Desaster nach Drehbuch
Die aktuelle Corona-Politik erinnert an die letzte Viertelstunde eines schlecht gemachten Katastrophenfilms.
Von Daniel Binswanger, 27.02.2021
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Wir sind in der vielleicht am schwierigsten zu bewältigenden Phase der Pandemie, weit entfernt zwar vom tödlichen Höhepunkt der zweiten Ansteckungswelle, aber immer ermüdeter von Massnahmen, sozialer Isolation und wirtschaftlicher Belastung. Hin- und hergerissen zwischen der Drohung der Mutationen und der Hoffnung auf eine in ein paar Wochen schon relativ grossflächige Durchimpfung. Es kann sich schon bald alles zum definitiv viel Besseren wenden – es kann sich die epidemiologische Notlage aber auch noch quälend lange hinschleppen oder erneut massiv verschärfen.
Jetzt gälte es, clever zu sein, die Kräfte optimal einzuteilen – und keine Fehler zu machen.
Häufig wird davon gesprochen, dass wir uns auf den letzten zehn Kilometern eines Marathons befinden, die bekanntlich den Läuferinnen am meisten abverlangen. Epidemiologisch ist das richtig, so denn nicht eine Supermutante dem Impfschutz doch noch einen diabolischen Streich spielt. Politisch befinden wir uns aber leider nicht auf einer Rennstrecke, sondern in der letzten Viertelstunde eines Katastrophen-B-Movies.
Wenn das Kreuzfahrtschiff sinkt, der Vulkan explodiert, die Aliens wirklich gelandet sind, geschehen nach den unerschütterlichen Desaster-Movie-Genreregeln stets genau zwei Dinge: Der Einbruch der äusseren Gefahr bringt Verheerung und fordert Menschenleben, der eigentliche Plot aber wird mit nahendem Ende immer penetranter von inneren Konflikten dominiert. Die verzweifelt ihrer Haut sich wehrenden Protagonisten geben alles, sind aber, je länger die Prüfung andauert, desto ausschliesslicher damit beschäftigt, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.
Auch der helvetische Corona-Plot folgt diesem Muster.
Epidemiologisch sind wir bei allen Fortschritten der letzten Wochen weit davon entfernt, das Desaster hinter uns zu haben. Bei über 1000 Fällen pro Tag bleibt die Schweiz in einem Fallzahlenbereich, der weiterhin eine massive Bedrohung darstellt. Beim ersten Shutdown drückten wir die Fallzahlen unter 100, bevor wir wieder öffneten.
Nicht anders sieht es bei der Reproduktionszahl aus: Sie lag am Freitag bei 1,01 – ein Wert, der nicht nur über der kritischen Schwelle von 1, sondern auch deutlich über dem ursprünglich anvisierten von 0,8 liegt. Zudem ist die englische Mutante dabei, dominant zu werden, und ihre bisherige Ausbreitung bestätigt mit beängstigender Präzision die pessimistischen Szenarien der wissenschaftlichen Taskforce, die davor gewarnt hat, dass die Fallzahlenkurve aufgrund der höheren Infektiosität von B.1.1.7 in der zweiten Februarhälfte wieder drehen und im März erneut markant zu steigen beginnen könnte.
Punktgenau hat die Drehung nun stattgefunden. Werden die Modellrechnungen, die sich heute so perfekt bewahrheiten, in einer Woche plötzlich falsch sein? Mit absoluter Sicherheit ausschliessen lässt es sich nicht. Aber darauf setzen, so wie die Landesregierung es nun tut?
«Wir gehen ein kalkuliertes Risiko ein. Wir wollen das eingehen, wir müssen das eingehen», resümiert denn auch Gesundheitsminister Alain Berset die bundesrätliche Strategie. Und man wolle flexibel bleiben, die Strategie jederzeit wieder revidieren, falls sich die Entwicklung im März tatsächlich stark verschlechtern sollte. Die bange Frage ist nun allerdings, ob die Landesregierung zu diesen Kurskorrekturen überhaupt noch den Handlungsspielraum hat, wenn die Dinge in der ersten Märzwoche eine schlechte Wendung nehmen.
Eine erste Antwort wurde schon gegeben: Nach der Konsultation mit den Kantonen ist die Frist für die Lagebeurteilung verkürzt worden. Die Hauptansage von letzter Woche lautete noch, dass man auf gar keinen Fall die Fehler des Shutdown-Exits vom letzten Sommer wiederholen und zu schnell und zu unkontrolliert lockern wolle. Weitere Öffnungsschritte würden erst am 1. April vollzogen werden, nachdem man einen ganzen Monat zur Verfügung gehabt haben werde, um die Auswirkungen der ersten Lockerungen, die am 1. März in Kraft treten, zu evaluieren. Auf gar keinen Fall dürfe erneut im Blindflug geöffnet werden – so der Tenor von letzter Woche.
Hélas, dieser Vernunftgrundsatz ist kassiert worden, schon bevor es überhaupt losgeht. Bereits am 12. März soll nun eine neue Evaluation der Gesamtlage gemacht und dann am 19. März ein Entscheid über eine weitere Öffnungsrunde gefällt werden. Nach nur zwölf Tagen wird es nicht möglich sein zu beurteilen, wie zum Beispiel der wiedereröffnete Detailhandel auf das Infektionsgeschehen durchschlägt.
Sollte sich die Gesamtlage in der ersten Märzhälfte massiv und flächendeckend verschlechtern – ein leider sehr plausibles Szenario –, wird der Bundesrat natürlich keine weiteren Öffnungsschritte einleiten. Aber wenn die Dinge nicht so eindeutig sind? Wenn man erst einmal genau beobachten müsste, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt? Die Regierung wird dann kaum mehr die Handhabe haben, Öffnungsschritte auf gut Glück zu verhindern.
Das Grundproblem ist eigentlich fürchterlich einfach, wie Republik-Kollege Simon Schmid in einem Beitrag Anfang dieser Woche bestechend dargelegt hat: Die Eidgenossenschaft hat keine Strategie. Wir müssten so schnell und konsequent wie möglich auf ein tiefes Fallzahlenniveau runter. Es wäre fraglos das Allerbeste, für die Gesundheit und die Wirtschaft, für Alt und Jung, für Links und Rechts, für jede einzelne Bürgerin. Aber wir haben dafür weder die gesellschaftlichen noch die politischen Ressourcen. Wir inszenieren stattdessen das Schweizer Desaster-Movie. Und unter dieser Prämisse ergibt die Handlungsweise des Bundesrats bis zu einem gewissen Grad sogar Sinn.
Natürlich war es die SVP, die bei der Anbahnung des klassischen Plot-Twists – wir müssen nicht gegen ein Virus kämpfen, sondern gegen einen viel, viel bösartigeren Bundesrat – die Führung übernommen hat, mit den zur Unkenntlichkeit verwirrten «bürgerlichen Traditionsparteien» mal mehr, mal weniger im Schlepptau.
Die grotesken Diktatur-Vorwürfe, welche die Volkspartei mit gewohnter Professionalität und nach dem obligaten Start auf Blocher-TV über alle ihre Kommunikationsvektoren auszuspielen begann, sind das coronapolitische Äquivalent eines Würmer-Plakats. Sie sind nicht gemacht, um Anspruch auf Ernsthaftigkeit erheben zu können. Sie sollen Medienaufmerksamkeit monopolisieren, die Debatte vergiften, Ressentiments schüren.
Das klappte wieder einmal ganz fantastisch: Am Donnerstag durfte Thomas Aeschi in der Sendung «10 vor 10» seine Bullshit-Propaganda ausbreiten, als hiesse er Don Junior. Den Begriff Diktatur musste er dabei gar nicht mehr in den Mund nehmen, den Job übernahm der Moderator, der ihn ihm entlocken wollte.
Beim fröhlichen Drauflosbehaupten liess sich der Fraktionspräsident dann aber nicht lange bitten: Alle Indikatoren seien weit unter der Schwelle, welche der Bundesrat selber definiert habe, polterte ein empörter Thomas Aeschi. Man stelle sich einmal vor: Aus reiner Perversität quälen machtgierige «Alleinherrscher» mutwillig die Bevölkerung. Dass der Bundesrat ganz explizit Schwellenwerte nie definiert hat und dass diejenigen Richtwerte, die im Gespräch sind (zum Beispiel täglich 500 Ansteckungen), noch in weiter Ferne liegen, braucht Thomas Aeschi offensichtlich nicht zu kümmern.
Genauso wenig wie ein paar andere Fakten: dass die SVP an der Regierung selber beteiligt ist, gemeinsam mit der FDP dort die Mehrheit hat und selber alles entscheiden kann; dass die Bundesversammlung mit Notverordnungen den Bundesrat jederzeit überstimmen kann; dass das Epidemiengesetz, auf dessen Basis die Regierung agiert, vor gar nicht langer Zeit direktdemokratisch abgesegnet wurde. Fakten sind Fakten. Würmer-Plakate sind Würmer-Plakate.
Dennoch ist die Hyperpolitisierung der Pandemiemassnahmen natürlich etwas völlig anderes als ein albernes Schockmotiv auf irgendeinem Wahlplakat. Hier wird schwerer Schaden angerichtet: Erstens, weil es sofort dramatische Konsequenzen haben wird, wenn wir uns nicht zusammenraufen zur bestmöglichen Strategie. Zweitens, weil es in der aktuellen Krisensituation sehr viel einfacher ist als unter normalen Bedingungen, Verwirrung zu stiften, Ressentiments zu schüren und die demokratischen Institutionen tatsächlich zu unterminieren.
Zum Desaster-Movie gehört es schliesslich auch, dass die verschiedenen Protagonisten erst im Ausnahmezustand ihren wahren Charakter offenbaren, auch hier natürlich mit ganz stereotypen «Überraschungen». Der vermeintliche Traumschwiegersohn zum Beispiel erweist sich fast immer als heuchlerisch und feige. Statt bei der Evakuierung mitzuhelfen, stösst er am Ende seine Rivalen aus dem Rettungsboot. Der altersschwache Opa hingegen legt unvermutete Charakterstärke an den Tag und rettet zum Schluss die Truppe.
Sogar SVP-Bundesrat Ueli Maurer nimmt dieses Mal seine Amtspflichten ernst und stellt sich schützend vor die Kollegialbehörde. Derweil haben Fraktion und Leitung der SVP die letzten Hemmungen über Bord geworfen. Alle sind in ihrer Rolle. Das eidgenössische Desaster-Movie ist reif für ein Finale, das knallt.
Illustration: Alex Solman