Lieferdienste, findet Journalistin Sylke Gruhnwald. Sie hat diese Services etwas genauer unter die Lupe genommen.

«Als im letzten Frühjahr Imbissbuden, Bodegas und Restaurants das erste Mal wegen der Pandemie schliessen mussten, landeten Pommes lappig in Karton­schachteln auf dem heimischen Esstisch statt knusprig auf dem Teller im Restaurant.

Dann, Mitte Dezember, wieder: Die Bar im Zürcher Niederdorf organisiert einen Glühwein­stand vor der Tür, auf dem Land fährt der Chef des thailändischen Restaurants das bestellte Essen selbst aus, andere Gastronominnen öffnen ihre Küchen und melden sich bei einem Lieferdienst wie Uber Eats, Smood oder Eat.ch an.

Ein Beizer, der Cordon bleu paniert und Pizza bäckt, sagt mir am Telefon, er mache seit dem Ausbruch des Virus 99 Prozent seines Umsatzes über Eat.ch. Er ist einer von 3500 Gastronomen in der Schweiz, die ihr Menü über die Plattform anbieten. Im Januar 2020, vor dem ersten Shutdown, hat Eat.ch gemäss eigenen Angaben mehr als 500’000 Bestellungen gemacht; danach in Spitzenzeiten bis zu dreimal so viele.

Eat.ch gehört zum niederländischen Konzern Just Eat Takeaway, und der will weltweit zur grössten Bestell­plattform ausserhalb Chinas wachsen. Die Faustregel ist einfach: Mehr Restaurants und mehr Kundinnen machen die Bestell­plattform bekannter, und je bekannter sie wird, desto schneller sticht sie ihre Konkurrenten aus. Just Eat Takeaway gab letztes Jahr 369 Millionen Euro für Werbung aus. Der Kampf um unsere Aufmerksamkeit ist teuer.

Das Ziel einer jeden neuen Bestell­plattform ist das Monopol, die absolute Marktmacht, für die das kapitalistische Prinzip gilt: The winner takes it all. ‹Kam es früher darauf an, Dinge herzustellen und mit Gewinn zu verkaufen, geht es im Zeitalter der Unknappheit um das Eigentum an den Märkten selbst›, schreibt Philipp Staab, Professor an der Humboldt-Universität in Berlin. Falls nötig wird die Konkurrenz vom Markt gefegt. Just Eat Takeaway kaufte in Deutschland eine Bestell­plattform für knapp eine Milliarde Euro auf. Profitabel ist das Geschäft deshalb längst noch nicht.

Der britische Reporter Jonathan Nunn heuerte im Sommer für eine Recherche für das Magazin ‹1843› bei Uber Eats an. Er fährt sechs Monate lang Essen aus und lernt in London Gastronominnen kennen, die Liefer-Apps mit einer Sucht vergleichen: Alle wissen, dass sie ihnen auf lange Sicht schaden werden, aber für den Moment versprechen sie Heilung. ‹Die Gastronomen wissen nicht, wie sie aufhören sollen›, schreibt mir Nunn in einer E-Mail. ‹Irgendwann kommen sie an einen Punkt, an dem ein so grosser Teil des Kundenstamms über die Bestell­plattformen kommt, dass sie nur noch wenig Spielraum haben, um zu verhandeln oder gar auszusteigen.› Monokulturen sind schlecht für die Natur wie für Restaurant­besitzerinnen.

Was für mich praktisch ist: Über eine App kann ich aus Hunderten Restaurants mit allen Küchen der Welt aussuchen und meine Wahl bei Wind und Wetter bequem vom Kurier an die Haustür liefern lassen. Das bedeutet für Gastronomen: Restaurants werden unsichtbar, gekocht wird fortan im Dunkeln, in dark kitchens ohne Fenster irgendwo am Stadtrand – und zwar Menüs, die sich eignen, in Karton­schachteln oder Styropor ausgeliefert zu werden. Keine Pommes frites, da sind sich Nunn und ich einig.

Was ich vermisse, sind keine Restaurants mit weissen Tischdecken. Sondern solche mit Charme. Letzte Woche hat mein liebstes jüdisches Deli in New York – das «Eisenberg’s» – dichtgemacht. Dort, an der langen Theke, die immer klebte, egal wie oft der Beizer sie abwischte, gabs für mich immer den dünnsten Filterkaffee der Stadt, Bagels mit Frischkäse – und knusprige home fries.»

Und nun:

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die Europäische Arzneimittel­behörde (EMA) sieht derzeit den Nutzen des Astra-Zeneca-Impfstoffes grösser als das Risiko. Bisher gebe es keine Beweise für einen Zusammen­hang mit Thrombose-Fällen, sagte EMA-Direktorin Emer Cooke. Derzeit läuft ein Prüfverfahren zur Sicherheit des Impfstoffes. Zuvor haben Deutschland und andere EU-Staaten die Impfungen mit Astra Zeneca vorerst ausgesetzt, nachdem es in einigen Fällen zu Blutgerinnseln gekommen war. Es handle sich dabei um eine Vorsichts­massnahme, teilten die verschiedenen Gesundheits­ministerien der Länder mit. Die EMA will überprüfen, ob die Fälle eine Nebenwirkung der Impfung oder ein zeitlicher Zufall seien. Eine weitere Stellungnahme wird diese Woche erwartet.

Der Impfstoff-Hersteller Moderna hat eine Studie mit Kindern und Babys begonnen. Insgesamt rund 6700 gesunde Kinder zwischen sechs Monaten und 12 Jahren würden daran teilnehmen, so das US-Unternehmen. Bislang werden Kinder unter 16 Jahren nicht geimpft. Die Immunisierung von Minder­jährigen wird als ein Schlüssel für das Erreichen einer Herden­immunität – also eines ausreichenden Schutzes für die ganze Gesellschaft – gesehen.

Und zum Schluss: Ein seltsames Jubiläum

Vor genau einem Jahr wurde in der Schweiz die ausserordentliche Lage ausgerufen. Und bald darauf begann der erste Shutdown. Die Pandemie­welle war über den Globus gerollt und hatte die Schweiz erreicht.

Das war vor 365 Tagen.

Vor 8760 Stunden.

Einer halben Million Minuten.

Etwa 31,5 Millionen Sekunden.

Seit Beginn der Pandemie hatten 575’253 Menschen in der Schweiz und Liechtenstein eine laborbestätigte Covid-19-Infektion.

24’217 Menschen mussten deswegen ins Spital.

9’453 Menschen sind gestorben.

Wo stehen wir heute?

Vermutlich am Anfang der dritten Welle. Dies bestätigten indirekt auch die Fachvertreterinnen des Bundes heute Nachmittag in Bern. «Man sieht eine deutliche Steigerung bei den Fallzahlen», so Patrick Mathys vom Bundesamt für Gesundheit (BAG).

In den vergangenen Tagen hat sich erwiesen, was die Experten im Januar vorausgesagt hatten: Die neuen Varianten des Virus würden dominant. Heute sagte Mathys: «80 Prozent der nachgewiesenen Infektionen sind auf diese Varianten zurückzuführen.»

Im Januar – als die Lage nach der zweiten Welle wieder besser aussah – hatte die wissenschaftliche Taskforce vor der Gefahr einer «Trendumkehr der epidemiologischen Lage» gewarnt, wenn die Anzahl der Infektionen mit der britischen Variante zunehme. «Sobald B.1.1.7 (die britische Variante, Anm. d. Red.) der dominierende Sars-CoV-2-Stamm wird, steigen bei gleichbleibenden Eindämmungs­massnahmen die Anzahl Infektionen – und später auch Hospitalisationen und Todes­fälle – kontinuierlich an.»

Das heisst erfahrungsgemäss: Vermutlich steigen die Fallzahlen in den kommenden Wochen wieder ziemlich an.

Derzeit sind 394’926 Menschen vollständig geimpft. Das sind 4,57 Prozent der Bevölkerung. Für einen guten Schutz der Gesamt­bevölkerung – oder auch: Herden­schutz – müssen 60 bis 70 Prozent der Leute geimpft sein. Die entscheidende Frage wird sein, ob die Impfungen schnell genug voranschreiten.

Der Bundesrat entscheidet am kommenden Freitag, 19. März über einen weiteren Lockerungs­schritt. Dafür hatte er vor einigen Wochen vier epidemiologische Richtwerte definiert, die für weitergehende Öffnungen gegeben sein müssten. Derzeit sind drei der vier Werte nicht erfüllt.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Marguerite Meyer

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Manchmal muss man die kalten Tage einfach so gut aussitzen, wie es geht. Wie das funktioniert, zeigt uns dieses Capybara. Das grummlig-süsse Tier ist ein Vertreter der weltgrössten lebenden Nagetiere. Capybaras – oder auch passenderweise Wasserschweine – sind quasi Riesen-Meerschweinchen und in Südamerika heimisch. Funfact: Sie schlafen sogar gerne im Wasser. Und das, obwohl ausgewachsene Tiere so schwer wie Menschen sein können. Chapeau!

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