Frauenstimmen – Folge 5

Annegret Katzenstein, Nadja Herz, Emilie Kempin-Spyri (von links).

Kämpferinnen für das Recht

Drei Juristinnen, drei Generationen, ein Ziel: Sie wollen gleiche Rechte und Chancen für alle. Emilie Kempin-Spyri, Annegret Katzenstein und Nadja Herz fordern die Schweiz heraus – damals wie heute. Serie «Frauenstimmen», Folge 5.

Von Brigitte Hürlimann (Text) und Kristian Hammerstad (Illustration), 04.03.2021

Wir schreiben den 18. März 1853.

Emilie Spyri kommt als drittes von acht Kindern in einer reformierten Pfarrfamilie zur Welt, in Altstetten, damals noch eine Nachbar­gemeinde von Zürich, heute Stadtgebiet. Mit 22 Jahren heiratet auch sie einen Pfarrer, wird Mutter von drei Kindern, kümmert sich um den Haushalt. Das jüngste Kind ist kaum einjährig, als ihr Gatte in berufliche Schwierigkeiten gerät. Emilie Kempin-Spyri ahnt, dass sie dereinst die Familie wird ernähren müssen. Und zögert nicht lange.

Sie holt die Matura nach und schreibt sich an der rechts­wissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich ein. Eine ungewöhnliche Wahl und ein kühnes Unterfangen, das vor ihr noch keine Hiesige gewagt hat. Ausgerechnet Jurisprudenz, eine Männer­domäne und ein Fach, das den Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht zugemutet wird. Immerhin geht es um ein berufliches Umfeld mit Macht und Prestige; Attribute, die den Männern, und nur den Männern allein, zugeschrieben werden.

Emilie Kempin-Spyri, die erste Schweizer Juristin, foutiert sich um diese Konventionen – und zahlt einen hohen Preis dafür.

Wir schreiben den 20. Februar 1955.

Annegret Katzenstein kommt als drittes und jüngstes Kind der nicht begüterten, aber bildungs­freundlichen Familie Meier in Bülach zur Welt. Auch sie wird an der Universität Zürich Rechts­wissenschaft studieren, und sie ist 1974 längst nicht mehr die einzige Frau, die im Hörsaal sitzt – auch wenn die Studenten nach wie vor in der Überzahl sind. Eine Rechts­professorin hingegen gibt es auch Mitte der Siebziger noch keine einzige. «Ich habe mich für die Rechts­wissenschaft entschieden, weil es die Grundlage für viele berufliche Tätigkeiten ist», sagt Katzenstein rückblickend.

Sie ist hochschwanger, als sie die mündliche Anwalts­prüfung absolviert – und spürt die skeptischen Blicke der Examinatoren. Ausser­familiäre Kinder­betreuung, sagt die Juristin, habe es damals kaum gegeben, Teilzeit­stellen ebenso wenig.

Sie erwartet ihr drittes Kind, als sie in der Straf­verfolgung arbeitet, als Bezirks­anwältin, wie das damals hiess (heute wäre es Staats­anwältin). Schwanger nimmt sie an Einvernahmen und Zeugen­befragungen teil, besichtigt Tatorte, versucht, die unregelmässigen Arbeits­zeiten mit den Familien­pflichten in Einklang zu bringen, arbeitet bis zum letzten Tag vor der Geburt. Sie sei immer leidenschaftlich gern berufstätig gewesen und immer im Vollzeit­pensum, sagt Katzenstein. Wie war das möglich, mit drei kleinen Kindern?

Wir schreiben den 9. September 1964.

Nadja Herz kommt in Winterthur als erstes von drei Kindern zur Welt und nimmt 1984 ihr Jus-Studium an der Uni Zürich auf. Sie ist eine unter vielen Studentinnen. Aber: «In den ersten Jahren meines Studiums gab es keine einzige Professorin. Überhaupt war der Stoff unglaublich männer­dominiert, so, wie es zuvor schon im Gymnasium war. Das hat mich sehr gestört. Es fehlte an weiblichen Vorbildern. Die Helden und die Handelnden waren immer Männer. Die Frauen kamen höchstens als Opfer oder Ehefrauen vor. Bis 1988 galt ja noch das alte Eherecht, das den Mann zum Oberhaupt der Familie bestimmte und die Frau in finanziellen Angelegenheiten entmündigte. Eine Ehefrau durfte ohne die Zustimmung des Gatten weder einen Kühlschrank kaufen noch berufstätig sein. Während meines Studiums blieben in Appenzell-Innerrhoden die Frauen immer noch von kantonalen Abstimmungen und Wahlen ausgeschlossen. Wir diskutierten diese Situation in den Vorlesungen. Der Tenor war klar: Die kantonalen Kompetenzen in Wahl- und Stimmrechts­angelegenheiten seien stärker zu gewichten als die Gleichstellung.»

Nadja Herz hatte sich für ein Rechts­studium entschieden, weil sie politisch höchst interessiert war und schon als junge Frau wusste, dass sie ihren Lebens­unterhalt selber bestreiten würde: «Als Lesbe rechnete ich nicht mit einem Ehemann, der mich finanziell absichern würde.» Seit ihrem Jus-Studium und damit seit über 35 Jahren setzt sich Herz für LGBT-Rechte ein. 1987 war sie Mitgründerin der Zürcher Beratungs­stelle für Lesben. Das war zu einer Zeit, als viele die Worte «Lesbe» oder «Schwuler» kaum über die Lippen brachten.

Noch als Jus-Studentin führte sie Beratungen durch und war schockiert über die Probleme, die an sie herangetragen wurden. «Die rechtliche Situation war desolat», sagt sie. Und meint damit: Frauen­paare, die in der Schweiz nicht zusammen­leben durften, weil eine der Partnerinnen Ausländerin war. Oder lesbische Frauen, die Angst hatten, bei einer Scheidung das Sorgerecht für ihre Kinder zu verlieren. Oder gleich­geschlechtliche Paare, die im Erb-, Steuer- oder Sozial­versicherungs­recht keinerlei Rechte hatten.

Das war die Initial­zündung für ihren andauernden Kampf für LGBT-Rechte. Heute ist Nadja Herz Co-Präsidentin der Lesben­organisation Schweiz (LOS), die sie 1990 mitgegründet hatte.

Die erste Juristin darf nicht Anwältin werden

Emilie Kempin-Spyri lebt Mitte des 19. Jahr­hunderts ein Frauen­leben, das in der Schweiz als höchst ungewöhnlich und wohl auch ungehörig gilt. Als Ehefrau und Mutter von drei kleinen Kindern meistert sie das Rechts­studium und verfasst danach eine römisch-rechtliche Doktorarbeit.

Sie ist Studentin im fünften Semester, als sie ihren damals in Deutschland lebenden Ehemann in einem Zivil­prozess am Bezirks­gericht Zürich anwaltlich vertreten will. Ein Rechts­studium oder das Bestehen einer Anwalts­prüfung ist 1886 gemäss der zürcherischen Prozess­ordnung keine Voraus­setzung dafür. Wohl aber das Aktiv­bürgerrecht – also das Recht, sich in politische Ämter wählen zu lassen oder aber abzustimmen und zu wählen. Nichts davon steht den Schweizerinnen zu.

Emilie Kempin-Spyri wird vom Prozess weggewiesen.

Die Rechtsstudentin darf ihren eigenen Mann nicht vertreten – jeder rechts­unkundige Mann hingegen wäre zugelassen worden. Gegen diese Ungerechtigkeit wehrt sich Kempin-Spyri bis vor Bundes­gericht. In ihrer staats­rechtlichen Beschwerde beruft sie sich auf die Bundes­verfassung: «In der Schweiz gibt es keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien oder Personen», steht in der damals geltenden Fassung des Gleichheitsartikels.

Kempin-Spyri leitet daraus die Gleichstellung von Frau und Mann ab und argumentiert:

  • Einem Schweizer Bürger darf nicht allein deshalb das Aktiv­bürgerrecht verwehrt werden, weil er weiblichen Geschlechts ist.

  • Die Bundesverfassung unterscheidet konsequent nicht zwischen Männern und Frauen – obwohl stets nur die männliche Form verwendet wird. Die Rechte und Pflichten gelten für beide Geschlechter.

  • Was die Wehrpflicht betrifft: Gemäss Bundes­verfassung ist jeder Schweizer wehrpflichtig. Davon müssen die Frauen nicht zwingend ausgenommen werden. Sie könnten den Sanitäts­dienst organisieren, eine adäquate Leistung erbringen oder Ersatz­steuern bezahlen.

  • Die Verfassung schliesst die Frauen nicht explizit vom Aktiv­bürgerrecht aus.

Am 29. Januar 1887 entscheidet das Bundes­gericht über Kempin-Spyris Beschwerde. Das Männer­gremium weist das Anliegen der ersten Schweizer Juristin, als Anwältin tätig sein zu dürfen, in Bausch und Bogen ab. Das Bundes­gericht hält fest:

Die Rekurrentin wolle gestützt auf Artikel 4 der Bundes­verfassung die volle rechtliche Gleichstellung der Geschlechter erreichen, das sei «ebenso neu als kühn». Diese Auffassung könne nicht gebilligt werden, sie würde zu unmöglichen Konsequenzen führen. Aktiv­bürgerrecht sei mit Stimmrecht gleichzusetzen. Zwar schlössen weder die Bundes­verfassung noch die zürcherische Kantons­verfassung die Frauen ausdrücklich vom Stimmrecht aus. Mit Rücksicht auf die gesamte geschichtliche Entwicklung sei aber «ohne weiteres anzunehmen», dass unter Bürgern, die das Stimmrecht erhalten, «nur Bürger männlichen Geschlechts, nicht auch Bürgerinnen», zu verstehen seien.

Das andere Familienmodell

Fünf Jahre lang jagt Annegret Katzenstein als Bezirks­anwältin Straftäter, dann wechselt sie in den frühen 1990er-Jahren ans Gericht. Sie wird zunächst Richterin am Bezirks­gericht Zürich und wird wenige Jahre später ans Obergericht gewählt. «Ich war erst die dritte Richterin am Zürcher Obergericht», sagt Katzenstein, «und vorübergehend sogar die einzige, als meine beiden Mitrichterinnen ausschieden. Die eine altershalber, die andere wechselte ans Bundes­gericht.» Die Wahl ans oberste kantonale Gericht sei holprig verlaufen.

Einer der Gründe dafür war die Rollen­teilung in der Familie Katzenstein, die in den 1990er-Jahren als exotisch galt.

Das Ehepaar hatte sich nämlich dafür entschieden, dass sich die Frau (mit der besseren Ausbildung und dem besseren Einkommen) voll der Berufs­tätigkeit widmen soll und der Mann daheim bei den Kindern bleibt, den Haushalt führt. «Das stimmte für uns beide, doch mein Mann wurde oft gefragt, ob er noch an einer Dissertation arbeiten würde. Es schien undenkbar, dass er sich ‹nur› um Kinder und Haushalt kümmert. Bei einer Frau stellt man solche Fragen nicht. Unsere Rollen­teilung hat im Kantonsrat, der die Oberrichter wählt, für Irritationen gesorgt; übrigens auch in meiner eigenen Partei, der SP – und bei den Parlamentarie­rinnen. Eine Mutter von drei schul­pflichtigen Kindern, die im Vollpensum arbeitet und berufliche Karriere macht? Ich wurde mit einem denkbar schlechten Resultat gewählt.»

Wäre die Situation anders gewesen, hätte sich das Ehepaar Katzenstein 20 oder 30 Jahre später für diese «andere» Rollen­teilung entschieden?

Annegret Katzenstein, die letztes Jahr altershalber von ihrem Richter­posten zurückgetreten ist, zieht eine durchzogene Bilanz. Zwar seien inzwischen etwa gleich viele Frauen wie Männer am Obergericht tätig, sagt sie, doch schaue man sich die Pensen oder die Führungs­gremien an, so seien die Frauen nach wie vor in der Minderheit. Und ihr fällt auf, dass es immer noch fast ausschliesslich die Frauen sind, die ihre Pensen den Kindern zuliebe reduzieren – oder Rücksicht auf die Karriere des Mannes nehmen; unabhängig davon, wer besser ausgebildet ist.

«Bei vielen Paaren findet nicht einmal eine Diskussion darüber statt. Die Rollen­teilung steht einfach von Anfang an fest, und ja, es ist die traditionelle. Es liegt jedoch auch an den Frauen, eine andere Lösung einzufordern. Es bedeutet halt, dass man etwas abgeben, den Männern die Kinder­betreuung und das Haushalten anvertrauen muss», sagt Katzenstein. Als Richterin war es ihr wichtig, den Vätern nicht von vornherein weniger zuzutrauen als den Müttern, etwa bei Streitigkeiten ums Sorgerecht.

Kein Raum für Kinder – und eine gläserne Decke

«Wenn ich 20 Jahre später geboren wäre, mein Leben wäre wahrscheinlich anders verlaufen», sagt Rechts­anwältin Nadja Herz: «Lesbische Frauen in meiner Generation haben meist keine Kinder, das war damals noch undenkbar. Wir hatten mit so vielen Vorurteilen und rechtlichen Nachteilen zu kämpfen, dass es für Kinder keinen Raum gab. Lesbische Frauen waren in der Öffentlichkeit kaum sichtbar und stark tabuisiert; ungleich stärker als schwule Männer. Viele meiner gleichaltrigen Freundinnen haben sich voll auf den Beruf konzentriert, haben dort alles gegeben. Und doch sind sie in der Karriere stecken geblieben, an eine gläserne Decke gestossen – auch ohne familiäre Doppel­belastung. Sie mussten erleben, dass weniger kompetente Männer den Frauen vorgezogen wurden, Chef­positionen erhielten. Unabhängig davon brauchten die Lesben sehr viel Mut, sich zu outen, im privaten wie im beruflichen Umfeld.»

Was die jüngere Generation betrifft, ist Nadja Herz zuversichtlich. Sie freue sich über die vielen klugen, fähigen und selbst­bewussten Frauen, «die halb so alt sind wie ich» und die sich ganz selbst­verständlich für die Rechte der LGBT-Community einsetzten.

Als die Rechtsanwältin 1993 in einer ersten Kooperation zwischen Lesben und Schwulen Unterschriften für die Petition «Gleiche Rechte für gleich­geschlechtliche Paare» sammelte, musste sie den Leuten auf der Strasse noch von Grund auf erklären, um was es geht. Die Petition wurde mit 85’000 Unterschriften in Bundes­bern eingereicht und führte zu einem Bericht des Bundesrats über die rechtliche Situation gleich­geschlechtlicher Paare in der Schweiz. Ein Novum für die Eidgenossen­schaft. Und Grundlage für die später realisierte eingetragene Partnerschaft.

Die gesellschaftliche Haltung habe sich erst ab den Nuller­jahren spürbar geändert, sagt Herz. «Das ist eine Parallele zum Frauen­stimmrecht – die Schweiz war auch beim Thema LGBT Jahrzehnte im Rückstand.» 2002 nahm Zürich als erster Kanton ein Gesetz über die registrierte Partnerschaft an, eine rudimentäre rechtliche Absicherung für gleich­geschlechtliche Paare auf kantonaler Ebene: «Es war weltweit die erste Volks­abstimmung zu diesem Thema – ein Stimmungs­test. Und die Vorlage wurde deutlich angenommen», sagt Nadja Herz.

2005 folgte die Abstimmung über die eingetragene Partnerschaft auf Bundes­ebene, die bis heute in Kraft ist. Doch wozu dieser Sonderweg für Schwule und Lesben? Warum nicht einfach die Ehe für alle öffnen? Im Dezember letzten Jahres wäre dieser Schritt beinahe vollzogen worden. Aber eben: nur beinahe. Das Bundes­parlament hat die Vorlage angenommen, doch ein Komitee aus SVP, CVP und EDU sammelt derzeit Unterschriften für ein Referendum. Falls es den Rechts­konservativen gelingt, bis am 10. April 50’000 gültige Unterschriften einzureichen, wird das Volk über die Ehe für alle zu bestimmen haben.

Sie sei zuversichtlich, dass die Ehe für alle an der Urne angenommen werde, sagt Nadja Herz. Aber sie befürchte einen hässlichen Abstimmungs­kampf. «Es ist ermüdend und verletzend, sich seit Jahrzehnten die gleichen Vorurteile und Beleidigungen anhören zu müssen.»

Was sie nicht daran hindert, den Kampf einmal mehr aufzunehmen: «Alle sollen heiraten dürfen, das ist ein Menschenrecht.»

Flucht nach New York – und ein tragisches Ende

Emilie Kempin-Spyri darf in der Schweiz weder als Anwältin tätig sein noch an der Uni Zürich als Privat­dozentin lehren – weil sie eine Frau ist. Die promovierte Juristin wandert deshalb 1888 mit der ganzen Familie nach New York aus und setzt dort ihre Karriere erfolgreich fort: als Hochschul­dozentin und Gründerin einer privaten Rechts­schule für Frauen. Doch das Glück dauert nicht lange. Knapp zwei Jahre später kehrt ihr Ehemann zusammen mit den Kindern in die Schweiz zurück; es war ihm nicht gelungen, in der Fremde Fuss zu fassen.

Für Kempin-Spyri bedeutet der Entscheid ihres Mannes eine Zerreiss­probe. Karriere oder Familie?

Sie gibt ihre Jobs in den USA auf, kehrt zurück nach Europa, lehrt in Deutschland und in der Schweiz, setzt sich auch zunehmend für die Rechte der Frauen ein. 1892 wird sie an der Uni Zürich doch noch als Privat­dozentin für römisches Recht zugelassen. Der Versuch ihres Gatten, ebenfalls ein Rechts­studium zu absolvieren, misslingt. Das Paar trennt sich, Kempin-Spyri zieht nach Deutschland. Sie lebt und arbeitet in Berlin, als im Sommer 1897 die Nachricht eintrifft, der Kanton Zürich lasse nun auch Frauen für den Anwalts­beruf zu. Für die erste Schweizer Juristin kommt dieser Entscheid zu spät. Emilie Kempin-Spyri ist psychisch und physisch schwer krank geworden. Sie verbringt ihre letzten Lebens­jahre in Anstalten, zunächst in Berlin, danach in Basel.

Aus der damaligen Irrenanstalt Friedmatt stammt ihr berühmt gewordener Brief an einen Basler Pfarrer, der per Inserat für einen grösseren Haushalt eine Dienst­magd suchte. Sie sei für die ausgeschriebene Stelle befähigt, schreibt die promovierte Juristin, trotz ihres Studiums. Sie könne kochen, nähen, schneidern, scheue sich nicht vor Geschirr­waschen, Reinemachen oder Garten­arbeit. Sie unterzeichnet mit: Frau Dr. Emilie Kempin. Als Absender­adresse nennt sie die Klinik, wo sie eineinhalb Jahre später stirbt. Krank und entmündigt, einsam und verlassen.

Die Richterin und die Sache der Frau

Eine Richterin, sagt Annegret Katzenstein, dürfe sich nicht auf die Seite der Frau schlagen. Sie müsse die Parteien, die vor ihr stehen, unvorein­genommen anhören – alles andere wäre mit der richterlichen Unabhängigkeit nicht zu vereinbaren. Bei Straffällen gilt, dass ein Beschuldigter nur dann verurteilt werden darf, wenn ihm die Schuld hieb- und stichfest nachgewiesen wird. Gelingt dies nicht, muss er freigesprochen werden – auch wenn er von einem weiblichen Opfer der Vergewaltigung bezichtigt wird.

Die Öffentlichkeit habe Mühe mit Richterinnen, die einen mutmasslichen Sexual­straftäter freisprechen, sagt Katzenstein. «Dann steht die am Entscheid beteiligte Richterin im Fokus der Debatte, sie gilt für viele Frauen als Verräterin. Und zwar nur sie, nicht etwa ihre Mitrichter.»

In Zürich hat sich 1996 ein solcher Fall ereignet. Empört gaben sich damals nicht nur die Medien, sondern auch das kantonale Parlament. Sämtliche Kantons­rätinnen und einige Kantons­räte unterzeichneten eine Erklärung, in der sie sich über die «täter­freundliche Betrachtungs­weise» der Ober­richterin beklagten. «Nur die Richterin wurde öffentlich an den Pranger gestellt», sagt Katzenstein, «die Beteiligung von zwei Mitrichtern war kein Thema.»

Seit 1993 das Opferhilfe­gesetz in Kraft getreten ist, gilt in der Schweiz die Regelung, dass bei Sexual­delikten im Richter­gremium mindestens eine Frau vertreten sein muss. Das führte in Annegret Katzensteins Anfangs­jahren am Obergericht dazu, dass sie und später die zweite Oberrichterin auf die beiden Straf­kammern verteilt wurden – und bei jedem Sexual­straffall mit weiblichen Opfern mitzuwirken hatten.

Seltsam sei bloss, sagt Katzenstein, dass ähnliche Bestimmungen im Familien- und Scheidungs­recht nie eingeführt worden seien, «obwohl diese Verfahren die Interessen der Frauen zentral und nachhaltig prägen».

Auch Katzenstein hat Erfahrung mit öffentlicher Entrüstung gemacht – als Zivil­richterin. In einem Fall von Kinds­entführung setzte sie sich 2005 für die Umsetzung der Rückführung von zwei Kindern ein, die zurück zum Vater nach Übersee kehren sollten; gemäss einem Entscheid, den ein anderes Gericht gefällt hatte. «Die ausländischen Gerichte waren zuständig für den hängigen Sorgerechts­streit, die Mutter hatte die Kinder unberechtigt in die Schweiz gebracht. Es ging beim Rückführungs­entscheid nur um die Beachtung international anerkannter Verfahrens­rechte; darum, dass die zuständigen Gerichte ihre Arbeit fortsetzen können. Doch das ging in der Empörung unter.»

Eine Zeitung nannte sie «Richterin gnadenlos». Und nicht wenige Medien wiesen auf ihr Privat­leben hin: Eine Mutter von drei Kindern entscheidet gegen eine andere Mutter.

Wer darf heiraten?

Gleiche Rechte für alle bedeutet auch: Ehe für alle. «Das Recht auf Ehe und Familie ist gewährleistet», heisst es in Artikel 14, der zu den Grundrechten der heutigen Bundes­verfassung gehört. In ihrem Votum im Ständerat zeigte Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter vergangenen Dezember auf, um was es beim Recht auf Ehe ging, als die Bestimmung Mitte des 19. Jahr­hunderts in der Verfassung aufgenommen wurde: um ein Verbot der weit verbreiteten konfessionell und ökonomisch begründeten Ehe­hindernisse – und nicht um eine Definition der Ehe. Auf eine solche Definition, so Keller-Sutter, habe man auch bei der Verfassungs­revision von 1999 verzichtet. Vermutlich habe der historische Gesetzgeber tatsächlich nicht an gleich­geschlechtliche Paare gedacht. Aber: Die Verhältnisse hätten sich inzwischen halt geändert, der Mann sei ja auch nicht mehr das Oberhaupt der Familie.

Diese Ausführungen der Justiz­ministerin seien wichtig, sagt die Zürcher Rechts­anwältin Nadja Herz. Denn die Gegnerschaft der «Ehe für alle» behauptete, es sei eine Verfassungs­änderung nötig – was die Hürden für eine Annahme erhöhen würde, wegen des Stände­mehrs. «Das ist eine Strategie, die im Ausland wiederholt angewandt wurde, um die Gleich­stellung gleich­geschlechtlicher Paare zu verzögern. Es wird nicht gelingen. Denn andere Argumente haben die Gegner kaum. Ich kämpfe auf jeden Fall so lange weiter, bis wir alle heiraten können. Die Ehe für alle ist überfällig – so, wie 1971 auch das Frauen­stimmrecht überfällig war.»

Doch auch überfällige Rechte gibt es nur, wenn Frauen wie Emilie Kempin-Spyri, Annegret Katzenstein und Nadja Herz wieder und wieder dafür kämpfen.

Zur Quelle

Die biografischen Erzählungen über Emilie Kempin-Spyri basieren auf der Dissertation von Marianne Delfosse: «Emilie Kempin-Spyri (1853–1901)», heraus­gegeben 1994 im Schulthessverlag, Zürich.

Frauenstimmen

Folge 1

Die Rhetorik der Gegner

Folge 2

Das Ab­stim­mungs­ver­hal­ten der Frauen

Folge 3

Die grösste Minderheit der Welt

Folge 4

«Frauen werden dafür bestraft, wenn sie sprechen»

Debatte

Wie gestalten wir Debatten so, dass Frauen mitreden?

Sie lesen: Folge 5

Drei Kämp­fe­rin­nen für das Recht

Folge 6

Himmel, Hölle, Appenzell

Folge 7

#MeToo – war da was?

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