Frauenstimmen – Folge 6

Starke Frauen, kleine Männer: Eine Karikatur von Alexander Blanke alias Alibert im Vorfeld der Innerrhoder Landsgemeinde 1991, als erstmals Frauen stimmen durften.

Himmel, Hölle, Appenzell

Es brauchte ein Machtwort des Bundes­gerichts, damit Appenzell Innerrhoden vor dreissig Jahren die Frauen endlich mitbestimmen liess. Warum eigentlich? Besuch im vielleicht stursten Kanton der Schweiz – der aber doch nicht viel anders ist als der Rest des Landes. Serie «Frauenstimmen», Folge 6.

Eine Reportage von Anja Conzett (Text) und Mina Monsef (Bilder), 13.03.2021

Wie eine zerrissene Perlen­kette liegen sie am Fuss des Säntis: die schnee­bedeckten Hügel Inner­rhodens. Schön ist es, dieses Appenzell, mit seinen erhabenen Bauern­häusern, treuen Hunden, tief verwurzelten Stamm­bäumen, seiner Handwerks­kunst, den Sennen­trachten, dem Käse, Schnaps und den Seen – trautes Auenland. Wäre da nicht diese hässliche Geschichte.

Vor knapp 31 Jahren sitzt Maria Eugster-Breitenmoser mit einer Freundin am Küchen­tisch vor dem Radio. Die Kinder spielen, den Müttern kommen die Tränen; Tränen der Enttäuschung.

Zur gleichen Zeit hat Beatrice Oberdorfer das Bügel­brett vor dem Fernseher aufgebaut und versucht, sich mit der Wäsche abzulenken, doch dann kommen auch ihr die Tränen; Tränen des Zorns.

Ihr Mann, Gerd Oberdorfer, steht im Ring auf dem Lands­gemeinde­platz, den Degen in der rechten Hand, als der Landammann das Resultat verkündet: «Frauen­stimm­recht abgelehnt.» Er weint nicht, er schüttelt nur den Kopf, wie es jemand tut, der Zeuge eines Unrechts wird, das er trotz grosser Anstrengung nicht verhindern konnte.

Am 29. April 1990 – fünf Tage nachdem das Hubble-Teleskop ins All geschickt wurde, knapp ein Jahr nachdem im Cern, etwa 282 Kilometer Luftlinie vom Landsgemeinde­platz entfernt, das World Wide Web erfunden wurde, neun Jahre nachdem die Schweiz den Gleich­stellungs­artikel in die Verfassung aufnahm – erklärt Innerrhoden erneut die Frau zum Menschen zweiter Klasse.

Was zum Teufel ist hier schiefgelaufen?

Revoluzzer wider Willen

In den Gassen des Inner­rhoder Hauptorts Appenzell sind an diesem Februartag, knapp 31 Jahre nach jener geschichts­trächtigen Lands­gemeinde, nur wenige Menschen unterwegs. Die meisten haben es eilig, es ist kalt. Feiern werde sie das Jubiläum nicht, sagt die Verkäuferin im Käseladen, da gebe es nichts zu feiern, das Frauen­stimm­recht sei hier längst eine Selbst­verständlichkeit. Ende der Diskussion.

Die vergnügte Dame, die aus der Bäckerei läuft, findet das Jubiläum des Frauen­stimmrechts ungeheuer wichtig – aber sie lebe halt auch erst seit zehn Jahren im Kanton.

Jene Frau mit grauen Haaren, die ein paar Minuten später durch dieselbe Gasse geht, wendet sich noch mitten in der Frage ab und zischt über die Schulter: «Frauen­stimm­recht? Nein, dazu habe ich bestimmt nichts zu sagen.»

In Appenzell ist es nicht so leicht, jemanden zu finden, der sich an die Einführung des Frauen­stimm­rechts erinnern will.

Beatrice und Gerd Oberdorfer wollen sich erinnern. Es scheint fast, als hätten sie lange darauf gewartet, dass ihnen jemand dabei zuhört. Das pensionierte Lehrer­paar lebt inzwischen im sankt-gallischen Rorschach, «im Exil», in einem Haus voller Erinnerungs­stücke, die sie aus der Heimat mitgenommen haben. Auf dem Esszimmer­tisch liegt der Stapel Dokumente, der bis vor kurzem in einer Kiste mit der Aufschrift «Frauen­stimm­recht» auf dem Estrich lag. Zeitungs­artikel, Leser­briefe, Protokolle und private Korrespondenz erzählen eine Geschichte, die von Jeremias Gotthelf erdacht sein könnte.

«Das gängige Narrativ, das ist ein sehr unvollständiges Bild», sagt Gerd Oberdorfer. Das gängige Narrativ, wie er sagt: Appenzeller sind Hinter­wäldler, die dem Druck von aussen zum Trotz und aus Liebe zur Tradition den Frauen (die das Stimmrecht angeblich gar nicht wollten) die Mitsprache verwehrten, bis eine auswärtige Frau praktisch im Alleingang vor Bundes­gericht das Frauen­stimm­recht einklagte, worauf die obersten Richter der Schweiz den Appenzeller Demokratie­­begriff als verfassungs­widrig verurteilten.

Oberdorfer ist Inner­rhoder in der dritten Generation, seine Frau ist Appenzellerin, aber aus Ausser­rhoden. In anderen Worten sind sie: Frönti. Fremde. «In Inner­rhoden musst du deine Ahnen fast bis auf die Schlacht am Stoss zurück­verfolgen können, damit du als Einheimischer giltst», sagt Gerd Oberdorfer. Diese Schlacht fand im Jahr 1405 statt.

Im Leben von Beatrice und Gerd Oberdorfer spielte das Frauen­stimmrecht immer eine starke Rolle …
… auch wenn die dazugehörigen Dokumente meistens auf dem Estrich gelagert sind.

Nicht nur die Abstammung machte das junge Paar zu Fremden, als sie sich 1967 in der Exklave Oberegg nieder­liessen, wo Gerd Oberdorfer die Leitung der Schule Sulzbach übernahm. Der unterdessen pensionierte Lehrer machte bald schweizweit Schlag­zeilen für seine unkonventionellen Lehr­methoden. So war seine Schule die erste, in der es Computer gab, und auch für die Bildung von Erwachsenen engagieren sich die beiden, sie organisieren Vorträge und Veranstaltungen für mehrere tausend Besucher in einem Kanton mit wenigen tausend Einwohnern.

Dass das Frauen­stimmrecht nach Innerrhoden gehört, war für die beiden eine Selbst­verständlichkeit, woraus sie auch nie einen Hehl machten. «Wir waren überhaupt keine Revoluzzer. Aber für die damalige Zeit sicher ein modernes Paar – das reichte, um Opposition zu sein», sagen sie.

Das bescherte ihnen eines Tages einen Hausbesuch des Gemeinde­hauptmanns und Schul­präsidenten: Damals lebten Ober­dorfers noch in wilder Ehe, was im Dorf Fragen zu ihrer moralischen Integrität und der Tauglichkeit als Vorbilder aufwarf. Sie solle zur Wahrung des Scheins doch jeweils einfach vor vier Uhr morgens das Haus verlassen, schlugen die Sittenwächter Beatrice Oberdorfer vor.

Als das Paar kurz darauf heiraten wollte, weigerte sich der Pfarrer, den Katholiken mit der Reformierten zu vermählen.

«Und in diesem Klima mussten wir das Frauen­stimm­recht erkämpfen», sagt Gerd Oberdorfer. «Manchmal fühlte es sich an, als wären wir in einen heiligen Krieg geraten», sagt Beatrice Oberdorfer.

Heiligtum Lands­gemeinde

Auch wenn das späte Frauen­stimm­recht die berühmteste Besonderheit des Appenzells ist, ist sie bei weitem nicht die einzige.

Appenzell Innerrhoden ist einer von sechs Halbkantonen – mit 16’000 Einwohnerinnen der kleinste Kanton der Schweiz; mit 172 Quadrat­kilometern flächen­mässig der zweitkleinste. Die einem heraus­geschnittenen Herz gleichenden Umrisse des tiefkatholischen Inner­rhoden schmiegen sich an den reformierten Schwester­kanton Ausserrhoden. Beide komplett umschlossen von St. Gallen – der «Fünfliber im Kuhfladen», wie sie sich selber gerne nennen.

In Innerrhoden kennt jeder jede. Es liegt unter anderem an dieser Kleinräumigkeit, dass der Kanton nebst Glarus der letzte mit einer Lands­gemeinde ist. Lebten hier zu viele Menschen mit zu vielen Differenzen, liesse sich die Tradition allenfalls nicht mehr halten – wie in Ausser­rhoden, wo die Lands­gemeinde 1997 abgeschafft wurde.

In Innerrhoden aber versammelt sich das Stimmvolk noch immer an jedem letzten April­wochenende auf dem Lands­gemeinde­platz im Hauptort Appenzell, um im sogenannten Ring mit Hand­zeichen über Amts­besetzungen und kantonale Vorlagen zu bestimmen – die Männer mit dem Degen in der rechten Hand, die Frauen mit dem Stimm­ausweis. Darum herum: ein grosser Festakt mit Gottes­dienst, Umzug, Musik, Essen, Trinken.

Bislang soll es in den über 600 Jahren seit der ersten verbrieften Lands­gemeinde nur zwei Natur­gewalten gegeben haben, die die Inner­rhoder davon abhalten konnten, die Demokratie auf diese Weise zu feiern – Napoleon und Covid.

Die Landsgemeinde, dieser Superlativ der direkten Demokratie, ist hier eine hochheilige Angelegenheit. Und vielleicht spielte sie auch dabei eine Rolle, dass das Frauen­stimm­recht so spät kam. Man sei nicht gegen die Frauen, sondern für die Lands­gemeinde, hiess es oft.

Es ging die Furcht um, die Landsgemeinde müsse abgeschafft werden, wenn auch Frauen in den Ring steigen würden. Kein Platz (wie in Ausser­rhoden) und überhaupt – die würdige Stimmung wäre ruiniert, die Frauen würden ja noch nicht mal einen Degen besitzen. (Der Degen gilt bis heute für die Männer als einzig nötiger Stimm­rechts­ausweis, die Frauen müssen sich dagegen mit Papier ausweisen.)

Maria Eugster-Breitenmoser, die 1990 vor dem Radio Tränen vergoss, schüttelt den Kopf und winkt ab. «Das mit der Lands­gemeinde war eine faule Ausrede. Wenn sie abgeschafft worden wäre, dann eher ohne Frauen.» Zu sehr habe sie im Laufe der Zeit ihre Berechtigung verloren.

In ihrem Haus in Appenzell hängt der silberne Degen direkt neben dem Eingang und grüsst Gäste mit prunkvoller Verzierung. Einst gehörte er ihrem Vater, jetzt benutzt ihn ihr Mann. Eugster-Breitenmoser erinnert sich, wie sie früher dem Vater zusah, wie er sich jeweils auf die Abstimmungen vorbereitete, die Mutter den Degen putzte und er den Kindern Chrempfli mitbrachte – Nusskrapfen, die speziell zum Lands­gemeinde­tag gebacken werden. «Für die Frauen war die Lands­gemeinde genauso besonders wie für die Männer. Auch lange bevor wir teilnehmen durften.»

Der Degen gehörte immer den Männern in der Familie …
… aber bei Maria Eugster-Breitenmoser hat er bis heute seinen Ehrenplatz.

Wie Oberdorfers gehören auch Maria und Beda Eugster-Breitenmoser zu jenen, die damals für das Frauen­stimmrecht kämpften. Nach dem Entscheid des Bundes­gerichts gründete Maria Eugster-Breitenmoser das Frauen­forum mit, das sie viele Jahre präsidierte. «Ziel war es, die Frauen staats­politisch zu bilden, sie zu animieren, sich politisch zu engagieren, zu vernetzen.»

Das Frauenforum verhalf etwa Ruth Metzler (CVP) dazu, zur Bezirks­richterin, dann Kantons­richterin und später zur ersten Regierungs­rätin Inner­rhodens zu werden – und ebnete ihr schliesslich den Weg in den Bundesrat.

Eugster-Breitenmoser erinnert sich gut an Metzlers erste Wahl: «Als Ruth als Bezirks­richterin kandidierte, haben sie ausgerechnet meinen Mann gefragt, ob er nicht gegen sie antreten könne.» Nicht weil Metzler verhindert werden sollte, sondern weil man glaubte, dass die junge Juristin keine Chance hätte und am Ende noch statt ihr ein Mann ins Richteramt gewählt werden würde, der nicht Recht studiert hat. Beda Eugster-Breitenmoser hätte die Wahl eines Juristen sichern sollen. «Mein Mann lehnte selbst­verständlich ab», sagt Maria Eugster-Breitenmoser und lacht.

Wenn sie sich an die Zeit vor dem Frauen­stimm­recht erinnert, ist ihr nicht zum Lachen zumute.

Mutterland in Vaterhand

In Innerrhoden wird eine Sprache gesprochen, die gleichzeitig mit jedem andern und keinem andern Dialekt verwandt zu sein scheint. Ein Urdialekt voller eigen­tümlicher Begriffe. Einer davon ist föötele. Sich einen Vorteil verschaffen. Das ist etwas, das sie lernen mussten, die Innerrhoder.

Denn bevor der Kanton mit tiefen Steuern Millionäre, Autovermieter und internationale Firmen anlockte, war er stets einer der ärmsten des Landes und hatte rekordhohe Suizidraten.

«Wir Innerrhoder waren seit jeher Aussen­seiter: Der kleine, verschupfte, bitterarme Kanton», sagt Gerd Oberdorfer. «Wenn man nicht viel mehr hat als seine Identität, seine Traditionen, dann klammert man sich umso fester daran», sagt Beatrice Oberdorfer. Und irgendwann sei die politische Unter­drückung der Frau einfach Teil dieser Identität geworden.

Sicher ist: Kein Kanton hat häufiger Nein zum Frauen­stimm­recht gesagt als Appenzell Inner­rhoden. Der erste Vorstoss (auf Schul- und Kirchgemeinde­ebene) geht auf das Jahr 1969 zurück und stammte vom Bauern und Grossrat Josef Koller. Man erzählt, dass er ausgelacht wurde.

Als es zwei Jahre später um die Einführung des Frauen­stimmrechts auf Bundesebene ging, legte Appenzell Inner­rhoden anteilmässig mehr Nein-Stimmen ein als der Rest der Schweiz – 71 Prozent.

Im «Appenzeller Tagblatt» und im «Appenzeller Volks­freund» schreiben die Gegner in Leser­briefen mit jeder Abstimmung agitierter gegen das Frauen­stimm­recht: Die Argumente sind oft dieselben wie im Rest der Schweiz – mal misogyn (Frauen sind nicht zum Regieren fähig), mal beleidigt (haben wir es bislang denn nicht recht gemacht?), mal paternalistisch (die Frau ist vor dem Drecks­geschäft Politik zu schützen) – und nicht selten in Reimform, wie in diesem Leser­brief aus dem «Volksfreund» von 1982:

Göll, liebe Landsmaa, s’Wyber­schtimmrecht a de Landsgmeend isch Deer siche au gää nüd gnehm, dromm schtimm chreftig Nei, sös blyb denn lieber gad deheem.

Der Dauerbrenner unter den Argumenten aber ist eine Umfrage unter Inner­rhoderinnen, die 1969 von der damals noch frauen­stimmrechts­feindlichen Regierung in Auftrag gegeben und auch noch 1990 zitiert wurde, als wäre sie brandneu – dort äusserten sich 1359 Frauen gegen das Stimmrecht, 1093 dafür.

Waren die Innerrhoderinnen von damals einfach unterwürfige Huscheli?

Mitnichten.

Die Armut des überdurchschnittlich lange von Land­wirtschaft und Klein­gewerbe geprägten Innerrhoden machte die Arbeit der Frauen zur existenziellen Einnahme­quelle. Die Innerrhoder Bäuerinnen verdienten den Lebens­unterhalt mit feinen Stickereien, die nicht selten die Haupt­einnahme­quelle der Familie waren. Der Stickstock stand bis tief ins 20. Jahrhundert vielerorts in der Mitte der Bauern­haus­stube. Von dort aus lenkten die Frauen die Geschicke der Familie, selbstbewusst und aufrecht wie die Hauben ihrer Trachten.

Bei den Gewerblerinnen sah es nicht anders aus. Maria Eugster-Breitenmoser wuchs in einer Metzgerei auf, das Bild des Familien­hauses hängt neben dem Cheminée in ihrer Stube. Der Vater produzierte, die Mutter führte das Geschäft und die fünf bis sechs Angestellten – sowie die Buch­haltung. «Die Finanzen lagen meistens in Frauenhand», sagt sie.

In vielerlei Hinsicht war die Innerrhoderin also lange besser gestellt als andere Schweizerinnen. Es sei denn, sie war unverheiratet. Was man von allein­stehenden Frauen hielt, daraus machte man auch keinen Hehl. Ledige sollen gefälligst einen Mann finden, Geschiedene seien selber schuld, hiess es. «Und Witwen wurden aus dem kollektiven Bewusstsein verbannt», sagt Gerd Oberdorfer mit einem Blick zurück in seine Kindheit.

Oberdorfers Vater, ein Schneider mit eigenem Geschäft, starb, als der Sohn noch in der Schule war. Was es bedeutet, in Inner­rhoden Witwe zu sein, lernte die Mutter drei Tage nach dem Tod ihres Mannes. Ein Bekannter stand vor ihrer Tür und wollte die prächtige zeremonielle Feuerwehr­uniform des Mannes abholen, die er jeweils zur Lands­gemeinde trug. Sie brauche sie jetzt ja nicht mehr und werde sowieso bald zurück nach Österreich ziehen, wo sie herkomme.

Auch Frauen wie Maria Eugster-Breitenmoser und ihre Mutter gab es gemäss den Gegnern des Frauen­stimmrechts nicht: «echte» Einheimische, die für das Frauen­stimm­recht waren – denn nur auswärtige Weiber, Frauen, die um fünf vor zwölf eine Büchse Ravioli öffneten, würden wählen wollen.

Frönti Fötzl und ägni Lüüt

Die bekannteste dieser «auswärtigen Fünf-vor-zwölfi-Frauen» ist Theresa Rohner. Eine Ausser­rhoderin, die seit fünfzehn Jahren in Appenzell wohnte und mit einem Inner­rhoder verheiratet war, als sie im Mai 1989 am Bundes­gericht eine Stimm­rechts­beschwerde gegen das Stimm­verbot im Kanton einreichte. Damit legte sie den Grundstein für das spätere Urteil. Heute lebt Theresa Rohner zurück­gezogen und will sich nicht mehr öffentlich über die Zeit äussern.

Vor Rohner gab es Ottilia Paky, die zwar eine angestammte Innerrhoderin – eine ägne – war (mit eigenem Trachten­geschäft an der Haupt­gasse noch dazu), aber mit einem Österreicher verheiratet, wodurch ihr automatisch die Bürgerinnen­rechte aberkannt wurden. Eine Demütigung, die die Geschäfts­frau politisierte. 1979 wollten die SP-Frauen Schweiz Paky und ihren Kampf fürs Frauen­stimm­recht mit einem Besuch unterstützen. Sie reisten nach Appenzell und zogen dort proklamierend durch die Gassen – die einheimischen Frauen blieben der Veranstaltung weitgehend fern.

Die Kundgebung kam nicht gut an, wie Paky selbst in einer «Club»-Sendung feststellte. Fremde Frauen, die den Appenzeller Männern sagen wollen, wo es langgeht, und dann auch noch von einer Partei – unerhört.

Dazu muss man wissen: Bis 1988 die CVP einen Ableger gründete, gab es in Inner­rhoden keine klassischen politischen Parteien. 1996 folgte die zweite Partei: die SVP. Inner­rhoden ist ein Kanton, der seit jeher von Interessen­verbänden regiert wird: den Bauern, verschiedenen Gewerblern und (marginal) den Arbeitnehmern.

Aufruhr in dieses Geflecht brachte 1969 die Gründung der Gruppe für Inner­rhoden (GFI) – eine Mischung aus Verband, Reform­partei und Bewegung, von Jungbürgern mit dem Ziel ins Leben gerufen, das Frauen­stimm­recht in Appenzell einzuführen.

Beatrice und Gerd Oberdorfer traten 1975 bei. «Wir galten als linke Hunde, und viel Macht hatten wir im Vergleich zu den andern Verbänden nicht, aber hin und wieder gelang es uns, jemanden zu portieren oder etwas durch­zubringen.» Das Frauen­stimm­recht, obwohl Gründungs­motiv, gehörte nicht dazu.

An der heute berüchtigten Landsgemeinde von 1990 hält sich die Gruppe still – um ja nicht zu provozieren. Also sprechen am Tag selber zwei Votanten gegen das Frauen­stimm­recht, kein einziger dafür – und die GFI steht vor einem Scherben­haufen. «In der Beiz machten wir uns später Vorwürfe, wer auf den Stuhl hätte steigen und reden sollen.» Auch ist man sich uneinig, wie es weiter­gehen soll. «Füsse stillhalten, ja nicht noch mehr Zwang», sagen die einen. «Jetzt geben wir erst recht Gas», sagt Gerd Oberdorfer.

Danach geht alles sehr schnell.

Ein Aktionskomitee für das Frauen­stimmrecht wird gegründet – auch Maria Eugster-Breitenmoser ist dabei. Sie erinnert sich gut, wie sie in den Sitzungen im «Rössli» jeweils die Vorhänge zuziehen mussten, weil Gaffer von der Strasse schauen wollten, wer da mit am Tisch sitzt.

In knapp sechs Wochen werden 1162 Unter­schriften für eine kantonale Initiative gesammelt, die verlangt, erneut über das Frauen­stimmrecht abzustimmen. Eine Petition an das Bundes­parlament wird aufgegleist, eine nationale Initiative angedacht.

Doch was später noch viel entscheidender sein wird: Das Aktions­komitee und die GFI schliessen sich Theresa Rohners Beschwerde vor Bundes­gericht mit zwei weiteren Sammel­beschwerden an. Eine davon ist unterzeichnet von 53 Frauen, eine von 49 Männern. Gerd und Beatrice Oberdorfer sind dabei, auch Maria-Eugster Breiten­mosers Mann unterschreibt.

«Das war keine Selbstverständlichkeit», erinnert sich Gerd Oberdorfer. «Mit nur einer Stimme Mehrheit und viel Überzeugungs­arbeit entschied eine Mitglieder­versammlung der GFI damals, sich Theresa anzuschliessen.»

Für die Beschwerden hagelt es Kritik. Auch von jenen, die das Frauen­stimm­recht eigentlich befürworten, wie die Innerrhoder Regierung.

Für Oberdorfers klingt das auch heute noch wie ein schlechter Witz. «Wäre die Regierung vehementer für das Frauen­stimm­recht eingestanden, hätten wir womöglich gar nicht bis nach Lausanne gehen müssen.»

Stimmt das? Hätte die Innerrhoder Regierung stärker Stellung nehmen können? Hätte der Land­ammann die Dringlichkeit der Lage erkennen und mehr dafür tun müssen, die Inner­rhoder vor einer historischen Peinlichkeit zu bewahren?

Die Fragen sind gerechtfertigt, denn die Abstimmung an der Lands­gemeinde von 1990 war nicht einfach eine weitere zum selben Thema: Das Bundes­gericht hatte Theresa Rohners Beschwerde nämlich im Einvernehmen mit der Beschwerdeführerin auf Eis gelegt, weil es die Lands­gemeinde vom April 1990 abwarten wollte.

Mit anderen Worten: Diese Lands­gemeinde war eine letzte Chance für Appenzell Inner­rhoden, aus eigener Kraft das Richtige zu tun.

Der Landammann

An jenem Tag ist der Andrang so gross, dass sogar auf den Dächern Zuschauer sitzen, das zeigen Aufnahmen in den Lokal­zeitungen. Medien aus aller Welt sind gekommen. Im Ring, so stellt die Regierung später fest, stehen nicht nur Appenzeller, sondern auch fremde Männer, die sich von irgend­woher einen Degen beschafft haben. Es wird gejohlt und gegrölt. Von der viel beschworenen würdigen Stimmung ist nicht viel zu spüren, als der Landammann das Resultat der Abstimmung verkündet: 6:4, Nein zum Frauen­stimmrecht.

Wer gegen das Frauenstimm­recht ist, hebe die Hand: Die Statue des Künstlers Johann Ulrich Steiger am Landsgemeinde­brunnen in Appenzell.

Innerrhoder Landammänner sind ein einmaliger Schlag Politiker. Statt einer Amtszeit­beschränkung kannte Appenzell bis 1994 das Gegenteil: einen Amtszwang, der Gewählte in gewissen Diensten bis zu zwanzig Jahre im Amt verpflichtete. Was zur Folge hatte, dass die bisherigen Land­ammänner (eine Frau hatte noch nie die Ehre) ihre Posten teilweise über eine Dauer bekleideten, wie man dies sonst nur von Diktatoren oder Monarchen kennt.

Und auch in Sachen Gewalten­trennung nahm es der Kanton bis 1995 nicht so genau: Der Landammann präsidierte nicht nur die Exekutive – die in Innerrhoden Standes­kommission heisst –, sondern auch die Legislative, den Grossen Rat. Oft sitzen die Land­ammänner auch gleich noch im Ständerat oder Nationalrat, wo sie im Verhältnis dazu, wie viele Bürgerinnen sie vertreten, die mächtigsten Parlamentarier der Schweiz sind.

1984 wird Carlo Schmid mit nur 34 Jahren ins Amt des Land­ammanns gewählt und bleibt es bis 2013. Dazu war er 27 Jahre Ständerat und Mitte der Neunziger zwei Jahre Präsident der CVP Schweiz. Sein Spitzname: «König Carlo».

Schmid hatte sich wie der gesamte Grosse Rat und der Rest der Regierung für das Frauen­stimm­recht ausgesprochen. Wie ernst es ihm mit seiner Fürsprache war, wurde mehr oder weniger offen angezweifelt. Zum Beispiel in der «Zeit», die 1989 schrieb, Schmid spreche für das Frauen­stimm­recht, «wenn man ihn ausdrücklich um seine Meinung ersucht und er sich nicht drücken kann. Allein, es will ihm niemand so recht glauben.»

Wir sprechen mit Carlo Schmid am Telefon.

Den Vorwurf, die Regierung hätte klarer auftreten müssen, um das Frauen­stimm­recht an der Lands­gemeinde durch­zubringen, weist er zurück.

«Wir haben getan, was wir konnten. Lands­gemeinden sind diffizile Veranstaltungen. Die Landleute wollen nicht am Strick, sondern am Faden geführt werden. Als Landammann muss man daher stets aufpassen, das richtige Mass in der Argumentation nicht zu verlieren, denn wenn der Landammann zu ‹aufsässig› argumentiert – ‹den Leuten auf der Seele herumkniet›, wie wir sagen – ist das kontraproduktiv.»

Warum brachte dann der Ausser­rhoder Landammann das Frauen­stimmrecht 1989 trotz sehr klarer Worte durch?

«Ich spreche nicht gerne über die Angelegenheiten anderer Kantone, nur so viel: Die Ausser­rhoder Lands­gemeinde kannte keine Diskussionen. In Inner­rhoden haben wir hingegen hitzigste Diskussionen. Da muss man als Land­ammann ein halber Herrgott sein, um nach Voten wie denen zum Frauen­stimm­recht die Stimmung wieder herumzureissen.»

Obwohl Schmid das Frauen­stimmrecht befürwortete, bezeichnete er das Bundes­gerichts­urteil, das den Inner­rhoderinnen schliesslich das Stimmrecht gewährte, «als staatsrechtliche Katastrophe». Warum?

«Das stimmt, dazu stehe ich. Dass wir das Frauen­stimm­recht nicht hatten, war für mich ein klarer politischer Fehler, aber aus unserer Perspektive nicht rechtswidrig – denn die Bundes­verfassung garantierte vorbehaltlos, dass die Kantone frei sind in der politischen Organisation ihres Staates.»

In diesem Punkt hat Schmid recht. Die Bundes­verfassung sprach den Kantonen die Souveränität in Wahl- und Stimm­angelegenheiten zu – in direktem Wider­spruch zum Gleich­stellungs­gesetz, das ebenfalls in der Verfassung verankert war. Ein politisch gewollter Dualismus.

Schmid entschied, den Föderalismus und die direkt­demokratische Meinungs­äusserung höher zu halten als die Gleich­stellung der Frauen. Und damit war er bei weitem nicht allein.

Eine gutschweizerische Angelegenheit

Der Rest der Schweiz belächelt die Appenzeller gerne als Hinter­wäldler, die ihren Frauen das Stimm­recht vorenthielten. Dazu besteht kein Anlass: Die Bundes­gesetze machten das nämlich erst möglich.

Schon 1971 hätte der Bund das Frauen­stimm­recht mit einer entsprechenden Vorlage auf allen Staats­ebenen einführen können. Mit der Annahme des Gleich­stellungs­artikels zehn Jahre später hätte die Souveränität der Kantone dem neuen Gesetz problemlos untergeordnet werden können.

Als 1983 Appenzellerinnen eine Petition in Bern einreichten, die die Souveränität der Kantone in Wahl­fragen aufheben wollte, beschlossen die Parlamentarier zwei Jahre später, diese nicht an den Bundesrat zu überweisen.

Und wer hat all die schönen Häuser gebaut am Landsgemeindeplatz? Frauen vielleicht?

Und noch etwas: Die Kantons­kasse Inner­rhodens wurde zu einem beachtlichen Teil durch Beiträge der Bundes­kasse gefüllt, es hätte also auch dort einen Hebel gegeben. Doch statt den Appenzellern Beine zu machen, zog der Bund es vor, bis 1990 keinem internationalen Abkommen beizutreten, bei dem das Frauen­stimm­recht Bedingung war.

Insofern war Inner­rhoden nur der Tümpel, in dem sich das Schweizer Demokratie­verständnis spiegelte: Föderalismus über Grund­rechten, Männer über Frauen.

Erst nach der dritten und letzten Absage der Innerrhoder Männer an das Frauen­stimmrecht kündigte der Bundesrat an, er werde jetzt wohl handeln müssen – und den Verfassungs­widerspruch mit einer Teilrevision zugunsten der Gleich­stellung aufheben. Das wäre die von Carlo Schmid und der Inner­rhoder Regierung favorisierte Lösung gewesen.

Doch das Bundesgericht hatte genug gesehen. Es hatte den Ball bereits einmal nach Appenzell Innerrhoden zurückgespielt. Jetzt fällte es einen Entscheid.

Gerd Oberdorfer erinnert sich noch gut an die Fahrt nach Lausanne am 27. November 1990. «Ich war mir sicher, dass wir gewinnen, aber die meisten glaubten nicht, dass wir eine Chance haben.»

Die Beschwerdeführer hatten tatsächlich wenig Anlass, siegessicher zu sein. Rechtsexperten prophezeiten schlechte Chancen. Schliesslich hatte das Bundesgericht auch noch nie im Sinne des Frauen­stimm­rechts entschieden.

Die Richter machten es sich denn auch nicht leicht: 31 Seiten sorgfältiger Abwägung umfasst das Urteil. Auf Theresa Rohners Beschwerde wird aus prozessualen Gründen nicht eingegangen. Auf die andern beiden Beschwerden schon. Der einstimmige Beschluss der Richterschaft: Die Inner­rhoderinnen sind ab sofort stimmberechtigt.

Gift in der Luft

Maria Eugster-Breitenmoser kommen die Tränen, als sie die Nachricht zu Hause hört, dieses Mal vor Freude. Und Erleichterung. «Gut so. Sonst hätten wir den Männern am Ende noch Danke sagen müssen, dass sie uns das Stimm­recht gegeben haben.»

Beatrice Oberdorfer, die für ihren Mann unterrichtete, damit er ans Bundes­gericht fahren konnte, jubelt, als sie das Resultat hört: «Wer weiss, wie viele Jahre wir sonst noch hätten warten müssen.»

Für Gerd Oberdorfer war das Urteil der bestmögliche Ausgang. «So hatten zwar die Appenzeller das Frauen­stimm­recht abgelehnt, aber es waren auch Appenzellerinnen und Appenzeller, die es schliesslich erstritten», sagt er – und freut sich noch heute diebisch über die 6000 Franken Entschädigung, zu denen die Regierung verknurrt wurde.

Was für viele ein Freudentag und ein Triumph des Rechts­staats war, war für andere «ein schwarzer Tag» und eine «Vergewaltigung» durch Lausanne, wie ein Inner­rhoder Bauer im «Appenzeller Volks­freund» zitiert wurde. Ein anderer: Die Lands­gemeinde könne man abschreiben. Mit dieser Haltung sind sie nicht allein.

«Die Stimmung nach dem Beschluss im November bis zur nächsten Lands­gemeinde im April war extrem giftig», sagt Gerd Oberdorfer. «Und keine bekam den Zorn der Verlierer härter zu spüren als Theresa Rohner», fügt Beatrice Oberdorfer an.

Schon lange vor dem Urteil flogen Steine durchs Schau­fenster von Rohners Töpfer­laden. Später waren die Drohungen und Beschimpfungen so schlimm, dass sie Polizei­schutz brauchte. Andere kamen glimpflicher davon.

«Im Gegensatz zu Theresa wurde ich nie angegriffen», sagt Maria Eugster-Breitenmoser. Sie stammt aus einer angesehenen Familie, die mehrere Politiker hervor­gebracht hat und die voll und ganz hinter dem Frauen­stimmrecht stand.

Einzig ihr Mann wurde einmal angegangen. Als er an einer Bezirks­gemeinde für ein Richteramt vorgeschlagen wurde, stieg er auf die Bühne – den sogenannten «Stuhl» – und sagte, er werde kein Amt annehmen, solange es kein Frauen­stimm­recht gebe. Obwohl ihm prophezeit wurde, dass damit seine Karriere im Kanton beendet sei, wurde er später doch noch Richter – die Frauen wählten mit.

Auch Oberdorfers erfuhren nicht unmittelbar Anfeindungen, dafür seien sie als Lehrer zu hoch angesehen gewesen. «Die Retourkutsche kam später», sagt Beatrice Oberdorfer. Als die Schule, die das Paar führt, 2006 aus Spar­gründen geschlossen werden soll, glauben sie, es handle sich um ein Sachgeschäft. «An der Gemeinde­versammlung waren die Voten dann aber so hasserfüllt, voller Wut und Häme … da wurde uns klar – es geht hier um uns», sagt Beatrice Oberdorfer. Das Frauen­stimm­recht sei sicher nicht der einzige Grund für die Abrechnung gewesen, sagt Gerd Oberdorfer: «Wir sind auch in anderen Belangen oft genug angeeckt.»

Die Eltern der Schüler stehen geschlossen hinter dem Paar, es reicht nicht, die Schule geht zu, Oberdorfers ziehen fort aus Innerrhoden.

«Doch damals, an der ersten Lands­gemeinde, an der die Frauen dabei waren, war erst einmal alles gut», sagt Beatrice Oberdorfer. Maria Eugster-Breitenmoser erinnert sich, dass sie sich unter­einander abgesprochen hatten, wo sie stehen würden. «Wir wussten nicht, wie es kommen würde, ob die Gegner uns behelligen würden.»

Die Gegner bleiben zu Hause. Stattdessen sind rund ein Drittel des Stimmvolks im Ring Frauen.

Zwischen Moderne, Tradition und Vergessen

Wenn man heute als Gast durch Appenzell läuft, ertappt man sich als Frau vielleicht dabei, wie man jeden Mann über fünfzig misstrauisch mustert. Adriana Hörler passiert das nie. Die 24-Jährige steht auf dem Lands­gemeinde­platz, umgeben von den aufwendig bemalten Fassaden der Restaurants, Hotels und Wohnhäuser, und grüsst, wie es sich im Dorf gehört, jeden, der vorbeigeht. Hörler ist in Inner­rhoden aufgewachsen, hat hier das Gymnasium besucht und studiert unterdessen in Bern Jus.

Vor drei Jahren machte sie Schlagzeilen, als sie an der Landsgemeinde auf den Stuhl stieg und die Regierung für ihre intransparente Informations­politik zu einer Vorlage kritisierte. Eine Besonderheit, denn noch immer gibt es klare Hierarchien, wer an der Lands­gemeinde zu sprechen hat und wer nicht. Wenn es jemand Junges tut, erst noch eine junge Frau, die dann noch die Regierung kritisiert, dann ist das eine kleine Sensation. Das Stimmvolk quittierte die Rede mit Applaus, was höchst ungewöhnlich ist. «Sicher, ich war nervös, aber ich wusste auch, dass es mir zusteht, meine Meinung zu sagen», erinnert sich Hörler.

Die junge Generation kennt das gar nicht, kein Stimmrecht: Adriana Hörler, 24, auf dem Landsgemeindeplatz.

Adriana Hörler ist sechs Jahre nach Einführung des Frauen­stimm­rechts im Kanton Appenzell geboren worden. Sie steht für eine Generation von jungen Frauen, die mit dem Selbst­verständnis aufwuchsen, dass sie zur Lands­gemeinde gehören wie die Gerichts­linde in der Mitte des Platzes.

Der Kampf um das Frauen­stimm­recht ist weit weg von ihr. Wahrscheinlich hatte sie mal etwas in der Schule, aber sie erinnert sich nicht mehr genau. «Was ich nicht verstehe – die Ausser­rhoder waren auch nur zwei Jahre vor uns. Warum geht es immer nur um die Innerrhoder?»

Weil die Ausserrhoder den Rank doch noch gekriegt haben und nicht vom Bundes­gericht gezwungen werden mussten. Sie nickt. «Stimmt schon.»

Adriana Hörler wollte mit ihrem Vater darüber sprechen, was er damals gestimmt hat. Er erinnerte sich nicht mehr.

Während Hörler auf dem Lands­gemeinde­brunnen vor der Statue des Landsgemeinde­mannes für die Fotografin posiert, läuft ein älterer Herr vorbei. Er betrachtet das Geschehen kritisch. Das Bild gefällt ihm zwar, aber: «Sie könnte ein bisschen freundlicher dreinschauen», sagt er. Was er vom Jubiläum zum Frauen­stimm­recht halte? «Sollen sie nur feiern, ist mir recht.» Und wie sei er damals dazu gestanden? Er grinst verschmitzt. Zwinkert, zuckt die Schultern und läuft winkend davon.

Die meisten Gegner von damals hätten ihre Meinung rasch geändert und wüssten heute nicht mehr, was sie sich damals dachten, sagt Maria Eugster-Breitenmoser.

Beatrice und Gerd Oberdorfer wissen es bei vielen noch ganz genau – wer damals unterschrieben hat, wenn Unter­schriften für Initiativen gesammelt wurden, und wer nicht. «Manchmal erinnern wir uns besser als die Person selbst», sagt Gerd Oberdorfer lächelnd.

Ein Danke hat es für die Appenzellerinnen, die das Stimm­recht erstritten, nie gegeben. «Das ist auch nicht nötig», sagt Maria Eugster-Breitenmoser. «Was es dagegen dringend bräuchte, ist eine saubere Aufarbeitung dieses wichtigen Teils der Inner­rhoder Geschichte.»

Doch dafür, dass es so traditions­bewusst ist, ist es verdammt gut im Vergessen, dieses Innerrhoden.

Die Frauen sind längst angekommen, auch im Bücherladen in Appenzell.

Während der Kampf ums Frauen­stimmrecht in Ausser­rhoden vielfältig dokumentiert ist, findet sich zum Pendant in Inner­rhoden kaum Literatur. Und wenn, dann in Ausser­rhoder oder Zürcher Publikationen. Auch Studien, die sich spezifisch damit befassen, sind rar – fündig wird man in einem Working Paper der HSG, einer Master­arbeit von Orlando Caduff und in der Arbeit einer Schülerin namens Vreni Mock für «Jugend forscht» aus dem Jahr 1988. Dazu gibt es einen Dokumentar­film von Edith Jud aus dem Jahr 1990, den man nur noch auf Umwegen zu sehen bekommt.

Im Landesarchiv lassen sich zwar einige Unter­lagen finden, das meiste ist aber nur physisch einsehbar oder gar mit Schutz­fristen versehen, die erst im Jahr 2039 ablaufen. Viele Dokumente befinden sich bis heute in privater Hand.

In Feierlaune scheint die öffentliche Hand ob des 30-Jahre-Jubiläums der ersten Frauen­lands­gemeinde vom April 1991 auch nicht zu sein – der Veranstaltungs­kalender ist leer, es findet sich auch nichts zum Jubiläum des Bundesgerichts­urteils vom November 1990. Der offizielle Beitrag, der sich auf der Kantons­seite dem Thema Frauen­stimm­recht widmet, beginnt mit dem Satz:

«Eine 1969 durchgeführte konsultative Befragung ergab, dass eine Mehrheit der Inner­rhoderinnen dem Frauen­stimmrecht skeptisch gegenüberstand.»

Was zum Teufel läuft hier schief?

«Ich glaube, es ist weniger Scham über den Ausgang der Abstimmung als Schmach über das Urteil des Bundes­gerichts», sagt Eugster-Breitenmoser.

«Fehler einzugestehen, ist keine Inner­rhoder Qualität», sagt Gerd Oberdorfer. «Ich fürchte, dass viele bis heute nicht verstehen, dass wir aus Liebe zu Inner­rhoden so hart gekämpft haben», sagt Beatrice Oberdorfer.

Nicht schrecklicher als anderswo

Der Grosse Rat Innerrhodens hat heute einen Frauenanteil von 22 Prozent – und schneidet damit besser ab als Nidwalden, Glarus, Graubünden, das Wallis und Schwyz. Im Nationalrat und im Ständerat sitzt je ein Mann, dafür sitzt in der sieben­köpfigen Regierung immerhin eine Frau – was eine mehr ist als in Ausser­rhoden, Graubünden, Uri, im Tessin, in Luzern und im Aargau, wo reine Männer­gremien regieren. Je nach Schätzung machen Frauen 40 bis 50 Prozent der Stimmenden im Ring aus.

Dreissig Jahre nachdem die Frauen zum ersten Mal an einer Lands­gemeinde teilnehmen konnten, steht es um die politische Gleich­stellung in Inner­rhoden also nicht viel schrecklicher als anderswo.

Und sicher: Man findet sie noch, wenn man sie sucht, jene Inner­rhoder, die das Frauen­stimm­recht weiterhin für einen Fehler halten, sich in die Zeit davor zurückwünschen.

Aber solche Männer gibt es auch an anderen Orten der Schweiz. Nur werden sie dort verdankens­werter­weise nicht um ihre Meinung gebeten.

Trotzdem wird Inner­rhoden für immer der letzte Kanton sein, in dem die Frauen das Stimm­recht erhielten. Genauso, wie er die Heimat der letzten Suffragetten der Schweiz bleibt.

Hölle und Himmel liegen nah beieinander im gotthelfschen Land.

Mit Innerrhoden haben die Oberdorfers abgeschlossen. Politisch sei sie nach wie vor interessiert, zum Beispiel beim Thema Ausländer­stimm­recht, sagt Beatrice Oberdorfer, aber ihr fehle unterdessen der Elan. Sie lasse lieber ihre Tochter politisieren. Diese ist in Bern Grossrätin. Gerd Oberdorfer würde gerne noch ein Buch schreiben – über Pädagogik, nicht das Frauen­stimmrecht.

Maria Eugster-Breitenmoser wünscht sich nebst politischer Aufarbeitung, dass sich die Frauen in Inner­rhoden wieder organisieren. Das Frauenforum löste sich 2015 auf. «Unser Auftrag war erfüllt, jetzt muss die neue Generation kommen.» Zuvorderst in der Mappe mit der Aufschrift «Frauen­stimmrecht», die sie auf den Knien hat, liegt zusammen­gefaltet ein Artikel über Adriana Hörler.

Adriana Hörler ist in Bern der GLP beigetreten, aber die gibt es in Inner­rhoden nicht. Ob sie wirklich in die Politik will, da ist sie sich auch gar nicht sicher. «Vielleicht.» Sie blickt hoch zum Lands­gemeinde­mann auf dem Brunnen, der die steinerne Hand zur Stimme hebt. «Eigentlich müsste man, oder?»

Ja, natürlich haben wir sechs Halbkantone in der Schweiz, nicht vier – wir haben korrigiert und danken der aufmerksamen Leserin.

Frauenstimmen

Folge 1

Die Rhetorik der Gegner

Folge 2

Das Ab­stim­mungs­ver­hal­ten der Frauen

Folge 3

Die grösste Minderheit der Welt

Folge 4

«Frauen werden dafür bestraft, wenn sie sprechen»

Debatte

Wie gestalten wir Debatten so, dass Frauen mitreden?

Folge 5

Drei Kämp­fe­rin­nen für das Recht

Sie lesen: Folge 6

Himmel, Hölle, Appenzell

Folge 7

#MeToo – war da was?