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Tel à-vivre

15.03.2021

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Liebe Leserinnen und Leser – and everyone beyond

Auch wenn die Zeitverschiebung zwischen Israel und der Schweiz nur eine Stunde beträgt: Der Austausch mit Kollegin Joëlle Weil hatte in den letzten Wochen etwas von einer Zeitreise. Die Journalistin aus Zürich, die seit acht Jahren in Tel Aviv lebt und arbeitet, berichtet für uns fast ein bisschen aus der Zukunft: Wie lebt es sich, wenn die Impfungen so weit fortgeschritten sind wie nirgendwo sonst? Joëlle Weil hat ihre persönlichen Eindrücke festgehalten:

«Als ich während des ersten Lockdowns vor meinem Super­markt mit 2 Metern Abstand zur nächsten Person anstand, weil drinnen nur 10 Personen gleichzeitig einkaufen durften, hörte ich, wie ein Ultra­orthodoxer von hinten rief: ‹Endlich halten in dieser Stadt alle Abstand zueinander.› Und wir alle haben mit ihm über seinen Scherz gelacht. Ja, der erste Lockdown in Tel Aviv war noch irgendwie ein Abenteuer. Ein Jahr zog ins Land, und der dritte, den wir erst vor wenigen Wochen beendet haben, fühlte sich schon fast wie ein trister Lifestyle an.

Seit einem Jahr läuft hier dasselbe Band: ‹Lockdown, Wahlen, Impfstoff? Lockdown, Wahlen, Impfstoff!› Und dann war er plötzlich da, dieser Impfstoff, von dem alle redeten. Wie auf einem weissen Ross kam er daher, und wir alle lagen wie die Jungfrau in Nöten am Strassen­rand, ready, endlich gerettet zu werden. Dass mir Freunde aus der Schweiz Sätze wie ‹Ich bin so neidisch auf deine Impfung› schicken, während sie sonst von Strand, Sonne oder Hummus schwärmen, finde ich noch immer irgendwie absurd.

Wäre diese Pandemie ein Kinofilm, käme bald der Abspann. So fühlt sich das alles gerade in Israel an. Endlich geht diese Pandemie dem Ende zu. Ich selbst habe bei meiner ersten Dosis vor Erleichterung fast weinen müssen: Es hat sich wie der Anfang eines langsamen Endes angefühlt.

Ja, plötzlich ist Impfen das Gesprächs­thema Nummer eins zwischen mir und allen Menschen, die ich kenne. Impfen, impfen, impfen. Es geht seit Monaten nur noch ums Impfen. Jede Woche eine neue Studie, jede Woche mehr Daten, jede Woche wird jeder Einzelne von uns zu einem noch relevanteren Experten. Wir fühlen uns alle wie kleine Professorinnen und verfolgen mit Spannung die aktuellen Zahlen in der Hoffnung, dass es tatsächlich bald ganz vorbei ist.

Über die Hälfte der israelischen Bevölkerung wurde bereits geimpft. Es ist die neue Zahl, die es zu tracken gilt. Neuinfizierungen waren gestern. Heute wollen wir wissen, wie viele gepikst wurden.

Und dann kam der Tag, an dem ich mich entschied, meine Freunde wieder zu umarmen. Und zwei Wochen später öffneten die Restaurants wieder, die sieben Monate geschlossen waren. Dem grauen Pandemie­alltag wurde wieder Leben eingehaucht. Die Zahlen werden besser, und mit ihnen wird es die Stimmung auch. Ich selbst war letzte Woche in meinem Lieblings­restaurant. Aufgeregt und vorfreudig wie vor einem ersten Date – von dem man weiss, dass es gut sein wird.

Und dennoch: Man traut sich fast nicht, vom ‹Ende› zu reden beziehungs­weise es laut auszusprechen. Was, wenn wir uns zu früh gefreut haben? Zurück­haltung ist eigentlich nicht so die israelische Art. Und Vorsicht auch nicht. Aber dieser Weg zurück in die Normalität ist gerade eine organisatorische Heraus­forderung – und auch eine emotionale.»

Wir fliegen aus Tel Aviv zurück in die Schweiz und lesen:

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Das Schweizer Pharma­unternehmen Lonza erhält die Bewilligung für einen neuen Produktions­standort für Impfstoff. Diese erteilte die Schweizer Arzneimittel­behörde Swissmedic. Es handelt sich um einen zweiten Standort in Visp, wo Impfstoff der Firma Moderna hergestellt werden soll. Die Bewilligung erfolgte nach einer Inspektion der Produktionsstätte.

Deutschland, Italien und Frankreich pausieren den Einsatz von Astra Zeneca. Das sei eine Vorsichts­massnahme, so der deutsche Gesundheits­minister Jens Spahn. Vergangene Woche hatten bereits Dänemark und andere Länder den Einsatz des Impfstoffs gestoppt. Grund dafür waren Berichte von Blut­gerinnseln nach der Impfung gewesen. Bisher gibt es jedoch keine Beweise, dass die Gerinnsel in Zusammen­hang mit der Impfung stünden, betonte auch das dänische Gesundheits­ministerium. Morgen Dienstag will sich die europäische Arznei­mittel­behörde dazu äussern.

Italien geht in den dritten Lockdown. Wegen steigender Zahlen wird ein Grossteil der Regionen ab heute Montag bis nach Ostern zu sogenannten roten Zonen. Italien fährt zur Pandemie­bekämpfung ein Zonen­modell, wo je nach Infektions­geschehen in einer Region stärkere oder schwächere Massnahmen anfallen. Aufgrund der dritten Welle schliessen Schulen, Kitas, Geschäfte und Restaurants, die nur noch Take-away anbieten dürfen. Auch die Bewegungs­freiheit wird stark eingeschränkt. Einzige weisse Zone mit wenigen Massnahmen ist derzeit die Insel Sardinien.

Und zum Schluss: Langfristiges

Für fast alles gibt es in der Schweiz Zahlen und Statistiken. Zuletzt für alles rund um Covid-19: Sterbe­zahlen, belegte Intensiv­betten, Härtefall­gesuche von Firmen. Doch 10’000 Menschen – vielleicht sind es aber auch 100’000 – tauchen hierzulande darin nicht auf. Es sind die Long-Covid-Patientinnen. Wie viele es bisher betrifft, ist unklar. Der typische Patient ist eine jüngere Frau, die nur mit milden Symptomen erkrankte – dann aber ohne erkennbaren Grund in ein chronisches Leiden hinein­schlittert, schreibt Journalistin Theres Lüthi in der gestrigen «NZZ am Sonntag».

Wir finden, der Beitrag der Kollegin ist lesenswert – er beleuchtet ein breites Problem, das in der Schweiz viele betreffen könnte. Von Long Covid spricht man, wenn Krankheits­symptome mindestens 12 Wochen dauern. Bei hart getroffenen Covid-Patienten ist der Fall klar. Schwieriger wird es bei denen, die zwar an Covid-19 erkrankten, aber nicht schwer – und dann einen Rückfall auf unbestimmte Zeit erleiden. Wie Chantal Britt, die es vor einem Jahr erwischte und die heute sagt: «Es kommt mir manchmal vor wie ein Schwel­brand im Körper. Es kann immer und überall losgehen. (…) Plötzlich macht es puff, und es hat irgendwo eine Flamme. Klingen die Symptome wieder ab, ist einige Tage Ruhe, und dann meldet sich an anderer Stelle ein neues Problem. Es ist ein Auf und Ab, und das seit einem Jahr.»

Diffuse Krankheits­bilder, Schmerzen, unendliche Müdigkeit – die vagen Symptome erinnern an andere Langzeit­folgen von schweren viralen Infekten. Eine grosse Heraus­forderung dabei: Es gibt oft keine Therapien oder Medikamente. Mit dem Virus leben, wie das immer wieder gefordert wird, heisst auch: mit heimtückischen und unberechen­baren Folgen leben.

In der Schweiz dürften sich rund 2 Millionen Menschen schon mit Covid-19 angesteckt haben – und es werden sich in Zukunft weitere anstecken. Wenn nur schon ein paar Prozent davon langfristige Folgen davon­tragen, wird sich das auch auf den Arbeits­markt und die Gesundheits­kosten niederschlagen. Und Einschränkungen der Lebens­qualität mehrerer zehntausend Menschen zur Folge haben. Oder wie eine Betroffene sagt: «Der Tod ist nicht das Einzige, was zählt. Wir sollten auch die Leben zählen, die durch das Virus verändert wurden.» Hier geht es zum Artikel (Anmeldung nötig).

Marguerite Meyer

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PPPS: Ein Blick aus dem Fenster reicht Ihnen heute Abend, um zu wissen, dass das Wetter – Pardon – hundemies ist. Und zwar praktisch überall in der Schweiz. (Ausser Sie haben Glück und wohnen im Tessin.) Wir wollten eigentlich den absoluten Schlecht­wetter-Tipp bereitstellen, aber vermutlich haben Sie einen besseren Überblick über Ihre Montagabend-Bücher, -Serien, -Kinderbändigungs­versuche und -Kochrezepte als wir. Republik-Redaktorin Marie-José Kolly lässt sich nicht einschüchtern und antwortet auf die redaktions­interne Frage: «Gummistiefel anziehen, im Regen spazieren und sich danach unter der Dusche von warmem Wasser berieseln lassen: So zumindest sieht mein Feierabend­plan aus.»

PPPPS: Weg vom Regen, aber bleiben wir beim Wasser: Dieser kleine Junge ist überzeugt davon, dass er Zauberkräfte hat – und Wasser durch seine Hände leiten kann. Das Video kommt von Republik-Kollege Patrick Venetz, der einen immer wieder daran erinnert, dass das innere Kind gepflegt werden will.

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