Aus der Arena

Kaputte Kultur

Fast 80 Mitarbeiterinnen der Tamedia berichten in einem offenen Brief von einer «männlich geprägten Betriebskultur». Sie haben recht – aber das Problem geht tiefer.

Von Olivia Kühni, 11.03.2021

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Um es gleich vorwegzunehmen und all die Nachfragen zu beantworten, die ich und viele andere ehemalige Tamedia-Journalistinnen die letzten Tage bekommen haben: Ja, was die Journalistinnen der Tamedia (heute TX Group) in einem offenen Brief an ihre Führungs­etage berichten, ist wahr. Selbstverständlich ist es das.

Nicht nur: Ich hatte dort auch einen Chef, der mir ungefragt mehr Lohn zahlte, weil ich als junge Frau schlecht verhandelte, und mich noch dazu ermutigte, künftig mehr zu verlangen. Aber ja: Diese Dinge geschehen, und es geschieht noch viel Drastischeres.

Das betrifft, um das deutlich zu sagen, nicht nur die TX Group. Nicht nur sie, sondern die meisten etablierten Medien­unternehmen haben ein tiefgreifendes Problem mit ihrer Unternehmens­kultur. Das ist eine banale Feststellung: Fragen Sie jeden, der in dieser Branche tätig ist. Fragen Sie vor allem die Frauen, die etwas nachdenklicheren Männer oder alle, die versucht haben, diese Organisationen von innen zu erneuern.

Diese Kultur ist toxisch, oft sexistisch, für viele Menschen darin soul crushing. Sie ist vor allem auch, und das ist die Ironie am Ganzen: geschäftsschädigend.

Die interessante Frage ist, woher das kommt.

Und die einfache Antwort: weil es auf Journalismus allzu oft nicht ankam. Weil es auch auf die angeblichen Kunden – die Leserinnen – nicht wirklich ankam. Und weil man es sich darum seit Jahren leistet, den wichtigsten Wert zu vernachlässigen, den Wissens­organisationen haben können: begabte, kritische, engagierte Mitarbeiterinnen.

Ein Portfolio für den Anzeigenkunden

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass das Geschäft der meisten Medien­unternehmen nie wirklich Journalismus war. Ihr Geschäft war der Anzeigen­handel. Die heutigen Medien­riesen verdienten ihr Geld viele Jahre lang damit, dass sie Unternehmen (Detail­händlern, Auto­herstellern, Parfum­produzentinnen) Werbeflächen in ihren Blättern und somit gleichzeitig Zugang zu ihren Lesern verkauften. Journalismus war also lediglich: Mittel zum Zweck.

Sein Job war es, verschiedene Publikationen (Tageszeitung, Frauen­zeitschrift, Wirtschafts­blatt) mit jeweils passenden Inhalten zu befüllen und damit die entsprechenden Leserinnen anzulocken und an sich zu binden. Für das eigentliche Kernstück des Unternehmens, den Verlag, bedeutete dies: eine breite Auswahl an Umgebungen für ihre potenzielle Werbeanzeige. Kurz: ein ausgewogenes Angebots­portfolio für seine Kunden.

Das bedeutet gleichzeitig: Sie als Leserin waren in diesem Geschäfts­modell nie wirklich die Kundin – Sie waren Teil des Angebots. Und Journalisten waren nicht die hoch qualifizierten Fachkräfte, die sie eigentlich sind – viele sind gut ausgebildet, viele intelligent, die allermeisten leidenschaftlich engagiert –, sondern lediglich Zulieferinnen für das eigentlich wichtige Geschäft.

Ich spitze zu, und nicht für jedes Haus gilt das gleich konsequent. Manche hatten und haben deutlich mehr Stil und Anspruch als andere. Im Kern aber ist das, wie die Dinge liegen.

Für jede Zielgruppe ein Heft

Falls Sie das nicht überzeugt, fragen Sie bei einem Medien­profi nach, wie und warum man in den letzten vierzig Jahren jeweils ein neues Magazin auf den Markt brachte: Am Anfang stand dabei ein mögliches Potenzial im Anzeigen­geschäft – «wir brauchen ein Heft, das bei Frauen als Zielgruppe gut ankommt», «wir brauchen eine Zeitung, die das Premium­segment abdeckt» –, dann stampfte man die entsprechende Publikation aus dem Boden und stellte Journalistinnen an. Nur selten war es umgekehrt.

Sind Sie weiterhin skeptisch, überlegen Sie sich, warum markt­wirtschaftliche und gewinn­orientierte Unternehmen ihren Leserinnen ganze Publikationen kostenlos anbieten würden – früher gedruckt auf Papier, heute online –, wenn es nicht schlicht und einfach so wäre, dass sie ihr Geld woanders verdienten.

Oder lesen Sie den jüngsten Bericht, dass Ringier und die TX Group künftig eine gemeinsam entwickelte Login-Software für eine Reihe von Medientiteln von «20 Minuten» bis «Blick» einsetzen. Die Begründung? «Die Verschärfungen im Bereich des Datenschutzes und die Abschaffung von Third-Party-Cookies durch die Browser­hersteller haben einen perspektivisch negativen Effekt auf die Werbeerlöse aller werbefinanzierten Portale.»

Übersetzt: Unser Geschäft ist der Werbeverkauf, und damit wir unsere Werbekundinnen weiterhin bedienen können, brauchen wir eine Plattform, auf der wir unsere Leser versammeln, ihr Nutzungs­verhalten beobachten und ihnen Werbung präsentieren können.

Wie gesagt: Die Leserinnen sind nicht die Kunden. Sie sind Teil des Angebots.

Die Organisation folgt dem Unternehmenszweck

Um es an dieser Stelle klar zu sagen: Der Anzeigen­verkauf ist kein anrüchiges Geschäft. Es ist kein Verbrechen, Geld zu verdienen, ganz im Gegenteil, und wenn dabei als Nebenprodukt hie und da grossartiger Journalismus oder ein glamouröses Wochen­magazin abfallen, ist dagegen auf den ersten Blick nichts einzuwenden.

Die Sache ist nur: Unternehmerische Entscheide haben kulturelle Konsequenzen. Es ist für ein Unternehmen nicht trivial, wen es als seine Kunden sieht und was genau es als sein Produkt versteht. Ganze Organisationen richten sich nach ihren Kundinnen aus, wie sich Sonnen­blumen zur Sonne drehen. Oder vielleicht eher, wie das Meer zum Mond fliesst: Wo man die Kunden vermutet, strömen Aufmerksamkeit, Geld und Zeit hin. Wer das mutmassliche Produkt versteht, bekommt Macht verliehen. Wer dem Unternehmens­zweck dient, hält Vorträge; die anderen werkeln im Schatten.

Viele etablierte Verlage sind ihrer Natur nach Inserate­händler. Kein Wunder also, geht es in manchen Redaktionen zu und her wie auf einer All-male-Vertreter­konferenz oder an einem Handels­desk von 1988. Kein Wunder, fordern die Chefs, man solle sich um jene Themen kümmern, die «Klicks generieren», wie es im offenen Brief der Journalistinnen heisst. Kein Wunder, wird hin und wieder gar getobt, gefuchtelt und geschrien – man wähnt sich schliesslich an einer Art Börse, und gehandelt werden page impressions. Das ist nicht ein Fehler im System – es ist das System.

Dazu kommt der übliche sexistische Mist, den diese Art von Kultur hervorzubringen pflegt und von dem der Brief berichtet: lahme Witzchen, Schulterklopfen, Sitzungs­monologe, ungleiche Löhne.

Das Problem ist nur: Die Medien­unternehmen von heute sind keine Handels­desks von 1988 – dafür verdienen sie längst nicht mehr genug Geld. Seit Jahren lenken Facebook, Google & Co. riesige Werbegeld­ströme von den Medien weg auf ihre Plattformen. Mit dem Anzeigen­handel lässt sich immer weniger Geld verdienen. Darum – und nicht, weil er grundsätzlich nicht mehr nachgefragt würde – steckt auch der Journalismus in der Krise. Die Möglichkeiten der Digitalisierung haben die einst symbiotische Beziehung in die Luft gesprengt.

Eigentlich birgt eine solche Disruption immer auch Chancen. Beispielsweise für den Versuch, Journalismus nicht mehr nur als wenig geschätztes Neben­produkt der Werbe­wirtschaft zu verstehen, sondern als Haupt­aufgabe – und die Leserinnen entsprechend als wichtigste, einzige Kunden. Und damit auch: die Journalistinnen nicht mehr als auswechselbare Zulieferer irgendwo im Maschinen­raum, sondern als wichtigste Ressource. Als gut ausgebildete, kritische und engagierte Wissens­arbeiter, die viele von ihnen sind.

Die Verfasserinnen des offenen Briefs scheinen genau das verstanden zu haben. Es ist bemerkenswert, dass sie nicht mit Fairness oder Gerechtigkeit argumentieren, sondern mit dem Geschäft: Ihr Unternehmen habe gemäss mission statement die Absicht, «ein jüngeres und zunehmend weibliches Publikum anzusprechen und zahlungswillige Leserinnen zu gewinnen», schreiben sie. «Wir fragen uns, wie eine derart männlich geprägte Redaktion solche Ziele erreichen will.»

Es dürfte sich lohnen, ihnen zuzuhören.

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